Eröffnung der Tonhalle Maag in Zürich
Von Peter Hagmann
Schön ist er geworden, der neue Konzertsaal in Zürich, spektakulär schön. Von aussen sieht es noch schwer nach Zahnradgiessen aus, aber das ist ja gerade das Besondere an diesem einzigartigen kulturpolitischen Wurf: dass die Lokalität, die das Tonhalle-Orchester Zürich nun drei Jahre lang bespielt und selbst betreibt, nämlich an andere Veranstalter weitervermietet – dass diese Lokalität sich so grundlegend von der zurzeit in Renovation befindlichen Tonhalle am See unterscheidet. Das gilt schon für den Eingang, für die Kasse (ein zweiter Schalter befindet sich im Sitz der Credit Suisse am Paradeplatz) und für die Garderobe, erst recht aber für das Foyer, das von früheren Verwendungszwecken des Raums zeugt, aber ideenreich und witzig an die neue Funktion angepasst wurde.
Eine ganz andere, ganz eigene Anmutung strahlt jedoch der Konzertsaal aus. Ganz neu, ist er in eine bestehende Hülle hineingebaut. Das helle Fichtenholz lasse, so wurde behauptet, an eine finnische Sauna denken; nun gut, die Assoziationen sind frei. Ohne zu schwitzen – das verhindern die zahllosen kleinen, in regelmässiger Abfolge in den Boden gebohrten Öffnungen, durch die unmerklich, auch so gut wie unhörbar, Frischluft in den Saal strömt – stehe ich dazu, dass mir das Farbenspiel der lichten Wände, der etwas dunkleren Akustikpaneele in der Höhe und hinter ihnen der schwarzen Bemalung der Saaldecke angenehme Eindrücke beschert. Den Architekten Annette Spillmann und Harald Echsle ist da ein ästhetisch sehr ansprechender Entwurf gelungen.
***
Wenig zu wünschen übrig lässt die Funktionalität des Saals. Gewiss, der Zugang der Orchestermitglieder zum Podium kann zu Berührungen mit dem Publikum führen, wovon eine wohl doch eher humoristisch zu nehmende weisse Linie am Boden zeugt, die den schmalen Gang in zwei noch schmalere Hälften teilt, in eine für die Ausführenden und eine für die Zuhörenden. Und ohne Zweifel hätten Armlehnen an den bequemen, viel Beinfreiheit bietenden Sitzen dem i sein Tüpfchen beigefügt. Aber man darf doch feststellen, dass sich die Zuhörerin, der Zuhörer in dem neuen Saal sogleich zurechtfinden und sich ohne Bedenken niederlassen kann. Und die Erreichbarkeit der Tonhalle Maag, zumal mit dem öffentlichen Verkehr, ist vorbildlich, jedenfalls entschieden besser als bei der Tonhalle am See. Wie sich auch die Vielfalt des gastronomischen Angebots in der Umgebung sehen lassen kann.
Gut 1200 Plätze gibt es in dem neuen Saal, 300 weniger als im alten, mehr ging in die gegebene Kubatur nicht hinein – und das ist vielleicht auch gut so. Die Tonhalle-Gesellschaft hat jetzt die Aufgabe, den Saal mit Leben und Publikum zu füllen, was nicht einfach sein wird, aber durchaus gelingen könnte. Vier Fünftel der Abonnenten haben Treue bewiesen, und dazukommen werden nach und nach all jene, die neugierig sind und am Ende vielleicht gar hängenbleiben. Dass diese hochstehende, auch kostspielige, übrigens weitgehend privat finanzierte Übergangslösung Risiken mit sich bringt, versteht sich; ebenso sehr sollten aber die Chancen in Betracht gezogen werden. In erster Linie stellt diese Art der vorübergehenden Bleibe ein grossartiges Bekenntnis zur klassischen Musik und ihren Akteuren dar – das Tonhalle-Orchester Zürich kann sich jedenfalls weitaus glücklicher schätzen als die Klangkörper in Basel und Bern, welche die Zeit der Bauarbeiten an ihren Sälen unter weit weniger favorablen Umständen hinter sich zu bringen haben.
***
Inzwischen ist die Tonhalle Maag eröffnet, und so lässt sich nun auch über die Akustik sprechen. Erste Schwierigkeit dabei bildet der Umstand, dass die akustische Wahrnehmung etwas hochgradig Subjektives darstellt. Dazu kommt, dass sich das neue Gefüge erst einmitten muss; der Saal mit seinen noch brandneuen Materialien muss ebenso in Schwingung kommen, wie sich das Orchester und seine Dirigenten ins Raumgefühl einfinden müssen, ganz zu schweigen vom Publikum, das sich an die ganz anderen Verhältnisse in Zürich-West erst gewöhnen muss. Aussagen zur Akustik sind also mit Vorsicht zu geniessen – dennoch: Für mich klingt der durch die Akustiker von Müller-BBM München feingestimmte Konzertsaal ganz ausgezeichnet, weitaus besser jedenfalls, nämlich persönlicher als das hölzerne Provisorium, das die Internationalen Musikfestwochen Luzern im Sommer 1997, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht erstellt war, in der von Moos-Stahlhalle in Emmenbrücke betrieben haben.
Den warmen Mischklang der Tonhalle am See wird man hier allerdings nicht finden, auch kaum erzeugen können;, die Tonhalle Maag liegt näher beim heute so geschätzten Spaltklang, wie er vom KKL Luzern her bekannt ist. Das Tonhalle-Orchester Zürich klang beim Eröffnungskonzert von letzter Woche merklich heller, auch deutlich transparenter als gewohnt: Wer es kennt, kann dieselbe Erfahrung machen wie der Begleiter einer Tournee, der das gewohnte Orchester in ungewohnten Umgebungen wahrnimmt und sozusagen neu entdeckt. Wunderbar präsent waren am Eröffnungsabend die einzelnen Instrumente, etwa das glühende Englischhorn von Martin Frutiger oder die bisweilen einzigartig leise Klarinette von Michael Reid. Auf der anderen Seite entbehrte das Tutti der Kompaktheit, fehlte es zudem an Basswirkung und schien der Obertonglanz etwas gemindert. Was davon auf den Saal, was auf das Orchester und seinen Chefdirigenten Lionel Bringuier, was schliesslich auf die Ohren des Zuhörers zurückgeht, war im Augenblick nicht auszumachen.
***
Denn die musikalische Arbeit hat erst begonnen. Bis jetzt gab es ein Galakonzert und zwei weitere Abende mit Beethovens Neunter sowie übers Wochenende einen Erlebnistag nach Luzerner Art mit einer vierten und letzten Aufführung des Feststücks par excellence. Beethovens Neunte, das mag auf den ersten Blick konventionell gewirkt haben, die Wahl erinnerte indes an das erste Konzert 1895 in der damals neuen Tonhalle am See. Und wie seinerzeit mit dem «Triumphlied» von Johannes Brahms, dirigiert vom Komponisten, eine Novität dazukam, war hier der Sinfonie Beethovens das Bratschenkonzert von Brett Dean vorangestellt – ein Stück des australischen Bratschers, Dirigenten und Komponisten, der in dieser Spielzeit den «creative chair» innehat. Seiner Zürcher Position entsprechend griff Brett Dean für den ersten Teil des Abends selbst zu seinem Instrument, während er danach, wie es weiland der Cellist Yo-Yo Ma tat, als hinterster, überaus engagierter Bratscher mit von der Partie war.
Deans Violakonzert ist ein Stück, das unverkrampft mit dem Paradigmen der neuen Musik umgeht und attraktive Spannungsverläufe bietet, insgesamt aber doch etwas beliebig wirkt. Denselben Eindruck erzeugte die Auffassung, die Lionel Bringuier zu Beethovens Neunter entwickelt hat. In der stilistischen Ausrichtung nicht wirklich greifbar, kämpfte seine Interpretation mit den bekannten Problemen des Stücks, im Finalsatz zum Beispiel mit der für die Sänger anforderungsreichen Höhe und mit der dichten Folge der dynamischen Spitzen. Die Zürcher Singakademie, erstmals von Florian Helgath vorbereitet, klang merklich besser als in früheren Zeiten, blieb aber gleichwohl noch einen deutlichen Schritt entfernt von den Qualitäten der Spitzenchöre. Schön besetzt, wenn auch vom Dirigenten nicht immer in befriedigender Balance gehalten das Solistenquartett mit Christiane Karg (Sopran), Wiebke Lehmkuhl (Alt), Maximilian Schmitt (Tenor) und Tareq Nazmi (Bass).
Womit der Saal eingeweiht wäre und es losgehen kann. In drei Jahren, wenn die Tonhalle am See in frischem Glanz erstrahlt, muss es, ja wird es mit der Tonhalle Maag weitergehen – wie auch immer: das Schauspielhaus kennt ja auch seinen Schiffbau. Ein solches Juwel zurückzubauen, wie es mit der Opéra des Nations in Genf geschehen wird, wäre gewiss die am wenigsten attraktive Option.