Ohren auf

Das Sinfonieorchester Basel mit Ivor Bolton

 

Von Peter Hagmann

 

Ja, es lohnt sich zuzuhören. Denn das Sinfonieorchester Basel, das sich 2012 nach einem Vierteljahrhundert anhaltender struktureller Krisen von der Allgemeinen Musikgesellschaft Basel als seiner bisherigen Verwaltung losgelöst und sich auf die eigenen Beine gestellt hat, ist angekommen. Zunächst bei sich selber: Das Orchester hat eine klar erkennbare Identität gefunden. Dann aber auch beim Publikum: Der Aufbau eines eigenen Stamms an Abonnenten ist gelungen, die Konzerte sind gut besucht, es herrscht prickelnde Atmosphäre. Das geht auf Ivor Bolton zurück, der seit 2016 als Chefdirigent wirkt, wie auf Hans-Georg Hofmann, sein Alter Ego als künstlerischer Direktor des Orchesters. Nicht zuletzt aber auf das von Jacques Herzog und Pierre de Meuron renovierte und dabei geschickt erweiterte Stadtcasino Basel; im Sommer 2020 wiedereröffnet, bietet es einen in seiner äusseren Anmutung baslerisch zurückhaltenden, akustisch hervorragenden Konzertsaal und ein lustvoll verspieltes Foyer mit grosszügigen Nebenräumen.

So viele Faktoren hier mitspielen, am Ende zählt das künstlerische Resultat. Davon zu erfahren, bietet sich die jüngste, bei dem erfolgreichen Schweier Label Prospero erschienene CD-Produktion an. Sie gilt Camille Saint-Saëns, aber nicht seinen Sinfonien, sondern den Sinfonischen Dichtungen, mit denen sich der 1835 geborene Franzose in die Gefolgschaft um Franz Liszt und die Vision von der Programmmusik einreihte. Originelle, phantasiereiche, zum Teil wagemutige Erfindungen sind das, vorgelegt von einem Meister, der zu seinen Lebzeiten für den Blick nach vorne heftig kritisiert und später, nach einem Tod 1921, gerade im deutschsprachigen Kulturkreis als akademisch angehauchter Klassizist gescholten wurde. Da finden sich Stücke wie die berühmt gewordene «Danse macabre» oder das «Rouet d’Omphale», das wie alle vier Werke dieser Art aus Saint-Saëns’ Feder auf die griechische Mythologie zurückgreift

Im Konzertsaal erscheinen auch Stücke wie «Phaéton» oder «La Jeunesse d’Hercule» so gut wie nie, was angesichts ihrer ausgeprägten Erfindungskraft kaum zu verstehen ist. Umso mehr ist die Veröffentlichung auf CD (und natürlich auf den einschlägigen Portalen im Netz) zu begrüssen. Dass Ivor Bolton, der in der alten Musik beheimatet ist, die neue Kritische Ausgabe aus dem Hause Bärenreiter verwendet, erstaunt nicht. Überraschend aber, wie akribisch und lustvoll der Dirigent mit dem Sinfonieorchester Basel das spezifische Parfum dieser Musik herausarbeitet. Mit welcher Genauigkeit und welcher Sensibilität er die Farben aufscheinen lässt. Ganz ähnlich übrigens wie in der wunderschönen Aufnahme des Requiems von Gabriel Fauré aus dem Jahre 2020.

Bei der Aufführung der Sinfonie in d-moll von César Franck, mit der die Saison 2022/23 des Basler Sinfonieorchesters schloss, hat genau das weitgehend gefehlt. Opulent wirkte der Gesamtklang auf einem der hinteren Plätze im Saal, aber auch diffus, mit wenig klarer Zeichnung der Lineaturen. Die Sinfonie ist ja von der Orgel her gedacht, deshalb müssten zum Beispiel die Farben der Oboen und des Englischhorns im Tutti mit mehr Profil versehen sein – wie es eben auf der Orgel, adäquate Registrierung vorausgesetzt, gelingen kann, hier aber nicht erreicht wurde. So gerieten in allen drei Sätzen die wellenartigen Bewegungen, die mit ihrem immer gleichen motivischen Material schrittweise in die Höhe steigen und das Geschehen voranbringen, trotz sorgfältiger Gestaltung der Tempi gerne beiläufig. Eigenartig. Fast schmerzlich. Wo Gründe dafür liegen mögen? In Mängeln an der momentanen Form? In ungenauer Probenarbeit? In zu wenig detaillierter Analyse der Partitur? Dass es auch anders geht, erweisen die Basler Einspielungen von Werken des französischen Repertoires.

Auch nicht restlos überzeugend der erste Teil des Abends mit dem ersten Klavierkonzert, ebenfalls in d-moll, von Johannes Brahms – und das überraschte darum, weil auch hierzu eine hinreissende Aufnahme aus Basel vorliegt. Schon der Einstieg gab zu denken. Das tiefe d, aus dem ein erstes Thema heraustritt, wurde von der Pauke förmlich erschlagen. Im zweiten Takt ging die Pauke nicht aufs vorgeschriebene Mezzoforte zurück, sie verblieb vielmehr im anfänglichen Fortissimo, so dass der Einsatz der Hauptsache in den Streichern unterging. Die Perspektive auf jenen klobigen Ton, der in älteren Zeiten bei Brahms gepflegt wurde, tat sich auf – und das führte dazu, dass, so erlebt in einer der vorderen Reihen des Saals, Alexander Melnikov am Steinway immer wieder zu schwer erträglichem Dreschen anhob, zu einem Wettkampf der Lautstärken zwischen Soloinstrument und Orchester. Sobald er sich in lyrischen Gefilden bewegte, und namentlich Adagio des Mittelsatzes, vermochte Melnikov zu zeigen, zu welch herrlichem Schweben, geprägt von beweglichen Tempi, ungleichzeitigem Anschlag und Farbenspiel, er in der Lage ist. Da war er ganz der Musiker, der er ist.

Das alles liess, ebenfalls nicht ohne Bewegung, an die überaus gelungene Aufnahme von Brahms’ d-moll-Konzert denken, für die sich Melnikov zu Zeiten der Pandemie mit dem Basler Orchester und seinem Chefdirigenten zusammengetan hat. Allein, bei dieser Aufnahme hatte sich Melnikov, ein Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis im weiteren Sinn, für einen Blüthner-Flügel aus dem mittleren 19. Jahrhundert, mithin aus der Zeit der Uraufführung des Konzerts, entschieden. Er tat damit dasselbe, was András Schiff 2019 bei seiner Einspielung der beiden Klavierkonzerte von Brahms an die Hand genommen hatte. Mit seinem etwas gedämpften, von innen her leuchtenden, mehr mit dem Hammerklavier als dem Steinway verbundenen Klang erlaubt der Blüthner eine ganz andere Art des Singens, als im Basler Abend zu hören war. Und ergeben sich grundlegend anders geartete Dialoge, da die beiden Partner verschiedenen klanglichen Sphären entstammen – zumal das Sinfonieorchester Basel in herkömmlicher Besetzung antrat, während Schiff vom Soloinstrument aus das Orchestra of the Age of Enlightenment anführte.

Wie auch immer: Nächste Saison geht es weiter mit einem spannenden Programm im Zeichen von «Familienbanden». Die Gebrüder Jussen und die Geschwister Labèque treten an zwei Klavieren auf, dazu kommt das Klaviertrio der Familie Moreau, während die Pianistin Onutė Gražynitė mit ihrer Schwester Mirga Gražynitė-Tyla, die zweimal ans Basler Pult tritt, zusammenwirkt. Zweimal kommt auch Krzysztof Urbański. Und Ivor Bolton dirigiert Musik von Unsuk Chin und Louise Farrenc, aber auch Bruckners Siebte. An Spannung fehlt es nicht.

Camille Saint-Saëns: Poèmes symphoniques (Bacchanale aus «Samson et Dalila», «Phaéton», «La Jeunesse d’Hercule», «Le Rouet d’Omphale», «Danse macabre»). Aufnahmen nach der neuen Kritischen Ausgabe aus dem Bärenreiter-Verlag. Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Prospero 0060 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).

Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 in d-moll op. 15, Tragische Ouvertüre. Luigi Cherubini: Eliza ou Le Voyage aux glaciers du Mont Saint-Bernard. Alexander Melnikov (Klavier), Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Harmonia mundi 902602 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Gabriel Fauré: The Secret Fauré, Vol. III: Geistliche Werke, insbesondere die Messe de Requiem. Katja Stuber (Sopran), Benjamin Appl (Bariton), Balthasar-Neumann-Chor, Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Sony Classical (Aufnahme 2019, Produktion 2020).

Besser hören – bei Brahms

Die beiden Klavierkonzerte mit András Schiff und dem Orchestra oft the Age of Enlightenment

 

Von Peter Hagmann

 

Von Johannes Brahms ist bekannt, dass er die Art, in welcher der Dirigent Felix Weingartner seine Musik zum Klingen brachte, besonders schätzte. Der leichte, transparente Klang, den Weingartner bei Brahms pflegte, hatte es dem Komponisten angetan. Inzwischen kann man sich das kaum mehr vorstellen. Wer Karajan im Ohr hat oder Abbado, der kennt den kraftvollen, festgefügten Ton, der bei Brahms heute die Regel ist. Nur wenige Dirigenten unserer Zeit haben auf diesem Feld nach neuen Wegen gesucht, Günter Wand zum Beispiel oder, besonders folgenreich, Nikolaus Harnoncourt, in seinen späten Jahren auch Bernard Haitink. Ganz langsam hat sich das Brahms-Bild zu wandeln begonnen.

Anteil daran nimmt auch András Schiff. Nachdem der Pianist schon bei seiner wegweisenden Gesamtaufnahme der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens aus den Jahren 2004 bis 2006 zwei Flügel verwendet hatte, sowohl den gebräuchlichen Steinway als auch den leider nicht sehr verbreiteten Bösendorfer, wandte er sich zunehmend Instrumenten aus der Entstehungszeit der von ihm interpretierten Kompositionen zu – und dezidiert vom Steinway ab. Für die «Diabelli-Variationen» Beethovens oder die Klaviersonaten Franz Schuberts liess er sich gar auf Hammerflügel ein.

Nun also Brahms, und zwar die beiden Klavierkonzerte in d-Moll von 1854 und B-Dur von 1881, für deren Aufführung Schiff einen Blüthner-Flügel von zirka 1859 beigezogen hat. Und nicht nur das. Begleiten lässt er sich von Orchestra of the Age of Enlightenment, einer profilierten Formation aus dem Bereich der Originalklangszene. Dirigent braucht es da keinen; die Mitglieder des englischen Klangkörpers wirken, wie es in vielen Projektorchesters üblich ist, aus einem emanzipierten Selbstverständnis heraus. Und die Besetzung mit zehn Ersten Geigen und insgesamt fünfzig Musikern bleibt so überschaubar, dass Schiff am Flügel und die Konzertmeisterin Kati Debretzeni das Ensemble im Griff zu halten vermögen. Koordinationsprobleme treten jedenfalls in keinem Moment auf.

Das Orchestra of the Age of Enlightenment spielt auf sogenannt alten Instrumenten. Die Streicher etwa verwenden Darmsaiten, die Hornisten Instrumente ohne Ventil. Das ergibt insgesamt einen obertonreicheren, trennschärferen, klarer zeichnenden Klang als bei Orchestern in herkömmlicher Besetzung. Geringer bleibt die Lautstärke; die Instrumente des 19. Jahrhunderts waren nicht für die grossen Konzertsäle heutiger Zeit mit 2000 und mehr Sitzplätzen gedacht. Die Musikerinnen und Musiker können denn auch nach Massen aus dem Vollen schöpfen, ohne dass sich jene Wucht einstellt, die Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern und Maurizio Pollini mit seinem metallischen Fortissimo erzielt haben. Wobei zu sagen ist, dass dieses Klangbild durchaus und nach wie vor über Wirkung wie Berechtigung verfügt. Nach Rom führen viele Wege.

András Schiff freilich meidet diesen Pfad. Alles andere als ein Vertreter donnernder Kraftentfaltung, hat er auch in seiner frühen Aufnahme des d-Moll-Konzerts mit Georg Solti und den Wiener Philharmonikern die lyrischen Seiten Brahms’ betont – und so leuchtet ein, dass er für die soeben bei ECM erschienene Einspielung der beiden Brahms-Konzerte diesen sehr charakteristischen Blüthner-Flügel aus der Entstehungszeit des ersten Konzerts gewählt hat. Mit klaren Worten begründet er im Booklet diese Entscheidung. Tatsächlich verfügt das Instrument – das sich damit ideal mit der Sonorität des Orchesters verbindet – über ein ausgebautes Obertonspektrum. Zudem sind die Register des Flügels nicht konsequent einander angeglichen, sie führen vielmehr ihr je eigenes Leben, was die musikalischen Verläufe in bisweilen frappanter Weise auszeichnet.

Zu den Instrumenten treten die Spielweisen. Das Orchester spielt mit nuanciertem Vibrato. Und bisweilen erlaubt es sich ein gut hörbares Portamento, jenes Gleiten vom einen Ton zum anderen, das noch bis ins frühe 20. Jahrhundert zu den gebräuchlichen Ausdrucksmitteln gehörte, heute aber verpönt ist. Schiff selbst gibt sich diesbezüglich etwas zurückhaltender – anders als auf der wunderschönen Aufnahme der beiden Klarinettensonaten von Brahms mit Jörg Widmann, wo der Pianist in reichem Masse Ausdrucksmittel des 19. Jahrhunderts zur Geltung kommen lässt (vgl «Mittwochs um zwölf» vom 07.10.20). Dennoch: Wie Schiff in den beiden Konzerten die Klangballungen schlank bleiben lässt, wie er mit geschmeidigen Rubato die Musik zum Schwingen und Sprechen bringt, wie er das Geschehen durch sorgfältige Artikulation belebt, allein schon das sichert dieser Aufnahme ihren herausragenden Rang.

Dazu kommt, weil der Orchesterklang so enorm Masse durchhörbar bleibt, eine neuartige Beziehung zwischen Solo und Tutti – ein Freiraum, den András Schiff mit jener Wachheit und jener Phantasie nutzt, die sein Künstlertum seit je auszeichnen. Wer erfahren möchte, was sich in den beiden Klavierkonzerten von Johannes Brahms alles verbirgt, sollte zu dieser Einspielung greifen. Überraschende Hörerfahrungen sind garantiert.

Johannes Brahms: Klavierkonzerte Nr. 1 in d-Moll, op. 15 (1854), und Nr. 2 in B-Dur, op. 83 (1881). András Schiff (Klavier, Blüthner 1859, und Leitung), Orchestra of the Age of Enlightenment. ECM 4855770 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021).