Bernard Haitink und das Requiem von Brahms

 

Peter Hagmann

Wenn die Zeit zu Ende ist

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit seinem heimlichen Hauptdirigenten

 

Sonder Zahl sind die musikalischen Höhepunkte, die der Dirigent Bernard Haitink mit dem Tonhalle-Orchester Zürich geschaffen hat. Zumal seit der Jahrtausendwende, seit er einigermassen regelmässig ans Zürcher Pult tritt. Unvergesslich etwa die Reihe der Sinfonien Bruckners, die Sechste Anfang 2003, die Achte im Frühjahr 2007, die Neunte von 2010. Oder jene der Sinfonien Mahlers von der Fünften 2002 bis zur denkwürdigen Aufführung der Neunten im Mai 2014. Das waren jeweils, und durchwegs, Konzerte der Sonderklasse. Nämlich Weltklasse.

Grund dafür ist auch, dass das Tonhalle-Orchester, wenn Bernard Haitink erscheint, sogleich ein anderes wird. Das ist so, seit ich es erlebe. Vor einem Vierteljahrhundert war es so, als das Orchester in schwerer Depression darniederlag, in dem Augenblick aber, da Haitink für Mahlers Erste den Taktstock hob, sich wie ein Phoenix aus der Asche erhob. Heute gilt es erst recht. Nichts von jener klanglichen Grobheit, die nach dem Abschluss der Ära Zinman um sich griff, ist zu hören, wenn Haitink das Zepter führt – im Gegenteil: Warm klingt das Orchester, wie es seine Natur und seine Tradition ist; mächtig, aber nie schmerzhaft im Fortissimo, sensibel abgestuft bis hin zum zart schimmernden Pianissimo der Ersten Geigen. Oft ist die Rede vom Identitätsverlust der Orchester im Zeichen der Globalisierung; das mag ja sein. Dass aber jeder Dirigent von Format seinen ganz eigenen Klang erzeugt, sei das bei welchem Orchester auch immer, bei Bernard Haitink ist es offenkundig.

Schwarze Trauer, tröstliche Zuversicht

Auch der jüngste Auftritt Haitinks in Zürich, eine drei Mal gebotene Aufführung des «Deutschen Requiems» von Johannes Brahms, stand in diesem Zeichen. Haitink nutzte den Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt, zu einer ganz und gar dunklen, in den Grabes-Tiefen der Bässe ruhenden Wiedergabe. Unterstrichen wurde diese Tiefe durch die Mitwirkung des Kontrafagotts und der Orgel. Beide Instrumente hat Brahms «ad libitum» vorgesehen; sie können verwendet werden, müssen es aber nicht. Haitink setzte sie ein, und er liess damit erleben, wie sie, der Pauke vergleichbar, das Geschehen von Fall zu Fall unterstreichen – was zu ebenso hinreissenden wie sinnfälligen Wirkungen führte.

Äusserst leise und in herrlich ausgesungenem Legato erhebt sich der Anfang aus dem tiefen F heraus, und weil die Bratschen mit ihrer kernigen Mittellage zunächst die höchste Stimme bilden, wirkt der Chor bei seinem ersten Einsatz vergleichsweise hell. Es ist in dieser Aufführung die Zürcher Sing-Akademie, die in ihrer erweiterten Besetzung als grosser Bürgerchor angetreten ist. Während in Chören solcher Art die Alt- und die Tenorstimmen gerne Probleme bereiten, ist es hier gerade umgekehrt: strahlend der Tenor, leuchtend der Alt, der Sopran dagegen etwas im Schatten und nicht immer sicher, der Bass immerhin solide. An eine Professionalität, wie sie sich im Orchester von selbst versteht, ist die Sing-Akademie noch nie herangekommen, da war ihr der von Fritz Näf geleitete Schweizer Kammerchor um Welten voraus. Im Rahmen des Möglichen hat Tim Brown, der seine Aufgabe als Chorleiter jetzt unter einigen Misstönen niederlegt, hier jedoch ein Optimum erreicht.

Jedenfalls macht das ausgesprochen langsame Tempo, das Haitink im ersten Satz anschlägt, niemandem Schwierigkeiten. Es erlaubt dem Dirigenten, den Gegensatz zwischen schwarzer Trauer und tröstlicher Zuversicht, der sich hier erstmals anzeigt, das Werk aber insgesamt prägt, plastisch herauszuarbeiten. Den von zukünftigen Freuden kündenden Mittelteil nimmt er eine Spur schneller, um bei der Reprise des Anfangs mit Nachdruck in die ursprüngliche Gemessenheit zurückzufinden. Grossartig, wie sich der Kontrast zwischen Schmerz und Hoffnung dann im zweiten Satz zeigt: im Gewand eines Trauermarsches, eines heftigen «Memento mori» und eines fast trotzigen Blicks auf den Kreislauf der Natur.

Und dann: Christian Gerhaher, Bariton. Er streut Salz in die Wunden. Und das mit einem Auftritt, der aus der Sprache lebt und den Text in beinah szenisches Licht stellt. Er tut es mit seiner unglaublich prägnanten Diktion, die auf hellen Vokalen basiert, und mit der Vielfalt der Töne, die bei aller Schönheit seines Timbres auch das Aschfahle einschliesst. So macht er unmissverständlich bewusst, worum es hier geht: um Endlichkeit und Tod. Dass jedes Leben ein Ziel hat und jeder, wie es der Text fünf Mal ausspricht, «davon muss» – Gerhaher stellt diesen Satzteil mit einer Drastik heraus, dass es einem kalt wird. Er kann es, weil ihm Haitink, der zuhört wie kein Zweiter, das Feld dafür bereitet.

Grundlegend anders Camilla Tilling. Die schwedische Sopranistin gestaltet ihren kurzen Part ganz aus der vokalen Linie heraus: mit einer schlanken, trotz der heiklen Lage wunderbar leuchtenden Höhe, mit geschmeidigem Legato und konsequenter Verschmelzung der sprachlichen Formanten. In diesem Moment scheint etwas nach oben zu schweben, ein Engel vielleicht. Da ist er wieder, der Kontrast, aus dem das Werk seine Spannung gewinnt. Und für einen Augenblick scheint der Trost die Oberhand gewonnen zu haben.

Es kommt aber bald wieder heftig; die Posaune erschallt, und die Toten erheben sich aus den Gräbern. Da findet die Aufführung zu einer Intensität, wie sie sich eindringlicher kaum denken lässt. Sie hat sich schon einmal angedeutet: über dem gewaltigen Orgelpunkt am Ende des dritten Satzes, in dessen unglaublichem Zug das Orchester förmlich in Trance geraten ist. Im sechsten Satz kommt dieses Vibrierende nun zu voller Ausformung. Viel macht Bernard Haitink nicht, seine Zeichengebung skizziert bloss, es ist allein das Charisma, das hier wirkt, und vielleicht die einzigartige Identifikation des stumm gestaltenden Dirigenten mit dem Komponisten. Das Tonhalle-Orchester klingt, als spiele es stehend, und zieht den Chor mit, Christian Gerhaher blickt immer wieder fast ungläubig zum Dirigenten empor, Camilla Tilling beginnt den Kopf zu wiegen – und kann dann nicht mehr anders als ganz leis in den Chor einzustimmen. Das lässt sich nicht beschreiben, man muss es gesehen, man muss es gehört haben. Am Ende, nach dem in leiser Feierlichkeit verklingenden siebten Satz, ein unglaublicher Moment der Stille. Dann Stehapplaus und verstohlenes Augenwischen, hüben wie drüben.

Weite des Horizonts

Vielleicht gelingt ein solcher Moment nur einem ganz alten Menschen – einem, der schon etwas losgelassen hat und sich dem Glück des noch einmal geschenkten Augenblicks hingibt. Jedenfalls war es die reine Liebe, die hier sprach: die Liebe zu einer Kunst und zu den Menschen, die sie weitertragen. Stilistisch stand diese Aufführung für eine romantische Tradition, die längst entschwunden schien, ersetzt durch ein neues, von verschlanktem Ton, flüssigeren Zeitmassen und verdeutlichter Artikulation geprägtes Brahms-Bild. Die Abende in der Tonhalle Zürich liessen dieses Romantische noch einmal auferstehen: in exzellenter Ausformung, in bezwingender Authentizität und damit gültig.

Das heisst nicht, dass Bernard Haitink ein Traditionalist wäre. Seines hohen Lebensalters zum Trotz nimmt er die Bewegungen in seinem musikalischen Umfeld wahr, lässt er sich anregen und macht er sich zu eigen, was ihm gelegen kommt. Sein Beethoven-Bild etwa hat in jüngerer Vergangenheit eine beträchtliche Wandlung erlebt – angeregt durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis und durch deren Weiterungen auf den Konzertpodien. In aller Eindrücklichkeit war das beim Lucerne Festival zu erfahren, wo er die Sinfonien Beethovens mit dem Chamber Orchestra of Europe in ihrer Gesamtheit auslegt hat. Zu hören war es auch beim Tonhalle-Orchester Zürich, mit dem er eine Woche vor dem Brahms-Requiem das Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll und die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, die «Eroica», dirigiert hat. Bei beiden Werken war das Orchester klein besetzt und herrschte griffiges Musizieren – auch wenn der Solist Igor Levit im Largo des Klavierkonzerts ein sehr langsames, allerdings erfüllt langsames Tempo anschlug. Glücklich, wer diese Konzerte gehört hat.