Mehrfach gemoppelt

«Reigen» von Philippe Boesmans im Theater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Der junge Herr (Nazariy Sadivskyy) und Die junge Frau (Oriane Pons) im Berner «Reigen» / Bild Christian Kleinert, Konzert-Theater Bern

Das Stück bleibt ein Problem. Nicht jenes des Wiener Arztes und Schriftstellers Arthur Schnitzler von 1896/97 – dieser Einakter ist ein Wurf. Er traf die Sache derart, dass seine offizielle Uraufführung 1920 in Berlin einen Theaterskandal der Sonderklasse auslöste. In zehn Szenen, die in strengstem formalem Ablauf gehalten sind, werden zehn Begegnungen zwischen Mann und Frau vorgeführt, die in messerscharfen Dialogen auf das Eine zusteuern und nach dessen Vollzug in postkoitales Elend münden. Jedes der zehn Paare zeigt Egozentrik und Beziehungslosigkeit in eigener Ausprägung. Und in jeder der zehn Momentaufnahmen spiegeln sich gesellschaftliche Gegebenheiten der ausgehenden Gründerzeit. Dass «Reigen», so nennt sich das hinreissende Stück Schnitzlers, mit unseren Tagen nichts mehr zu tun habe, kann wohl nicht behauptet werden.

Nein, das Problem liegt bei der Veroperung, die der Librettist Luc Bondy und der Komponist Philippe Boesmans dem Schauspiel Schnitzlers angetan haben. Bondy, der 1993 auch die Brüsseler Uraufführung der Oper inszeniert hat, glaubte den Text zuspitzen zu müssen. Natürlich musste er kürzend eingreifen, um Raum für die Musik zu schaffen, aber er hat auch vergröbert, hat ans Licht gezerrt, was Schnitzler zwischen den Zeilen andeutet. Wenn sich der Sohn des grossbürgerlichen Hauses (in Bern war das Nazariy Sadivskyy) eines schönen Sommernachmittags am Stubenmädchen (Eleonora Vacchi) zu schaffen macht, wird er anders als bei Schnitzler von der jungen Frau explizit dazu ermuntert. Und wenn die Gattin (Oriane Pons), die in der Szene zuvor den Seitensprung geübt hat, nach erfüllter Pflicht in den Armen ihres Ehemanns (Jordan Shanahan) einschläft, murmelt sie im Libretto den Namen des Geliebten und dann jenen des Gatten – Schnitzler hat das nicht nötig. Und nicht verdient.

Kommt dazu, dass die Musik des heute 82-jährigen Belgiers Philippe Boesmans genau das tut, was Schnitzler nicht wollte. Jede der zehn Szenen ist durch einen Geschlechtsakt geteilt, der im Text Schnitzlers durch eine gestrichelte Linie angedeutet wird. Getreu der Auffassung, dass die Musik das ausspreche, was nicht gesagt werden könne, malt Boesmans jeden dieser zehn wortlosen Akte ausführlich aus, was da und dort zu mühseligen Verlängerungen führt (und eine Pause in dem eigentlich als Einakter konzipierten Stück verlangt). Und nicht zuletzt stellt es die Regisseure vor die undankbare Aufgabe, den sexuellen Moment zu zeigen – was in der Regel zu lächerlichen Verrenkungen führt. Vor allem aber weist die Musik Boesmans’ nicht eine Kraft auf, die dem Zuhörer, so er denn zuhört, die tieferen seelischen Schichten unter den sexuellen Vorgängen offenbarte. Sie gibt sich gemässigt modern, arbeitet aber echt bildungsbürgerlich mit Zitaten und Assoziationen. Geht es um die Ehe, in der alles seine Zeit habe, ertönt aus dem Orchestergraben ein gutmütiger Dreiklang in Dur.

So verdienstvoll es ist, dass das Stadttheater Bern an Boesmans’ «Reigen» erinnert, so fatal wirkt sich aus, dass die Produktion den Umgang mit der Vorlage Schnitzlers, den Bondy für sich gewählt hat, aufnimmt und weiterführt. Nicht nur doppelt, sogar mehrfach wird hier gemoppelt. Das Geschehen, das in Schnitzlers Stück mit dem analytischen Scharfblick des Arztes und dem pointierten Talent des Dichters ausgelegt wird, wird auf der Berner Bühne durch manche Unterstreichung angereichert. Das nicht enden wollende Sofa, das Kathrin Frosch erdacht hat, erinnert hübsch an die gestrichelte Linie in Schnitzlers Text wie an ein nicht ganz unumstrittenes Möbelstück, das in Intendantenbüros zu stehen pflegt.

Der Regisseur Markus Bothe dagegen hat zu dem kunstvoll sparsamen Stück Schnitzlers – es erinnert ein wenig an die Musik Anton Weberns – vielfältige szenische Beigaben entwickelt. Im vierten Bild, in dem sich ein junger Herr und eine junge Dame treffen, ist die Rede von einem Schleier, der weggezogen sein möchte – in Bern ist dieser Schleier ein Bärenkostüm. Und das süsse Mädel, dem sich der wohlbestallte Ehemann nach der Nacht mit seiner Gattin auf der Dienstreise zuwendet, ist in dieser Produktion ein stummes Kind aus der Statisterie, während Claude Eichenberger, der diese Partie anvertraut ist,  zwar die Worte des süssen Mädels singt, auf der Bühne aber als dessen Mutter und/oder Kupplerin gezeigt wird. Schwer nachvollziehbar auch, dass der schwächliche Graf (Michal Marhold) heroinsüchtig sein und die Sängerin (Evgenia Grekova) unter den Augen des Dichters (Uwe Stickert) ausführlich vergewaltigen soll. Spielereien solcher Art gehören zum Regietheater älterer Mode.

Das Berner Ensemble hat sich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen. Es glänzt als Team, das von der Summe sehr überzeugender Einzelleistungen lebt. Und in der unerhörten Flexibilität, die seine Mitglieder zeigen (unter ihnen auch Orsolya Nyakas als Dirne und Andries Cloete als Soldat), steht es, das darf noch einmal extra betont werden, für die Lebenskraft des Ensemblegedankens. Am Pult wirkt Kevin John Edusei, der das Berner Symphonieorchester zu warmem Klang animierte und herausholte, was aus der Partitur von Philippe Boesmans herauszuholen ist.

Nach Bern in die Oper

 

Untergeschoss mit Falltüren: Oriane Pons (Susanna), Claude Eichenberger (Marcellina) und Jordan Shanahan (Figaro) auf der Berner Opernbühne / Bild Konzert Theater Bern, Annette Boutellier

 

Peter Hagmann

Neues Leben in alter Hülle

Mozarts «Figaro» im frisch renovierten Stadttheater Bern

 

Schwebt da nicht noch ein leiser Hauch frischer Farbe in der Luft? Fast mag es glauben, wer neugierig das Foyer betritt. Da wäre es also wieder, das Stadttheater Bern. Alles wie gewohnt. Alles wie neu.

Der Raum als Fest

Die Kasse im hellen Vorraum gibt es schon länger, sie ist bereits nach einer früheren Bauphase in Betrieb genommen worden. Die Überraschung, die der Schritt in das Haus von 1903 auslöst, stellt sich aber auch diesmal wieder ein. Durch das Hochweiss der Bemalung und das klare Licht erhält der Raum eine ungeahnte Weite; sie steht für Offenheit und tritt der vielbeschworenen Schwellenangst, die der Ort auslösen könnte, aktiv entgegen.

Doch dann dies. Wer die paar Stufen hinter sich hat, die in den hufeisenförmigen Umgang rund um den Zuschauerraum führen, gerät ins Staunen. Das Haus von anno dazumal ist dasselbe, in seiner geradezu verwandelten Anmutung wirkt es aber ganz und gar neu. In unterschiedlich hellen Weiss- und Grautönen ist der steinerne Boden gehalten, tiefschwarz und dunkelblau schimmern die mit schwerer, heftig glänzender Ölfarbe bestrichenen Wände. Auch hier herrscht spürbare Offenheit; die Garderoben sind von den Seiten entfernt und die Mitte gerückt worden, was Platz geschaffen hat für die Zuschauer, die auf die Vorstellung warten, zudem für zwei ausgesprochen attraktive Bars links und rechts. Auch die Toilettenanlagen sind erneuert. Auf dem Gang in die oberen Ränge tritt mit einem dunklen Grün eine neue Farbe ins Spiel. Das ist alles ganz ausgezeichnet aufeinander abgestimmt, theatralisch und würdig zugleich. Zum Fest wird hier der Raum.

Endlich: der Zuschauerraum. Hier kommen an den Wänden, auf dem Boden, bei den Sitzbezügen jene Rottöne ins Spiel, die mit dem Vorhang korrespondieren. Für einen Augenblick denkt man vielleicht an die Idee Jean Nouvels, den Konzertsaal im KKL Luzern von Dunkelblau nach Weinrot zu führen – ein wagemutiger Einfall, der von Claudio Abbado derart heftig bekämpft wurde, dass ihn der Architekt zugunsten der «Salle Blanche» fallenlassen musste. Im Berner Zuschauerraum sind überdies das Deckengemälde und die Goldverzierungen aufgefrischt, sind die Lampen überholt und mit sachgerechten Glühbirnen versehen, ist vor allem aber eine neue, spezifisch für diesen Ort geschaffene Bestuhlung eingefügt worden. Bequem ist sie; keine Spur mehr von der Enge früherer Zeiten. Erkauft ist das mit einem Verlust von knapp einhundert Sitzplätzen; heute führt das Haus 650 Plätze. Die Mailänder Scala bietet drei Mal so vielen Zuschauern Platz, dafür aber lange nicht die Intimität und die Unmittelbarkeit, wie sie sich in diesem kleinen Haus einstellen.

Zu den Besonderheiten gehört, dass die Sitze Teil eines ausgeklügelten akustischen Konzepts bilden; es stammt aus dem erfahrenen Münchner Büro Müller-BBM. Mit demselben Ziel der akustischen Optimierung ist eine Vorrichtung ersonnen worden, welche die Trennung zwischen Orchestergraben und Zuschauerraum durchlässig macht. Ausserdem sind in der Höhe über dem Graben Paneele angebracht – wie sich auch hinter den feinen weinroten, durch zierliche Holzsprossen gegliederten Stoffbahnen an den Wänden Platten zur Verstärkung der Reflexion finden. Das alles scheint absolut zum Ziel geführt zu haben. Jedenfalls klang bei der ersten Vorstellung, die ich im renovierten Haus besuchen konnte, das Orchester ausgesprochen präsent, farbig und griffig. Wobei natürlich nicht zu ermessen ist, wie viel davon auf das zupackende Dirigat von Kevin John Edusei zurückgeht.

Der tolle, vorrevolutionäre Tag

Natürlich kann das Theater in einem solchen Haus nicht in einer Weise neu erfunden werden, wie es die Luzerner Salle Modulable im Blick hatte. Guckkasten bleibt Guckkasten. Aber auch unter diesen Voraussetzungen können sich schlüssige Lösungen ergeben – wenn es die Bühne erlaubt. In Bern ist die Technik hinter dem Vorhang gründlich erneuert worden. Welchen künstlerischen Sinn Investition solcher Art zeitigen können, lässt der Regisseur Markus Bothe in seiner Inszenierung von «Le Nozze di Figaro» sehen. Er siedelt die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts von 1786 auf zwei Ebenen an, einer oberen für das Geschehen im adligen Umfeld und einer unteren für das Volk. Zeigt die Bühne von Kathrin Frosch für den ersten Akt das im Erdgeschoss gelegene, niedrige Stockwerk der Bediensteten, senkt sich im zweiten Akt die ganze Bühne nach unten, um den Blick freizugeben auf die Beletage und die adligen Gemächer mit ihrer Überhöhe. Verbunden werden die beiden Ebenen durch Falltüren, Luken und Leitern. Sinnreich ist dadurch angedeutet, wie sehr sich die gesellschaftliche Ordnung zur Entstehungszeit von «Le Nozze di Figaro» schon geändert, in welchem Mass sich die Osmose zwischen den Schichten schon eingestellt hat.

Unterstrichen wird das durch die Kostüme von Justina Klimczyk. Während Figaro als Kammerdiener eines Grafen den Frack bekommt, wird die von den Adligen getragene Perücke als Teil einer schichtspezifischen Uniform bewusst gemacht. Ihrer Kammerdienerin und Vertrauten Susanna zeigt sich die Gräfin selbstverständlich in ihrem ganz privaten Kurzhaarschnitt, derweil der Graf, nachdem er im zweiten Finale endgültig als nicht sonderlich begabter, auch nicht eben heller Schürzenjäger demaskiert worden ist, ebenfalls seine Perücke ablegt. Was an vorrevolutionärer Energie in Mozarts (und da Pontes) «Figaro» steckt, wie es da brodelt unter der erheiternden Oberfläche des tollen Tags von Beaumarchais, das hebt diese Inszenierung ebenso unprätentiös wie vorbildlich ans Licht. Zugleich lässt sie die Zuschauerin, den Zuschauer inne werden, dass der Stoff seiner Verkleidung zum Trotz keineswegs von gestern ist. Wer Geld hat, egal, woher es kommt, und somit über Macht verfügt, darf sich frei fühlen, jeder Frau zwischen die Beine zu greifen – das kennen wir doch, nicht wahr?

Ausgelegt wird das alles in einer Produktion, die nicht pompös, wie es die Zürcher «Entführung» und ihr Regisseur David Herrmann tun, die Rechte des Regietheaters einfordert, sondern einfach gut liest, aufmerksam zuhört und präzis umsetzt. Nichts ist da aufgesetzt, kein Witz doppelt unterstrichen. Dafür herrschen Scharfsinn in der Ausgestaltung der Situationen und Genauigkeit in der Personenführung. Im ersten Finale trachtet der Graf danach, das von der Gräfin verschlossen gehaltene Kämmerchen, das hier ein bis oben gefüllter Schuhkasten ist, mit einer Axt aufzubrechen. Dabei stellt sich ja stets die Frage, wie der Graf, ist er des falschen Verdachts überführt und steht er reumütig vor seiner Rosina, die vermaledeite Axt wieder los wird. Das wird hier mit einem blitzschnellen Blick der Gräfin auf das störende Instrument elegant gelöst und zugleich genüsslich ausgekostet. Es darf geschmunzelt werden an diesem Abend und bisweilen herzhaft gelacht.

Auch über musikalische Scherze, denn unter der Leitung von Kevin John Edusei legt sich das Berner Symphonieorchester in vitaler Partnerschaft mit der Bühne ins Zeug. Unterstützt wird das durch die Verwendung von Naturhörnern und Naturtrompeten wie Barockpauken, was das Klangbild trefflich schärft. Und befördert wird das Buffoneske durch Sonja Lohmiller, die am Hammerklavier so einfalls- und anspielungsreich mitwirkt, dass man glaubt, sie sei bei René Jacobs im Meisterkurs gewesen. Schade ist nur, um es wieder einmal auszusprechen, dass niemand auf korrekte musikalische Diktion geachtet hat. Bei einem Wort wie «sposo», Gemahl, ist die zweite Silbe nicht lang und schon gar nicht überlang, wie es im Theateralltag gepflegt wird, sondern schwach und somit kurz.

Dessen ungeachtet glänzt der neue Berner «Figaro» mit einer hervorragenden, fast ganz aus dem Ensemble gewonnenen Besetzung. Scharf sind auch im Vokalen die Charaktere gezeichnet. Mit seinem strahlenden Timbre gibt Todd Boyce als Graf den allzeit bereiten Macho, und als Figaro steht ihm Jordan Shanahan mit seinem virilen Ton in nichts nach. Oriane Pons ist eine quirlige, aber nirgends soubrettenhafte Susanna, während Evgenia Grekova mit wunderbarem Piano und sorgsamer Ausgestaltung des Vibratos eine ganz innerliche Gräfin gibt. Auch bei den kleineren, weniger dankbaren Partien herrscht Niveau. Andries Cloete zum Beispiel macht den Auftritt von Basilio zu einem kurzen Kabinettsstück, Daniela Ruth Stoll, sichtbar musical-trainiert, singt die kurze Arie der Barbarina im zweiten Akt tief berührend, während Claude Eichenberger die Marcellina, die im Hintergrund die Fäden zieht, zu einer grossartigen Theaterfigur werden lässt. Ihr zur Seite Stephen Owen als Bartolo. Wenn man nun denkt, wie sich in der Verkleidungsszene die Gräfin, aber auch Susanna an den jungen Cherubino (Eleonora Vacchi) hermachen, und wenn man sich erinnert, mit welchem szenischen Effekt der Irrgarten für den vierten Akt hergestellt wird, kann man sich wieder bewusst machen, wie entschieden die Berner Oper voranschreitet. Nicht nur der neuen Bemalung wegen, aber durchaus mit ihr.