Rettungsversuch an Othmar Schoecks Oper «Das Schloss Dürande» in Bern
Von Peter Hagmann
Die Berliner Staatsoper war nach den Bombardementen der Alliierten eben notdürftig wieder aufgebaut, als am Ende des Abends eine weitere Detonation das Gebäude erschütterte. Zuschauer sollen geschrien, Schrecken soll sich verbreitet haben – allein, es war Theaterdonner. So geschehen am Donnerstag, den 1. April 1943, anlässlich der Berliner Uraufführung von Othmar Schoecks Oper «Das Schloss Dürande». Der Schweizer Komponist, damals 56 Jahre alt, in Deutschlands erstem Opernhaus, und das mitten im Krieg? Die unter Beizug des Winterthurer Mäzens Werner Reinhart sorgfältig herbeigeführte Konstellation hat Schoeck wenig Gutes gebracht. Zumal er mit dem ebenfalls von Reinhart geförderten Hermann Burte einen Librettisten beigezogen hatte, der seit vielen Jahren für seine völkischen Einstellungen bekannt war.
Schon die äusserst prominent besetzte Uraufführung – ein partieller Mitschnitt ist bei Cantus Classics als CD greifbar – stand trotz milder Reaktion der (gleichgeschalteten) Kritik unter keinem guten Stern; nach wenigen Aufführungen wurde die Produktion abgesetzt. Dies zuallererst der kriegerischen Umstände wegen, dann aber auch unter dem Einfluss eines ominösen Telegramms von Hermann Göring, in dem der «Reichsmarschall» das Libretto zwei Mal als «aufgelegten Bockmist» bezeichnete. Auch die Übernahme ans Opernhaus Zürich, wo kein Geringerer als der Startenor Max Lichtegg für die tragende Rolle des jungen Grafen Armand von Dürande verpflichtet war, endete im Fiasko eines ausbleibenden Publikumsinteresses. Schoecks Oper geriet in Vergessenheit, woran auch ein Wiederbelebungsversuch durch den Dirigenten Gerd Albrecht von 1993 nichts änderte. Und der Ruf des Komponisten war bis weit über seinen Tod 1957 hinaus ramponiert.
Dass über dem Werk und seinem Autor derart unerbittlich der Stab gebrochen wurde, hat allerdings auch etwas Hohles an sich. Wenn Chris Walton in seiner als Dissertation entstandenen Biographie Schoecks erregt ausruft, das Werk dürfe niemals mehr auf die Bühne kommen, spricht einer, dem die Gnade der späten Geburt zuteil wurde. Schoeck war nicht verwerflicher als Wilhelm Furtwängler oder Richard Strauss; er war ein Künstler und als solcher von einem Egoismus, der keine Skrupel kannte. Kommt dazu, dass in den nordöstlichen Teilen der Schweiz die Sympathien für das Deutsche und sein Reich damals mehr oder weniger unverhohlen gepflegt wurden – wie etwa die Aktivitäten hoher Zürcher Offiziere gegen den welschen Oberbefehlshaber der Armee erkennen lassen. Schoecks Verhalten soll durch Hinweise solcher Art nicht gerechtfertigt, die moralische Empörung Nachgeborener aber doch etwas relativiert werden.
Wie es um das Werk selbst stand, das war bis anhin schlecht abzuschätzen. Jetzt freilich haben sich der Dirigent Mario Venzago und mit ihm die von Thomas Gartmann geleitete, äusserst regsame Forschungsabteilung der Musikhochschule Bern seiner angenommen. Für den Chefdirigenten des Berner Symphonieorchesters, der sich nicht nur schon verschiedentlich erfolgreich für die Musik Schoecks eingesetzt hat, sondern auch eine sehr prononcierte Auffassung von musikalischer Interpretation vertritt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.04.18: https://www.peterhagmann.com/?p=1580), aber auch für seine musikologischen Mitstreiter kam eine Aufführung von «Schloss Dürande» tel quel nicht in Frage; als zu peinlich wurde die sprachliche Ausformung, vor allem aber die ideologische Färbung des Librettos empfunden. In Betracht gezogen wurde deshalb eine Befreiung von diesem Ballast: durch die Schaffung eines neuen Librettos zur Musik Schoecks. Abgesehen von Vorgängen der Neutextierung etwa im Barockzeitalter ein in der Musikgeschichte singulärer Vorgang.
So machten sie sich denn an die Arbeit: das von Thomas Gartmann gesteuerte Forschungsteam, das in aller Sorgfalt das Umfeld von Schoecks Oper erkundete und dazu zwei hochinteressante, ungemein informative Buchpublikationen vorlegte, der Berner Schriftsteller Francesco Micieli, der das neue Libretto verfasste, und Mario Venzago, der die monumentale Partitur Schoecks, zu der übrigens Anton Webern den Klavierauszug hergestellt hat, den neuen textlichen Gegebenheiten anpasste. Und auch im Ton etwas gedämpft haben soll – ein Eingriff in den Notentext, der für Dirigenten wie Gustav Mahler, Felix Weingartner, Hermann Scherchen oder Michael Gielen noch selbstverständlich war, der heute aber einen eigentlichen Tabubruch darstellt. Francesco Micieli wiederum ersetzte im Libretto Burtes jene Passagen, die zu ungeschickt, zu gestelzt oder zu fragwürdig formuliert waren, durch Texte und Gedichtzeilen Joseph von Eichendorffs – in seinen Ursprüngen geht das Libretto ja auf die 1835/36 entstandene Erzählung «Das Schloss Dürande» des deutschen Dichters zurück. Dabei wechselt Micieli bisweilen die Perspektive, indem er den einzelnen Figuren Sätze in der dritten Person in den Mund legt, also im Geiste Brechts distanzierende Brüche einfügt.
In dieser dergestalt entstandenen Neufassung ist «Das Schloss Dürande» von Othmar Schoeck von Konzert-Theater Bern in zwei konzertanten Aufführungen zur Diskussion gestellt worden. Ein riesiges Unterfangen, sichtbar allein schon im Aufbau über dem verdeckten Orchestergraben bis tief in die Bühne des Berner Stadttheaters hinein: Raum für die nicht weniger als zwanzig Vokalsolisten, für den (von Zsolt Czetner vorbereiteten) Chor von Konzert-Theater Bern, das Berner Symphonieorchester sowie den von seiner Mission zutiefst durchdrungenen, am Ende der Aufführung glücklich erschöpften Dirigenten Mario Venzago. Und ein zutiefst berührender Abend, weil hier eine grosse Gruppe von Menschen zusammenfand, um einem darniederliegenden Kunstwerk auf die Beine zu helfen.
Grandios, was dabei geleistet wurde: vom Chor wie dem durch den Überdruck seines Dirigenten vielleicht etwas beengten Orchester. Vor allem aber von den Solisten, von denen hier nur wenige genannt werden können. Andries Cloete zum Beispiel; er versah den alten Grafen von Dürande, der sich vor den heraufdämmernden «neuen Zeiten», welcher Art sie auch sein mögen, in den Tod zurückzieht, mit packender Ausdrücklichkeit. Ebenfalls mit einem Tenor besetzt ist die Partie des jungen Grafen, Armand von Dürande, der in Uwe Stickert einen unglaublich geschmeidigen, durchwegs verständlichen und eindringlichen Darsteller fand. Als Renald Dubois setzte Robin Adams etwas zu viel von der immer gleich lauten Kraft ein; dass es dem Jäger des Grafen ernst ist mit der Verteidigung der Ehre seiner Schwester, wurde fast zu deutlich. Die wiederum, Gabriele, erhielt in der Auslegung durch Sophie Gordeladze ein in vielgestaltiger Ambivalenz schimmerndes Profil. Eindrücklich auch der alte Diener (und Strippenzieher) Nicolas, den Jordan Shanahan mit seinem kernigen Bass zu einer einflussreichen Figur machte. Die Krone gebührt aber Ludovica Bello, die mit einer Stimmkunst und einer Präsenz sondergleichen die Gräfin Morvaille gab – die auf Schoecks Wunsch eingefügte Figur einer Adligen, die den Widerstand gegen die Aufständischen zu organisieren sucht, darin scheitert und sich daraufhin in die Einsamkeit verzieht.
So wäre da ein Rettungsversuch gelungen? Das ist die Frage. Ungeschickt gebaute, hölzern formulierte Libretti gibt es zu Hauf. Aber käme jemand auf die Idee, den Stabreimen Wagners – so er sie nicht aus ironischer Distanz heraus wahrzunehmen vermag – auf den Pelz zu rücken? Das Loblied auf die «heil’ge deutsche Kunst» aus dem «heil’gen deutschen Reich» in dessen «Meistersingern» zu eliminieren? Oder den «Trovatore» Verdis ein bisschen zu begradigen? Gewiss sind die ideologischen Implikationen bei Hermann Burte ganz anderer Natur, aber vielleicht schiessen die Bearbeiter in ihrem Eifer bisweilen doch übers Ziel hinaus – wenn auch betont werden muss, dass diese textliche Neueinrichtung als Akt der Interpretation ihr Recht hat. Einschränkungslos erfolgreich erscheint der Versuch Francesco Micielis, die Übersteuerungen Burtes zu dämpfen, indem der Bearbeiter den Fluss der direkten Rede mit beobachtenden, reflektierenden Einwürfen durchsetzt. Er wäre noch erfolgreicher gewesen, wenn in der Aufführung selbst der Text noch besser verständlich geworden wäre (oder die Übertitelungsanlage zuverlässiger funktioniert hätte).
Der Text ist das eine, die Musik (in ihrem Verhältnis dazu) das andere. In seinem letzten Bühnenwerk greift Othmar Schoeck nach den Sternen. Überlebensgross erhebt sich der Komponist in einer Musik von enormer Emphase, um nicht zu sagen: ins Letzte gesteigertem Pathos. Schoeck mag sich, nachdem ihm klar geworden ist, wie sehr er sich mit der Berliner Uraufführung kompromittiert hat, noch so sehr von Burte abgewandt haben: In der Wucht der Expression haben Komponist und Textdichter durchaus etwas gemeinsam. Das ist bei «Penthesilea» von 1927 auch so, nur herrscht dort neben der höchststehenden Sprache Kleists auch eine musikalische Diktion, die in ihrer spezifischen Eigenheit und ihrem Gegenwartsbezug unmittelbar packt. «Das Schloss Dürande» dagegen wirkt, so der Eindruck nach der Berner Aufführung, ein Alterswerk, dem es ein wenig – nicht an expressivem, wohl aber an musikalischem Aplomb fehlt. Jedenfalls klingt manches etwas angejahrt. Es ist ein wenig wie bei Franz Schreker, dessen späte Werke nie und nimmer an «Die Gezeichneten» oder den «Fernen Klang» heranreichen. Mario Venzago mag in gewisser Weise recht haben, wenn er sagt, jetzt stünden im «Schloss Dürande» Text und Musik auf gleicher Höhe. Ob Othmar Schoeck damit seine Eichendorff-Oper habe, es bleibt aber doch zu bezweifeln.
Zurück zu Eichendorff! Zur Neufassung von Othmar Schoecks belasteter historisch Oper «Schloss Dürande». Herausgegeben von Thomas Gartmann. Chronos-Verlag, Zürich 2018. 332 S.
«Als Schweizer bin ich neutral». Othmar Schoecks Oper «Das Schloss Dürande» und ihr Umfeld. Herausgegeben von Thomas Gartmann mit Simeon Thompson unter redaktioneller Mitarbeit von Daniel Allenbach. Edition Argus, Schliengen 2018. 343 S.