Musikdämmerung? Nein, Frühlings Erwachen

Die Klavierkonzerte Beethovens mit Krystian Zimerman und Simon Rattle

 

Von Peter Hagmann

 

Ist die Musik als Kunst am Ende? Wer die derzeit laufenden Debatten verfolgt, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Von Diversität ist die Rede, von Inklusion, von Immersion, von Partizipation; mehr junge Menschen mit anderer als der weissen Hautfarbe und mehr solche weiblichen Geschlechts, mehr Zugänglichkeit für die von der Kunst Ausgeschlossenen, mehr Intensität des Erlebens durch optische und räumliche Wirkungen, mehr eigenes Mitwirken, das sei der Königsweg. In Vergessenheit gerät ob dem Wedeln mit den zeitgeistigen Vokabeln die Hauptsache – die Musik als Kunst eben, die sich ja, die Pandemie und ihre Folgen jetzt einmal ausgenommen, keineswegs in einer Sackgasse befindet, vielmehr zu voller Blüte gebracht werden kann und die ganze Zukunft vor sich hat. Wer zuzuhören in der Lage und dazu bereit ist, wird es rasch feststellen. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt es dort: beim Zuhören.

So gedacht bei der Begegnung mit einer drei Compact Disc umfassenden Produktion der Deutschen Grammophon, die selbstverständlich auch auf den einschlägigen Plattformen im Netz verfügbar ist. Zum 250. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr, so nahm es sich der Pianist Krystian Zimerman vor, wolle er die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens einspielen. Und dies gemeinsam mit Simon Rattle, der zurzeit noch dem London Symphony Orchestra vorsteht und diese Formation in grossartiger Weise vorangebracht hat. So setzten sich mitten in der Pandemie die Orchestermitglieder an weit auseinanderliegenden, von transparenten Schutzwänden umgebenen Pulten, der Dirigent und der Solist in der zum Probenraum umgebauten Londoner Kirche St Luke’s vor die Mikrophone. Was sie dort, es liegt nun genau ein Jahr zurück, zustande gebracht haben, ist eine Sensation. Sie zeugt von der Vitalität der Musik Beethovens und vom ungebrochenen Potenzial, über das die Kunst der Interpretation im besten Fall verfügt.

Die Klavierkonzerte Beethovens hat Krystian Zimerman schon einmal eingespielt: 1989 mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein, nach dem Tod des Dirigenten 1990 mit dem Orchester allein. Respektabel war das, mehr nicht. Ein zweiter Anlauf mit dieser vom Pianisten über alles geliebten Musik lag darum nahe, zumal angesichts der Suche nach dem Besseren, die Zimerman mit nicht nachlassender Intensität umtreibt. Dazu kommt, dass sich die interpretatorischen Rahmenbedingungen in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben – die jüngst an dieser Stelle besprochene Aufnahme zweier Klavierkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts durch Olga Pashchenko und das Orchester Il Gardellino (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 10.11.21) mag in besonderer Weise davon zeugen. Zu Vertretern der historisch informierten Aufführungspraxis sind weder Zimerman noch Rattle geworden, doch ist nicht zu überhören, in welchem Masse Spurenelemente dieses bedeutenden ästhetischen Richtungswechsels in das Denken und das Tun der beiden Musiker eingedrungen sind. Das ist es, was dieser Aufnahme der Klavierkonzerte Beethovens, die aufs erste Anhören hin doch ganz und gar auf dem Boden des Hergebrachten zu stehen scheint, das besondere Gewürz beimischt.

Zimerman spielt auf seinem eigenen Flügel, offenkundig einem Steinway, aber Klaviertechniker, der er ebenso sehr ist, verwendet er verschiedene, unterschiedliche Tastaturen. Für das lyrische G-dur-Konzert, das vierte, setzt er auf eine Tastatur, die den Klang etwas in die Richtung eines Hammerklaviers aus der Zeit Beethovens bewegt – wer vom Finale des dritten Konzerts, c-moll, in den Kopfsatz des vierten einsteigt, bemerkt es auf Anhieb. Das sind Modifikationen der feinen Art, aber sie wirken sich aus, genau so wie es die Anleihen an den Manieren des frühen 19. Jahrhunderts tun. In dieser zweiten Aufnahme zieht Zimerman die Musik weitaus weniger durch als noch in der ersten; er nimmt sich Freiheiten in der Tempogestaltung und nützt sie dazu, Ausdruck, bisweilen gar sprechendem Ausdruck zu erzielen. Besonders deutlich wird das im Finalsatz des Es-dur-Konzerts, des fünften, wo er das Geschehen, auch dank geschärfter Artikulation, aufregend zuspitzt. Schon das eröffnende Allegro weist in diese Richtung. Die gebrochenen Akkorde stellt er mit aller Brillanz heraus, tut es zugleich aber klanglich feinfühlig – wie auch die Akzente deutlich gesetzt, durch die sofortige Zurücknahme der Lautstärke aber gleich relativiert werden. Heroisch, gar kaiserlich, ist hier nur die Widmung.

Auffällig ist hier, und zwar im langsamen Satz, das ausgeprägte Vibrato der hohen Streicher. Es klingt so besonders, als wären die Wiener Philharmoniker am Werk – nur wird es vom London Symphony Orchestra nicht durchgehend, sondern explizit zu expressiven Zwecken eingesetzt. Denn vorherrschend bleibt bei Simon Rattle das Non-vibrato, auch das die Übernahme einer Praxis aus der Zeit Beethovens. Was für überirdisch schöne Momente die sogenannten geraden Töne hervorbringen, lässt das G-dur-Konzert hören; der Abschluss des zweiten Satzes sucht seinesgleichen, und die solistischen Einwürfe des Cellos im Finalsatz finden ganz besondere Eindringlichkeit. Überhaupt ist das von Rattle ebenso phantasievoll wie sorgsam angeführte Orchester mit letzter Präsenz bei der Sache; nicht nur schmiegt es sich, wie Zimerman im Booklet formuliert, wie ein Handschuh an den Solisten an, es trägt auch dessen leichten, unpathetischen, spielfreudigen Ton aktiv mit.

Vorgegeben wird dieser lustvolle Zugang durch das erste Konzert, jenes in C-dur, das eigentlich das zweite ist. Für sich selbst als Solisten geschrieben, wartet Beethoven hier mit manch überraschendem Effekt auf – mit geistreichen Einfällen, denen Zimerman nichts schuldig bleibt. Flüssig geht er das Allegro con brio des Kopfsatzes an; die aufschiessenden Läufe bringt er zum Blitzen, und stürzt dann einer herunter, so gerät das zu einem Elementarereignis. Erstaunlich nicht zuletzt das Konzert in c-moll, das dritte der Reihe. Feierlich kommt es im daher, aber in subtil modelliertem Klang – wie wenn der Konzertflügel ein Fortepiano wäre. Die Oktaven singen, das Staccato springt geschmeidig, die Gewichte innerhalb der Takte sind bewusst gestaltet. Und der Mittelsatz in der entlegenen Tonart E-dur entfaltet sich ausgesprochen poetisch.

Nichts ist in dieser Auslegung der Klavierkonzerte Beethovens auf spektakulären Effekt ausgerichtet, zu entdecken gibt es aber mehr als genug. Aller Tage Abend ist für die Musik als Kunst also noch lange nicht.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1 bis 5. Krystian Zimerman, London Symphony Orchestra, Simon Rattle (Leitung). Deutsche Grammophon 4839971 (3 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Der neue Beethoven – mit Kristian Bezuidenhout und Pablo Heras-Casado

Von Peter Hagmann

 

Wie modern Beethoven klingen kann, oder anders herum: Wie Beethoven klingen muss, um modern zu wirken – das lässt sich nicht bei Pultheroen wie Daniel Barenboim, Andris Nelsons oder Christian Thielemann und nicht bei Starorchestern wie den Wiener Philharmonikern erfahren. Da wendet man sich besser an die junge Szene der alten Musik, an das Freiburger Barockorchester zum Beispiel und den eng mit ihm verbundenen Dirigenten Pablo Heras-Casado. Zusammen mit dem aus Südafrika stammenden Pianisten Kristian Bezuidenhout haben Heras-Casado und die Freiburger an zehn Tagen im Dezember 2017 die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens aufgenommen. Nachdem die Nummern zwei und fünf vor einiger Zeit schon erschienen sind, ist jetzt bei Harmonia mundi, dem lebendigen Label aus Frankreich, das vierte Konzert, jenes in G-dur, herausgekommen. Auf CD oder im Streaming zu greifen ist eine aufsehenerregende Neubeleuchtung.

Bezuidenhout spielt ein Fortepiano von Conrad Graf aus dem Jahre 1824, allerdings nicht ein Original, sondern eine Kopie, die 1989 von dem Amerikaner Rodney Regier erbaut und von Edwin Beunk 2002 überholt worden ist. Ein herrliches Instrument, klangvoll, füllig ohne jede Härte; so fein es zeichnet, so opulent singt es. Und Bezuidenhout weiss das Potential zu nutzen. Brillantes Perlen in klar zeichnendem Non-Legato steht neben sinnlicher Kantabilität, und da die Töne bei Klavieren solcher Art nicht so lange klingen wie bei einem Steinway, können die Pedalanweisungen des Komponisten kompromisslos umgesetzt werden – mit entsprechendem Gewinn. Dazu kommt die ganz selbstverständliche Erfahrung des Solisten in den Spielweisen und der Interpretationskunst des frühen 19. Jahrhunderts. Steht in der Partitur ein Sforzato, führt das bei Bezuidenhout nicht unbedingt zu einem dynamischen Akzent, sondern ebenso oft zu einem Arpeggio oder zu einem Rubato. Überhaupt werden die Tempi vielfach nuanciert und damit in den Dienst des Ausdrucks gestellt. In seiner Vielschichtigkeit und zugleich seiner Schlichtheit verleiht das alles dem Solopart eine unerhörte, beglückende Vitalität.

Begleitet wird der Solist von einem Orchester, das agil und prononciert an der Ausgestaltung des musikalischen Geschehens teilhat. Mit Heras-Casado erzielt das Freiburger Barockorchester einen ganz eigenen, aufregenden Beethoven-Ton. Es fehlt ihm nicht an Wucht, aber es ist nicht der in Stein gehauene Heroismus früherer Zeiten, sondern eine elegante, federnde – eine musikalische Wucht. Viel wichtiger als Druck und Kraft sind hier die farblichen Abmischungen, die Akzentsetzungen in der klanglichen Balance, die Beweglichkeit in Phrasierung und Artikulation.  Das deutet sich schon in den beiden zum Klavierkonzert gestellten Ouvertüren an, in jener zu den «Geschöpfen des Prometheus», erst recht aber jener zu «Coriolan». Im Klavierkonzert dann glänzt das Orchester mit einer unerhört reichen Palette an Ausdrucksmöglichkeiten.

Sehr zart aus einem geschmeidigen Arpeggio des Klaviers heraus hebt der Kopfsatz an. Den ersten Phrasen des Soloinstruments antwortet das Orchester mit geschlossenem, geradezu kernigem Ton. Auch schlägt es ein etwas flüssigeres Tempo an, was nicht ein unkontrolliertes, vielleicht gar auf Rivalität basierendes Nebeneinander erzeugt, sondern vielmehr anzeigt, dass der Solist mit seiner Neigung zur Introspektion und das sozusagen als Öffentlichkeit agierende Orchester zwei Welten ausprägen, die später dann, im kurzen Mittelsatz, unverbunden nebeneinander stehen werden. Das Konzert erhält in dieser Anlage des Kopfsatzes nicht das liebliche Profil, mit dem es gerne versehen wird, es zeigt schon hier seine dramatischen Zähne. Vollends zutage treten sie im Andante con moto, das vom Orchester trocken und schroff angelegt, vom Solisten aber in berührende Sanglichkeit gekleidet wird – die alten Instrumente erlauben solch ausdrückliches Vorgehen fern jeden Kitschverdachts. Im abschliessenden Rondo finden die beiden Kontrahenten dann freilich zu fröhlicher Ausgelassenheit zusammen.

Sehr ausdrucksstark ist das, und anregend zudem – eine Interpretation in des Wortes bestem Sinn.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4, G-dur, op. 58; Coriolan, Ouvertüre; Die Geschöpfe des Prometheus, Ouvertüre. Kristian Bezuidenhout (Fortepiano, Kopie eines Instruments von Conrad Graf von 1824), Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi 902413 (CD, Aufnahme 2017, Publikation 2020).

Kristian Bezuidenhout tritt am Freitag, 18. September 2020, um 19.30 Uhr beim Festival Alte Musik Zürich auf. In der Kirche St. Peter spielt er auf einem Hammerflügel vier Klaviersonaten Beethovens.