Von Peter Hagmann
Sehr besonders hatte es begonnen – mit einem grandiosen Auftritt von Igor Levit (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 21.11.18) Und mit Piotr Anderszewski ging das Lucerne Piano Festival nach einer Woche im Zeichen der schwarz-weissen Tastatur äusserst eindrucksvoll zu Ende. Dazwischen gab es Momente der Sonderklasse mit etablierten Grössen wie András Schiff oder Grigori Sokolow, gab es mittägliche Debütkonzerte und ein Stelldichein hochkarätiger Barpianisten. Gab es aber auch – und vor allem – Begegnungen der eher ungewöhnlichen Art.
Zum Beispiel die mit Cameron Carpenter, dem amerikanischen Popstar unter den Organisten. Das ging absolut durch, denn die Orgel wird ebenfalls auf Tasten gespielt, allerdings nicht nur mit den Händen und in der Regel nicht nur auf einer einzigen Tastatur, sondern auch mit den Füssen – und genau das wurde zum Highlight des Abends. Geschniegelt, wie er es liebt, wenn auch ohne den gewohnten Haarschmuck, betritt Carpenter das Podium. Und das mit Orgel-Schuhen eigenen Zuschnitts: vorne spitz zulaufend, hinten mit einem deutlichen Absatz versehen – als ob er sich barocker Tanzkunst hingeben wollte. Tanzkunst ist tatsächlich, was Carpenter mit seinen Füssen auf dem Orgelpedal veranstaltet. Rasende Läufe legt er dort hin, wenn es sein muss, auch in Oktavparallelen; blendende Folgen von Trillern und Melodiezüge gelingen ihm, ohne das er auch nur einen einzigen Ton verfehlte. Das Handspiel lässt übrigens auch nicht zu wünschen übrig.
Aber das Instrument, das er bedient – mein Gott, welcher Graus. Eine Orgel lässt sich seine selbst entworfene «International Touring Organ» nicht nennen. Das fünfmanualige Ungetüm mit gewiss einer Hundertschaft an Registern und allen technischen Vorrichtungen, die moderne Elektronik zur Verfügung stellt, versammelt aufgezeichnete und digitalisierte Klänge von Pfeifenorgeln unterschiedlichster Provenienz: die Orgeln der Welt in einem vergrösserten Taschenformat. Dagegen wäre noch nichts einzuwenden, gibt es doch Instrumente solcher Bauart, die erstaunliche Klänge zu erzeugen in der Lage sind. Was Carpenter seinem Synthesizer von Marshall & Ogletree und der monumentalen, effektvoll ausgeleuchteten Batterie an Lautsprechern entlockt, ist klanglich jedoch von einer Grobheit sondergleichen: laut wie eine Baumaschine, von schriller Schärfe, blechern und blöckend – wenn er mit einem der vier Schweller-Pedale Gas gibt und ein 32-Fuss-Register aufbrüllt, fahren die Hände schützend an die Ohren. Dazu kommt, dass Carpenter, als wollte er die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des Instruments vorführen, absonderliche, bisweilen geradezu absurde Registrierungen wählt, die der von ihm traktierten Musik fratzenhafte Gesichtszüge verleihen. Die Musik, übrigens, waren die «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs.
Man darf dazu stehen, wie man will: Dass das Lucerne Piano Festival Carpenter nun ein zweites Mal eingeladen hat, zeugt von ästhetischer Öffnung. Sie kann nur begrüsst werden – und zwar jenseits der Frage, ob die Richtung dieser Öffnung stimmt. Beispielhaft stand für diese Öffnung der Auftritt von Bertrand Chamayou, dem profiliertesten französischen Pianisten unserer Tage. Er sass nicht am Flügel, sondern zwischen zwei Flügeln. Der rechte diente einer Auswahl an Werken Maurice Ravels, der linke war von seinem Deckel befreit und präpariert, denn auf ihm spielte Chamayou Werke von John Cage, die kurz nach Ravels Tod entstanden sind. Ein wahrhaft hochstehendes Vergnügen. Nicht nur wegen der unerhörten manuellen Fähigkeiten des Pianisten und seiner inter-pretatorischen Einfallskraft, sondern auch wegen der überraschenden Kontraste, welche die Begegnung zwischen den beiden Komponisten bildete. In der farblichen Vielfalt ihrer ganz unterschiedlich erstickten Klänge, ihrer pointierten Rhythmik und ihren lapidaren Tonhöhenbildungen wirkte die Musik Cages eigenartig fremd, geradezu exotisch; an ein Ensemble afrikanischer Trommler mochte man denken oder an eine Skulptur Jean Tinguelys. Und mit ihrem sinnlichen Reiz, etwa jenem der Sekundreibungen, welche die harmonischen Wirkungen so eklatant steigern, ihrer blitzenden Virtuosität, vor allem aber ihrer Vielgestaltigkeit boten Werke Ravels wie die «Pavane pour une infante défunte» oder das «Tombeau de Couperin» reiche Anregung. Mehr Abende solcher Art, das wäre in der Tat zu wünschen.
Bertrand Chamayou ist lange nicht so bekannt wie Sokolov oder Schiff, nicht einmal wie Levit. Aber er lässt erkennen, dass es um die Zukunft des Klavierspiels nicht allzu arg bestellt ist. Mutatis mutandis gilt das auch für Piotr Anderszewski. Er eröffnete den Abschlussabend des Festivals mit einer freien Folge von sechs Präludien und Fugen aus dem zweiten Band von Bachs «Wohltemperiertem Klavier». Die Beziehung zwischen Tonarten war nicht über alle Zweifel erhaben, der Wechsel der Ausdruckscharaktere jedoch auf das Sorgfältigste ausgestaltet. Mit sattem Legato und durchaus kraftvollem Ton legte er die eher barock gedachten Präludien aus, während er für die Stücke, die in die Empfindsamkeit vorausweisen, wunderbare Geschmeidigkeit fand. Und für die Fugen, die er teils konzertant durchzog, teils nach romantischer Auffassung steigerte, schuf er grossartige Klangräume, in denen er die Themen deutlich heraushob und so die kontrapunktische Faktur wahrnehmen liess.
Den Schlusspunkt bildeten dann die «Diabelli-Variationen» Ludwig van Beethovens in einer spannungsvollen und spannenden Auslegung. Ganz beethovensch, nämlich etwas aufbegehrend, nahm er das Thema, das der österreichische Komponist und Musikverleger Anton Diabelli vorgegeben hatte – um dann den Marsch der ersten Variation gleich auf die Spitze zu treiben. Grandios, ja riesig kam er daher, im Griff gehalten von einem Tambourmajor, der umstandslos in Alban Bergs Oper «Wozzeck» hätte wechseln können. In den drei nächsten Variationen liess der Pianist erkennen, wie sich Beethoven Schritt für Schritt in eine andere Welt vortastet, wie er den Tonumfang vergrössert und die Expressivität steigert – bis dann in der Nummer fünf eine erste Spitze an Exzentrik sichtbar wird. Immer wieder nahm sich Anderszewski alle Zeit der Welt, etwa im «Grave e maestoso» der Variation vierzehn, was im ansonsten gebannt zuhörenden Publikum einige Hustenanfälle provozierte. Grossartig, wie er in den Variationen ab der Nummer neunundzwanzig Ruhe einkehren liess und wie mutig er zeigte, was das heissen kann: Ruhe. Streng durchgeführt und mächtig gesteigert abschliessende Fuge. Und als er von dort in die letzte Variation überleitete, wurde es restlos existentiell. War zu spüren, was Musik vermag.