Achtzig Jahre jung

Der Dirigent Matthias Bamert beim
Musikkollegium Winterthur

 

Von Peter Hagmann

 

Das waren noch Zeiten. Damals, als das Lucerne Festival noch die Internationalen Musikfestwochen Luzern waren, der Konzertsaal noch nicht von Jean Nouvel stammte, sondern von Armin Meili, als der Intendant noch ein einfacher Direktor war – ja noch einfacher, nämlich zugleich auch der Hausmeister im blauen Übergewand. Mit einer Leiter von bedeutender Grösse über einer Schulter schob sich der Techniker, der eine irritierende Ähnlichkeit mit dem Direktor der Musikfestwochen erkennen liess, in den taghellen Saal, in dem sich eine grosse Schar Journalisten niedergelassen hatte (gross war die Schar, weil ein Apéro riche angekündigt war und auf den Tischen im Hintergrund schon die prallvollen Tragtaschen mit den begehrten CDs bereitstanden). Er müsse hier noch eine defekte Glühbirne ersetzen, beschied der Mann in der blauen Latzhose. So klappte er seine Leiter auf, stieg in luftige Höhe, machte sich dort aber nicht an einer Deckenlampe zu schaffen, sondern begann zu lamentieren: zur Hauptsache über seinen Chef, besagten Direktor der Musikfestwochen. Auch aus dem Nähkästchen plauderte er – und verriet einige Pläne, die er wohl kaum hätte ans Licht bringen dürfen.

So ist Matthias Bamert: stets zu einem Scherz bereit, selbstironisch, unaufgeregt sachbezogen, ja von geradezu britischem Understatement. Obwohl: Er ist Schweizer, Berner gar. Aber ein Schweizer mit reichlichster Auslanderfahrung – wie es bei Musikern aus diesem Land mit seinem Holzboden der Fall sein muss. Seine Ausbildung, zunächst zum Oboisten, erhielt er in seinem Heimatland, dann jedoch ist er ausgeschwärmt: nach Darmstadt, wo er auf Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen stiess – denn im Grunde wollte Bamert Komponist werden. Erst musste freilich die Existenz gesichert werden: Vier Jahre lang, ab 1965, wirkte er als Solo-Oboist beim Mozarteumorchester Salzburg, von dort aus wagte er dann den Sprung aufs Dirigentenpodium. In Cleveland verdiente er seine Sporen ab, bei Grössen wie George Szell, Leopold Stokowski, Lorin Maazel. Das war die Basis für eine glänzende Laufbahn als Dirigent; ihre Schwerpunkte liegen im angelsächsischen Raum wie im Fernen Osten. Gegenwärtig steht er als Chefdirigent vor dem Sapporo Symphony Orchestra; vor zwei Jahren ist sein Vertrag bis 2024 verlängert worden. Viel hat er gesehen und gehört in Grossbritannien und den USA, in Japan, in Australien und Neuseeland, selbst in Malaysia, wo ihm nach Massen hofiert wurde. Dafür brauchte es auch einen Wohnsitz mit ausgebauter Verkehrsanbindung – einen in London. Inzwischen lebt er wieder in der Schweiz, im Tessin.

Ja, die Schweiz. Auch hierzulande hat Bamert seine Spuren hinterlassen, und wie. Zwischen 1977 und 1983 war er als Chefdirigent beim Radio-Sinfonieorchester Basel tätig und trug dort massgeblich zur Konsolidierung des 1970 von Zürich nach Basel transferierten Klangkörpers bei. Ungewöhnliches ereignete sich damals. Zusammen mit dem Fernsehregisseur Adrian Marthaler und unter den Auspizien von Armin Brunner, dem seinerzeitigen Leiter der Musikabteilung beim Deutschschweizer Fernsehen, realisierte Bamert zahlreiche Filme mit Auftritten des Orchesters in ungewöhnlicher Umgebung, zum Beispiel in einem trockengelegten Schwimmbassin. Ausserdem führte er als einer der Ersten in der Branche die Arbeit mit Kindern und für Kinder ein – im moderierten Konzert wie im Fernsehen, für das er eine weitherum beachtete Serie von Produktionen erstellte. Unkonventionell war das alles. Im braven Schweizer Musikbetrieb wurde es, obwohl es auf merklichen Erfolg stiess, mit herablassender Skepsis beobachtet.

In die Geschichte eingeschrieben hat sich Bamert nicht zuletzt durch sein Wirken als Direktor der Internationalen Musikfestwochen Luzern in den Jahren 1992 bis 1998.  Mit den Zwängen, die mit den für das Festival zentralen Orchestergastspielen verbunden waren, hatte er seine liebe Mühe. Zum Ausgleich pflegte er und schuf er zahlreiche Nebenschauplätze: die Uraufführungen von Kompositionsaufträgen, Late-Night-Konzerte und Matineen mit musikalisch interessierten Schriftstellern in der Meggener St. Charles Hall, das Osterfestival und das herbstliche Klavierfestival, nicht zuletzt das Strassenmusikfestival. Vor allem aber wirkte er diskret auf den Bau des KKL ein; er plädierte für den Beizug des Akustikers Russell Johnson und er bot 1997, als der Meili-Bau abgerissen und das KKL noch nicht vollendet war, den einzigartig stimmungsvollen Sommer in der Von-Moos-Stahlhalle in Emmen, die sich in einem Triebwagen der SBB über ein Industriegeleise erreichen liess. Nach der feierlichen Eröffnung des KKL zog er sich von der Luzerner Aufgabe zurück, um wieder als Musiker zu arbeiten.

Jetzt wird Matthias Bamert doch tatsächlich achtzig. Niemand gibt ihm sein Alter. Schlank und aufrecht steht er da, energiegeladen und noch immer mit seinen kleinen Sprüngen auf dem Podium führt er durch die Musik, dabei stets nur auf das Notwendige in der Zeichengebung konzentriert – so war es jüngst an einem Abend zu erleben, zu dem ihn das Musikkollegium Winterthur verdienstvollerweise eingeladen hat. Das Orchester reagierte mit einer durchs Band fabelhaften Leistung. Das Programm aber, es trug ganz klar die individuelle Handschrift des Dirigenten. Zur Eröffnung die Ouvertüre zur Oper «Dame Kobold» von Joachim Raff, eine Verbeugung vor einem zu Unrecht im Schatten stehenden Schweizer Komponisten des 19. Jahrhunderts. Spannender und witziger als gedacht klang das Stück, und einmal mehr konnte man sich fragen, warum in Schweizer Konzertsälen das Eigengewächs so schamhaft verborgen wird.

In der Mitte zwei Stücke Wolfgang Amadeus Mozarts, die nicht eben häufig gespielte Linzer Sinfonie in C-dur (KV 425) und das Divertimento in D-dur (KV 136), ein Stück gehobener, äusserst phantasievoller Unterhaltungsmusik des 16-jährigen Wunderkinds. Die beiden Werke liessen sich rasch als Fingerzeig auf die eigene Vita des Dirigenten erkennen. Lange Zeit arbeitete Bamert mit den London Mozart Players zusammen, 1993 bis 2000 gar als ihr Leiter. In diesem Tätigkeitsfeld hat Bamert besonders nachhaltige Resonanz erzielt. Ohne Zahl sind die CD-Aufnahmen und die Radio-Mitschnitte. Wann immer man einen in- oder ausländischen Sender aufschaltet und dort ein mehr oder weniger bekanntes Stück aus der Zeit der musikalischen Klassik angekündigt wird, kann man sicher sein, dass der Name Matthias Bamerts und der London Mozart Players fällt.

Unerschrocken hat er sich ein halbes Leben lang mit diesem von manchem Musiker gefürchteten Repertoire beschäftigt – ohne Anbiederung an die historisch informierte Aufführungspraxis, aber auch ohne trotzigen Widerstand gegen sie. Die Spuren der Beschäftigung mit dieser für die Entwicklung der musikalischen Interpretation so zentralen ästhetischen Richtung sind klar zu erkennen, zugleich ist die Verbindung mit jener hergebrachten Tradition, in welcher der Dirigent aufgewachsen ist und nach wie vor lebt, nicht zu überhören. Die Kombination macht es aus, sie bildet den Kern des interpretatorischen Profils Bamerts. Satt und kompakt, aber auch federnd und deutlich phrasiert der Streicherklang, pointiert, doch nicht aufgesetzt die Färbungen durch die Bläser in der Linzer Sinfonie. Auf dieser Basis liess sich mit dem D-dur-Divertimento ein Ausschnitt aus dem Schaffen Mozarts wiederentdecken, das leider tief unter dem Tisch liegt.

Schliesslich mit zwei Kompositionen aus dem frühen 20. Jahrhundert ein fulminanter Kehraus. Auch dies eine gleich zweifache Anspielung an den musikalischen Kosmos des Dirigenten. Matthias Bamert eignet eine ganz persönliche Nähe zur neueren, ja zur neuen Musik; zahlreiche Uraufführungen von Werken unterschiedlicher Ausrichtung hat er dirigiert, in den späten achtziger Jahren leitete er das Glasgow Contemporary Festival, und unvergessen ist der Basler Musikmonat von 2001. Noch deutlicher spürbar ist Bamerts Abneigung gegen den tierischen Ernst in der musikalischen Kunst; wenn er seinem Publikum ein Schnippchen schlagen kann, dann tut er es – mit schelmischer Lust. Darum gab es in Winterthur «General William Booth Enters into Heaven», eine ganz und gar unangepasste Schöpfung des Amerikaners Charles Ives von 1914, in der sich der Bariton Dean Murphy bewährte. Und folgte ein weiteres Divertimento, nämlich das freche Divertissement des Franzosen Jacques Ibert von 1930. Frisch fröhlich und zugespitzt wurde diese Musik dargeboten, das Amusement war perfekt. Grosser Beifall als eine vorgezogene und darum verbotene Gratulation an einen Musiker, der gewiss noch Manches im Kopf und im Kalender hat.