Esther Hoppe spielt Sonaten und Partiten Bachs
Von Peter Hagmann
Sie hat es gewagt. Viele Jahre lang habe sie sich mit den Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach beschäftigt, jetzt sei die Zeit gekommen, sagt Esther Hoppe. So hat die Schweizer Geigerin, die seit zehn Jahren eine Professur am Mozarteum Salzburg versieht und auf Beginn der Saison 2024/25 die Leitung der Camerata Zürich übernimmt, ihre Instrumente geschultert und ist ins Aufnahmestudio gegangen. Ihre Instrumente? In der Mehrzahl? Tatsächlich kamen für die Produktion der bei Claves erschienenen 2-CD-Box (sie ist auch im Netz greifbar) zwei Geigen zum Einsatz: zum einen eine Violine von Gioffredo Cappa aus dem Jahre 1690, zum anderen die «De Ahna», eine Stradivari von 1722. Von den zwei Mal drei Stücken sind deren vier in Moll geschrieben, für die steht das Instrument von Cappa ein. In der Sonate Nr. 3 und der Partita Nr. 3 dagegen, beide in Dur gehalten, erklingt die Stradivari aus der Entstehungszeit von Bachs Zyklus. So begegnen sich hier sehr direkt zwei Instrumente unterschiedlicher Herkunft; hat man als Zuhörer die riesige Ciaccona der d-Moll-Partita hinter sich und tritt man in das Adagio der C-Dur-Sonate ein, kommt es denn auch zu einem veritablen Aha-Effekt. Auf den körperreichen, offenen Ton der Cappa-Geige trifft die ganz eigene, samtene Wärme der Stradivari – es ist unglaublich. Wer Ohren hat zu hören, kann in diesem Augenblick erfahren, dass es mit dem Mythos um den berühmtesten der berühmten Geigenbauer sehr wohl etwas auf sich hat.
Alte Instrumente also – aber: eingerichtet und verwendet sind sie sind gemäss heute üblichen Normen. Zur Verwendung kommen also moderne Saiten, moderner Bogen und der Stimmton von 442 Hertz. Allein, wie sich Esther Hoppe der Musik Bachs annimmt, entspricht wiederum klar der historisch informierten Aufführungspraxis – und sie tut das in denkbar phantasievoller, sinnreicher Weise. Das schwungvolle Durchziehen, der üppige Ton, das durchgehende Vibrieren früherer Zeiten, das ist hier kein Thema. Esther Hoppe verzichtet fast ganz auf das Vibrato, was die seltenen Momente, da sie auf einem Spitzenton zart und leicht vibriert, ganz besonders heraushebt. Die Lebendigkeit, die Geschmeidigkeit, ja der Erzählduktus ihres interpretatorischen Ansatzes ergibt sich aus anders gelagerten Ausdrucksmitteln. Zum Beispiel aus einer Artikulation, aus einer vielgestaltigen Differenzierung zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, die sich mit subtilen Tempomodifikationen verbindet. Höchst eindrucksvoll ist das, zumal es sich mit einer Kunst der expliziten Phrasierung einhergeht: der Bildung musikalischer Sätze, die, der Sprache vergleichbar, durch Interpunktionen gegliedert sind. All das geschieht in einer Unaufgeregtheit, die man angesichts der technischen und musikalischen Schwierigkeiten in diesen sechs Suiten nicht hoch genug schätzen kann. In gelöster Einlässlichkeit horcht Esther Hoppe in die Musik Bachs hinein; sie lässt sie gleichsam aus sich selbst heraus entstehen und schafft ihr damit den Raum, in dem sie sich dem Zuhörer, der Zuhörerin in ihrer ganzen Schönheit, auch dem ganzen Raffinement ihrer Erfindung zeigt.
Und Raffinement der Erfindung gibt es reichlich in den je drei Sonaten (mit dem Wechsel zwischen schnellen und langsamen Sätzen) und den drei Partiten (mit einer Folge unterschiedlicher Tanzsätze). Bach, selber nicht nur ein berühmter Virtuose an Tasteninstrumenten, sondern auch ein vorzüglicher Geiger, ging es in diesem Werkkomplex um nichts anderes als den Versuch, die Mehrstimmigkeit und damit die Kunst des Kontrapunkts auch der an sich einstimmigen Geige zu erschliessen. Bis zu vier Stimmen erklingen hier gleichzeitig. Das erfordert eine Griff- und eine Bogentechnik, die immer wieder mit dem natürlich vorangehenden Zeitverlauf in Konflikt gerät; umso mehr glänzt die Souveränität, mit der Esther Hoppe diese Schwierigkeiten bewältigt. Mit weitem Atem und hohem Sinn für klangliche Schönheit geht sie langsame Sätze wie das einleitende Adagio der g-Moll-Sonate BWV 1001 oder, ganz besonders, die Sarabande aus der d-Moll-Sonate BWV 1004 an – und wie sie hier die Wiederholung der ersten Takte verziert, sorgt für eine echte Überraschung. Stupend dann die Kraft, mit sie die gewaltige Chaconne am Ende dieser Sonate unter einen Bogen bringt; ganze Berglandschaften tun sich da auf. Dahinter stehen musikalische Entscheidungen wie die Gestaltung der Kräfte, die in punktierten Verläufen stecken, aber auch das Gefühl für unterschiedliche Spannungszustände. Wenn darauf das Adagio der C-Dur-Sonate BWV 1005 erklingt, öffnen sich zögernde, tastende, ganz weich punktierte Lineaturen. Sehr berührend gelingt in dieser Sonate der langsame Satz in F-Dur – und dann das an Vivaldi gemahnende Brio des Finalsatzes: ein Feuerwerk.
Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001-1006). Esther Hoppe. Claves 50-3035/36 (CD. Aufnahme 2021, Produktion 2022).