Ein Herz und eine Seele – mit Philippe Herreweghe

Bachs Matthäus-Passion in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ob im Chor eine Sängerin oder ein Sänger pro Stimme das Angebrachte sei, ob es deren drei, deren fünf oder deren zwölf sein sollten, das wurde und wird im Fall der Johannes- wie der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs heftig diskutiert. Die Matthäus-Passion in der Monumentalbeseztung Willem Mengelbergs ist wohl definitiv vorbei – wenn auch die historisch informierte Aufführungspraxis eines Tages auf die Idee kommen könnte, auch den Weg hin zu ihr neu zu beleuchten. Die Johannes-Passion in rein solistischer Besetzung wiederum, vor gut dreissig Jahren in Basel erprobt, war ein anregendes Experiment, das wenig Folgen zeitigte. Heute, da die historische Praxis angekommen und sozusagen Allgemeingut geworden ist, hat sich die kleine chorische Besetzung etabliert – wobei Exponenten wie Nikolaus Harnoncourt oder in jüngerer Zeit René Jacobs wieder für eine grössere Anzahl an Mitwirkenden pro Stimme optiert haben. Die definitive Lösung gibt es nicht, zu sehr hängt die Besetzungsstärke auch von der Grösse des Raums und von den stimmlichen Fähigkeiten jedes einzelnen Chormitglieds ab.

Auf dieser Ebene hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren die wohl bedeutendsten Veränderung ereignet. Heute kommt für die Passionen Bachs in der Regel ein Chor mit geschulten, wenn nicht gar professionellen Sängerinnen und Sängern zum Einsatz. Paradebeispiel dafür ist der Dirigent Philippe Herreweghe, der seit 1998 regelmässig mit der Matthäus-Passion zur Neuen Konzertreihe Zürich gekommen ist und das auch dieses Jahr, als Abschluss einer achtteiligen Tournee mit seinen Ensembles, wieder getan hat. Von welcher Qualität sein Chor ist, zeigt sich allein in der Tatsache, dass ausser dem Evangelisten und dem Sänger des Jesus die Solisten allesamt in den Chor integriert sind. Wenn aber Chormitglieder vom Format der Sopranistin Dorothee Mields oder des Bassisten Tobias Berndt mit von der Partie sind und wenn man von diesen Einzelnen aufs Ganze schliesst, eröffnen sich allerschönste Perspektiven. Es war denn auch auf Anhieb zu hören. Der Klang wirkt in einer glücklichen Weise homogen, nicht durch die Aussenstimmen bei vergleichsweise schwächerer Mittellage bestimmt, sondern gerade dort, in seiner Mitte, kraftvoll aufgefüllt. Besonders zur Geltung kommt das bei den Chorälen, deren kunstvolle Harmonisierungen im Hören gleichsam mit Händen zu greifen sind.

Dies aber nicht, weil Philippe Herreweghe auf jenen kompakten Ton setzte, den John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir so meisterhaft evoziert. Herreweghe hatte schon immer das Fliessende und das Flexible im Blick – das vielleicht auch als ein früh erwachter Reflex gegen das Monumentale früherer Tradition. Im Collegium Vocale Gent, das für die doppelchörig angelegte Matthäus-Passion zweigeteilt wird, wirken je drei Sänger pro Stimme, zwölf im einen, zwölf im anderen Chor; dazu kommen acht Frauenstimmen für die hervorgehobenen Choralmelodien (anders als bei den beiden Einspielungen der Passion leider nicht die prägnanteren Knabenstimmen). Im Gesamtklang scheint das Individuelle der einzelnen Mitglieder spürbar zu bleiben, was zu einer auf Anhieb erkennbaren Vitalität führt. Zugleich erzielt Herreweghe – und da hat er in den zurückliegenden zwanzig Jahren ein unglaubliches Knowhow entwickelt – eben jene spezifische Homogenität, die einerseits aus dem Verzicht auf das Vibrato resultiert, die andererseits aber auch von einer hochgradigen entwickelten Legatokunst, nicht zu verwechseln mit dem Dauerlegato früherer Zeiten, und einem ganz eigenartigen Ziehen geprägt ist. Aus der Arbeit am Detail entstehen so eine stetig vorwärtstreibende Spannung und eine Emotionalität sondergleichen; jedenfalls geriet auch die jüngste Zürcher Matthäus-Passion wieder zu einem tief berührenden Erlebnis. Nicht zuletzt trägt dazu die um einen Halbton tiefere Stimmung von 415 Hertz bei.

Aus dem so speziellen Chor, bei dem sich auch die Turbae in besten Händen befinden, treten nun also die Vokalsolisten heraus. Und es sind alles veritable Solisten, anders als im Balthasar Neumann-Chor von Thomas Hengelbrock, der kollektiv hochstehend klingt, in den ebenfalls von Chorsängern bestrittenen solistischen Auftritten aber nicht restlos befriedigt (https://www.peterhagmann.com/?p=1034). Zu den Höhepunkten der diesjährigen Zürcher Matthäus-Passion gehören ohne Zweifel die beiden grossen Sopran-Arien mit Dorothee Mields, die vorführten, wie sich mit adäquater Technik, also mit fast instrumentaler Präzision der Linienführung, Emotion erzeugen lässt. Sehr anrührend auch «Erbarme dich» mit dem grossartigen Altisten Damien Guillon – und mit der Konzertmeisterin Christine Busch, die hier konzertierend brillierte, darüber hinaus aber das Geschehen insgesamt zusammenhielt. Wie überhaupt das ebenfalls zweigeteilte Orchester und ganz besonders die wieder äusserst engagiert mitgehende Continuo-Gruppe des ersten Orchesters von dem aussergewöhnlichen Niveau zeugten, das in den Ensembles rund um Philippe Herreweghe herrscht.

Ein vokal-instrumentales Meisterstück wurde «Ich will bei meinem Jesu wachen» mit Reinoud van Mechelen und seinem hellen Tenor sowie den vier Herren an der Blockflöte und der Oboe da caccia. Vom konzertierenden Zusammenspiel lebte aber auch die Bass-Arie «Komm süsses Kreuz», bei der Romina Lischka den Gambenpart versah und bei der mit Peter Kooij ein langjähriger Weggefährte Herreweghes mit von der Partie war. Weniger überzeugten dagegen die beiden Hauptsolisten. In seinem Bemühen, den rapportierenden Duktus in der Partie des Evangelisten mit Emphase aufzuladen, ging dem Tenor Maximilian Schmitt bisweilen die Kontrolle über das an sich schon sehr ausgeprägte Vibrato verloren; zudem kam in solchen Momenten eine nasale Farbe ins Spiel, die ausgesprochen störte. Geradezu als eine Fehlbesetzung erschien mir der Bariton Florian Boesch in der Partie des Jesus; mit seinem Opernpathos und seinem donnernden Forte fiel er aus der Gesamtanlage der Aufführung heraus. Gewiss geht die Matthäus-Passion, was die Figur des Jesus betrifft, einen Schritt weiter als die Johannes-Passion. An diesem Abend wurde dieser Schritt aber mit einem Paar Siebenmeilenstiefeln getan.

Luzerner Osterklänge

Bachs Johannes-Passion und Rihms «Requiem-Strophen» im KKL

 

Von Peter Hagmann

 

Kurz vor Ostern ballt sich das Geschehen zu einmaliger Dichte. Bringt die klassische Musik – womit hier wie immerdar die Kunst-Musik im allgemeinen gemeint ist – in einer Art Frühlings-Explosion ans Licht, dass sie alles andere als einen Endzustand erreicht hat, dass sie vielmehr farbenfroh lebt und Publikum in hellen Scharen anzieht. Die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden prunken mit einer «Tosca», bei der Simon Rattle den Taktstock führt und Kristine Opolais, Marcelo Alvarez und Evgeny Nikitin auf der Bühne stehen. Zu gleicher Zeit ereignen sich die durch Herbert von Karajan 1967 ins Leben gerufenen Osterfestspiele Salzburg, die mit einer «Walküre» aufwarten – dies mit Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle Dresden und in einer szenischen Produktion, für welche die Regisseurin Vera Nemirova in einem Nachbau jenes Bühnenbilds arbeitet, das Günther Schneider-Siemssen vor fünfzig Jahren für Karajan gebaut hat. Exquisit die Besetzung mit Anja Harteros und Anja Kampe, mit Peter Seiffert und Georg Zeppenfeld. Ohne die Sensation der Oper kommt dagegen das Osterfestival Luzern aus; es sorgt still und leise, aber ausgesprochen nachhaltig für künstlerische Bereicherung.

Zum Beispiel durch eine Aufführung der Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock und den Kräften des Balthasar-Neumann-Ensembles. Wie üblich im Bereich der alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis hat der Dirigent Sängerinnen und Sänger, Instrumentalistinnen und Instrumentalisten um sich geschart, die ihm eng verbunden sind und sich seine Intentionen restlos zu eigen gemacht haben. Und ähnlich wie Philippe Herreweghe lässt Hengelbrock die vokalsolistischen Nummern von den Mitgliedern des Chors ausführen – mit Ausnahme der Partien des Evangelisten und des Jesus. Da nun stellten sich im KKL Luzern Momente einzigartiger Verdichtung ein. Mit der Helligkeit und der leuchtenden Lineatur seines Tenors zeigte Daniel Behle, dass der Evangelist der Johannes-Passion weder ein neutral berichtender Erzähler noch ein das Geschehen aufplusternder Dramatiker sein muss, dass es vielmehr einen dritten Weg gibt. Sein stimmliches Vermögen, das von einem lyrischen Grundansatz durchaus auch packende Expansion einschliesst, erlaubte es Behle, ganz aus der Sprache heraus zu einer musikalischen Griffigkeit zu finden, die den Zuhörer restlos in Bann schlug. Nicht weniger anziehend Markus Butter, der mit seinem kernigen Bariton die Worte Jesu in eine Atmosphäre geradezu herrscherlicher Selbstgewissheit kleidete.

Das passte ganz ausgezeichnet – zunächst zur Johannes-Passion, die den Gekreuzigten weniger als ein Empathie auslösendes Opfer denn als Überwinder zeigt. Vor allem aber passte es zur zweiten Fassung der Passion, die Bach ein Jahr nach der Uraufführung 1725 in Leipzig vorgestellt hat. Dass das Werk in nicht weniger als vier Versionen existiert, ist kaum jemandem bewusst, weil für Aufführungen gewöhnlich ungefragt auf die Neue Bach-Ausgabe zurückgegriffen wird. Anders Thomas Hengelbrock, in Sachen Quellenforschung nicht weniger akribisch als Nikolaus Harnoncourt; er entschied sich für eine von Bach selbst stammende Ausfertigung. Anstelle des Eingangschors steht in der zweiten Fassung der Passion eine grosse Choralbearbeitung, während diverse neu eingefügte Arien von der hohen Kunstfertigkeit des Komponisten zeugen. Die im Ton zurückhaltende, in Ausdruck wie Wirkung aber ausserordentlich starke Aufführung hob diese Seite der Passion exzellent heraus. Mit dem prominenten Konzertmeister Daniel Sepec als Energiezentrum spielte das Orchester ungemein beweglich, in den konzertierenden Beiträgen zudem glanzvoll virtuos. Und der Chor, dessen Mitglieder im Solistischen nicht allesamt gleichermassen überzeugten, liess an Deutlichkeit der Textgestaltung wie an klanglicher Homogenität keinerlei Wunsch offen.

Wurde an diesem Abend ein bekanntes Werk in ein neues Licht gerückt, so präsentierte das erstmals durchgeführte Stifterkonzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung, für das der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München mit dem Chefdirigenten Mariss Jansons nach Luzern gekommen waren, eine neue Komposition. Und ein Werk in grosser Besetzung. «Requiem-Strophen» heisst es, und es stammt von Wolfgang Rihm, der hier sehr persönlich und musikalisch ausserordentlich berührend spricht. Die 2015/16 im Auftrag der Reihe «musica viva» des Bayerischen Rundfunks entstandene Partitur orientiert sich nur vage an der katholischen Totenmesse. Näher steht sie dem «Deutschen Requiem» von Johannes Brahms, das mit einer vom Komponisten selbst zusammengestellten Abfolge von Texten arbeitet. Rihm hält es ähnlich; die Verbindung zu Brahms wird gleich zu Beginn deutlich, wo Rihm den Propheten Jesaja sprechen lässt. Alles Sterbliche sei wie das Gras, das verdorrt – wie Brahms, der den Apostel Petrus herbeiruft und in seinem Requiem darauf hinweist, dass am Ende das Gras «verdorret und die Blume abgefallen» sei. Rihms Textwahl kreist einerseits um die «Missa pro defunctis», andererseits um Rainer Maria Rilke, der mit Versen aus «Das Buch der Bilder», aber auch mit Übersetzungen von Sonetten Michelangelos vertreten ist. Die in vierzehn Schritte gegliederte, äusserst stimmige Textwahl ist geprägt durch Wiederholungen, die dazu führen, dass einzelne Textpassagen in immer wieder anders geartete Kontexte geraten und dergestalt eine Art Kommentierung erhalten. In seiner subtilen Vielschichtigkeit ist allein schon das Textbuch ein Kunstwerk höchsten Anspruchs.

Aber es ist ja in Klang gebracht, und was die Musik Wolfgang Rihms vermag, zeigt sich besonders frappierend im überraschenden letzten, dem vierzehnten Schritt seiner «Requiem-Strophen». Hier greift der Komponist nach dem Gedicht «Strophen» von Hans Sahl, einem Autor der Weimarer Republik. Der Moment des Todes ist in diesen zwei sich gleichenden und sich ebenso voneinander abhebenden Strophen in zart gelassene Worte gefasst. Die Musik nimmt da einen sequenzierenden Charakter an, und wenn es am Schluss heisst «…als wär ich nie gewesen oder kaum», zieht sie sich in allerleiseste Sphären zurück – unglaublich, wie der Chor das meisterte – und verstummt dann auf dem zweitletzten Wort, dem unversehens zur Frage gewordenen «oder». Für die Einleitung zu diesem Finalteil sorgen zwei Bratschen, deren Linien sich eng verschlingen – so wie es die beiden Soprane (grossartig Mojca Erdmann und Anna Prohaska) im Lauf des Stückes immer wieder tun. Ihnen gegenüber steht ein Bariton, dem die drei Sonette Michelangelos übertragen sind; Hanno Müller-Brachmann versah diese Aufgabe mit Strahlkraft und Sicherheit in jedem Bereich seines weiten Ambitus, ausserdem mit einer Diktion, die hörend erleben liess, wie bei Wolfgang Rihm Sprache zu Musik werden kann. Hier zu einer sich organisch ausfaltenden, geschmeidig fliessenden, selten eruptiven, ihren Reichtum viel eher im Leisen findenden Musik. Dass sich Mariss Jansons diesem wunderbaren Stück mit der ihm eigenen Einlässlichkeit widmete und dass er damit bei der «musica viva» debütierte, kann dem Dirigenten nicht hoch genug angerechnet werden.