Kreative Beweglichkeit beim Berner Symphonieorchester

Ein Abend mit Dieter Ammann, Paul Hindemith und Max Bruch

 

Von Peter Hagmann

 

In Bern gibt es keinen General. Überhaupt gibt es in der Schweiz, wenigstens in Friedenszeiten, keinen General – ausser in Zürich. Dort steht, seit es ein Opernintendant aus Österreich so gewollt hat, ein Generalmusikdirektor im Amt. In Bern aber wirken nebeneinander, in echt schweizerischer Konkordanz und in friedlich anfeuernder Konkurrenz, Mario Venzago als Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters und, am Pult des nämlichen Klangkörpers, aber im Graben des Stadttheaters Bern, Kevin John Edusei als Chefdirigent des Musiktheaters. Dabei ist es keineswegs so, dass der Konzertbereich einen Nebenschauplatz neben der Oper bildete, die beiden Bereiche stehen vielmehr gleichwertig nebeneinander. Dafür weiss Mario Venzago sehr wohl zu sorgen.

Unter der Leitung des ebenso phantasievollen wie kundigen Musikers, dem mit Xavier Zuber von Konzert Theater Bern ein gewiefter Direktor zur Seite steht, hat das Berner Orchester ein aussergewöhnliches Profil erreicht. Der Berner Klang hat Persönlichkeit. Er zeichnet sich durch jene helle Leichtigkeit aus, welche die Nähe zum französischen Kulturbereich erkennen lässt, und er lebt von profilierten Solisten unter den Bläsern wie von bestechender Ausgewogenheit im Gesamten. Was die Phrasierung betrifft, kennt das Berner Orchester eine ganz eigene Agilität, während der bewusst dosierte Einsatz des Vibratos die Strahlkraft des Harmonischen stärkt.  Die musikalischen Wendungen erhalten so pointierte Fasslichkeit; in Bern spricht die Musik ebenso sehr, wie sie singt.

Dazu kommt die ungewöhnliche Kreativität in der Programmgestaltung. «Aus alten Zeiten» zu berichten, das versprach das jüngste Konzertprojekt – und es begann mit «Glut», einem in den Jahren 2014 bis 1016 entstandenen Orchesterstück des 54jährigen Schweizers Dieter Ammann, das vom Tonhalle-Orchester Zürich und Konzert Theater Bern gemeinsam in Auftrag gegeben worden ist. Dies im Rahmen von «Oeuvres suisses», einem langfristig angelegten Projekt der Kulturstiftung Pro Helvetia und der im Verband «orchester.ch» organisierten Sinfonieorchester der Schweiz, das eine Stärkung des zeitgenössischen Orchesterrepertoires zum Ziel hat. Uraufgeführt wurde das Werk vor einem Dreivierteljahr in Zürich mit dem Dirigenten Markus Stenz, in Bern ist es nun in einer neuen Einstudierung nachgespielt worden – so wie es «Oeuvres suisses» intendiert.

In dieser Berner Einstudierung hat das Stück ganz andere Seiten gezeigt als in Zürich. Waren bei der Uraufführung (https://www.peterhagmann.com/?p=608) noch Assoziationen an die aufs Feinste verästelte Orchestersprache von Richard Strauss aufgekommen, so erschien «Glut» in dem entschiedenen Zugriff Mario Venzagos als ganz und gar eigenständiges, heutiges Werk, zumal das Berner Symphonieorchester mit dem reich besetzten Schlagzeug scharfe Kanten aufscheinen liess. «Aus alten Zeiten», der Titel des Programms, erschien hier subtil ironisiert. Oder gar gebrochen, denn das Züngelnde, das Ammanns Werk ausmacht, wirkte nicht als Teil einer latenten Programmatik, sondern eher als Aspekt einer hochdifferenzierten Kompositionstechnik. Dessen ungeachtet trat auch hier zutage, dass «Glut» zu den Stücken moderner Musik gehört, die unmittelbare Zugänglichkeit bieten.

Danach freilich ging es tatsächlich um alte Zeiten. Denn im «Schwanendreher», seinem 1935/36 geschriebenen Konzert für Viola und kleines Orchester, arbeitet Paul Hindemith mit Melodien, die aus einem Liederbuch des späten 19. Jahrhunderts stammen. Indessen entfaltet Hindemiths kompositorische Handschrift so viel Eigenheit, dass der Bick zurück nicht als eine Anleihe, sondern eher als ein Moment der Selbstvergewisserung zur Geltung kommt – ganz zu schweigen von den komplexen zeitgeschichtlichen Aspekten, denen Doris Lanz im Programheft differenziert nachgeht. Vollständig Gegenwart wurde Hindemiths Stück aber in der packenden, geradezu körperlich angelegten Interpretation durch den Bratschisten Nils Mönkemeyer, dem das Orchester mit Celli und Bässen sowie Bläsern animierend zur Seite stand.

Dann freilich kamen sie voll hinter dem Vorhang hervor, die alten Zeiten. Von Max Bruch ist heute noch ein Violinkonzert bekannt, das freilich auch nicht mehr sehr häufig gespielt wird; sein übriges, ein langes Leben abdeckendes Schaffen ist vergessen. Auch die dritte seiner drei Symphonien erscheint kaum je in einem Konzertprogramm. Nicht ganz ohne Grund: Das konventionell gebaute, viersätzige Werk wirkt, was Individualität und Originalität angeht, doch vergleichsweise schmalbrüstig. Originell bleibt aber, wie viel Bruch aus dem Wenigen macht, mit welchem Raffinement er das floskelhafte Geschehen einkleidet – Mario Venzago hat das mit dem Berner Symphonieorchester ganz ausgezeichnet ans Licht gehoben. Wie er das Blech mit seiner phantastischen Piano-Technik schimmernde Grundierung schaffen und wie er die Streicher schwelgen liess, erzeugte prächtige Atmosphäre: Bruchs Dritte als ein Stück wilhelminischer Musik.

Auf dieser Höhe der Ausstrahlung treten für das Berner Symphonieorchester nun bald etwas schwierigere Zeiten an. Wie das Stadtcasino Basel und die Tonhalle Zürich wird das Kulturcasino Bern im Sommer dieses Jahres für zwei Jahre geschlossen, auf dass es eine grundlegende Auffrischung erhalte. Im Saal selbst ist wenig zu tun, gründlich erneuert werden dagegen der Hinterbühnenbereich und die Foyers – dies im Zusammenhang mit einem erweiterten gastronomischen Angebot. Das Berner Symphonieorchester zieht für diese Zeit um in verschiedene Lokalitäten der Stadt, zur Hauptsache aber in den Kursaal, der mit 1000 Plätzen etwas weniger Raum bietet als der angestammte Konzertsaal mit seinen 1200 Plätzen.

Auch nicht ideal ist die trockene Akustik; es werden deshalb eine Konzertmuschel eingebaut und in Zusammenarbeit mit einem bekannten Münchner Büro weitere bauliche Massnahmen zur Verbesserung des Raumklangs ergriffen. Gestählt durch seine Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Umbau des Berner Stadttheater geht Xavier Zuber das Projekt des zweijährigen Exils voller Optimismus an. Ein Umzug ins KKL Luzern verbunden mit Bustransfers, wie ihn die Konzerte des Migros-Kulturprozents vorsehen, ist für ihn keine Option. Im Schweizer Konzertleben ist jedenfalls für Spannung gesorgt.

Schöne neue Musik

 

Peter Hagmann

Weiter Blick, farbiger Klang

«Glut» von Dieter Ammann, eine Uraufführung beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Elf Orchester und je drei Auftragskompositionen innerhalb dreier Jahre – das ist das Projekt «Œuvres suisses», das die im Verband «orchester.ch» organisierten Sinfonieorchester der Schweiz und die Schweizer Kulturstiftung «Pro Helvetia» verfolgen. 33 neue Werke für grösser oder kleiner besetzte Klangkörper kommen da zusammen, und sie sollen, so der fromme Wunsch, nicht nur von den Auftraggebern aus der Taufe gehoben, sondern auch für zweite und dritte Einstudierungen an die anderen Orchester weitergereicht werden. Mit im Boot ist zudem das Radio; SRF2 schneidet die Uraufführungen mit und stellt diese Aufzeichnungen dann für eine CD-Box zur Verfügung.

Das Projekt richtet sich an Komponistinnen und Komponisten, die den Schwerpunkt ihres Wirkens in der Schweiz haben. Seinen Anfang nahm es mit «Vergessene Lieder» von Nadir Vassena, uraufgeführt im Dezember 2013 durch das Orchestra della Svizzera italiana unter der Leitung von Ion Marin. Seither ist einiges geschehen, denn inzwischen stehen wir bei der Nummer 26, der «Erosion» von Martin Wettstein – die sinnigerweise am genau gleichen Abend vom Musikkollegium Winterthur vorgestellt wurde wie die Nummer 25, nämlich «Glut» von Dieter Ammann, herausgebracht vom Tonhalle-Orchester Zürich. Es lebe der Föderalismus.

Die Idee mag in Zeiten, da auch in künstlerischen Bereichen die nationalen Grenzen sich doch deutlich relativiert sehen, nicht ganz taufrisch wirken. Auch war nicht zu erwarten, dass das Projekt zu 33 Neuentdeckungen führt; es geht da mehr um eine Bereicherung des Repertoires auf der Basis des Status quo. Für Überraschungen bleibt aber gleichwohl Raum, wie das jüngste Werk Dieter Ammanns erwies. «Glut» ist ein wunderbares, in seiner Weise herrlich schönes, dabei ganz und gar gegenwärtiges Stück Musik – die Uraufführung mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Markus Stenz unterstrich es.

Eine Tondichtung ist «Glut» nicht, dennoch gehen die Gedanken in diese Richtung. In seiner weiten räumlichen Anlage, seinem vielschichtigen Umgang mit klanglichen Flächen und den immer wieder einbrechenden Eruptionen berichtet das Stück durchaus von dem, was sein Titel andeutet – lässt es an eine glühende Feuerstelle denken. Die Energie ist da sozusagen zurückgenommen ins Innere des Glimmens. Ruhe und Bewegung herrschen zugleich; im selben Mass, in dem Liegendes und Flächiges dominieren, flackert es hier, schiesst dort etwas auf. Immer wieder verdichten sich die Kräfte, kommt es zu kurzen Flammenbildungen, bisweilen sogar zu Momenten repetitiver Bewegung.

All das ist mit beeindruckender Sicherheit der Formulierung, mit blendendem Sinn für die Dramaturgie der Abläufe und in souveränem Umgang mit dem grossen Orchesterapparat in Klang gesetzt. Natürlich ist die Dissonanz hier längst emanzipiert, steht sie nicht mehr in Abhängigkeit zur Konsonanz, in die sie sich auflösen muss, wir befinden uns ja im 21. Jahrhundert. Davon spricht auch der selbstverständliche Einbezug von Mikrointervallen, die zur Verdichtung des klanglichen Gewebes beitragen, sowie ausserdem, ja vor allem, der Einsatz eines üppig besetzten Schlagzeugs. Von ferne erinnert die phantasievoll ausgedachte Vielfalt der perkussiven Klangwirkungen an die «Notations» von Pierre Boulez. Zugleich und ebenso sehr kommt es zu betörend sinnlichen Akkordbildungen mit hinzugefügten Sexten und Nonen, wie sie Olivier Messiaen geliebt hat. Und lässt die Kunst der Instrumentation, zum Beispiel die Einbindung der tiefen Blechbläser in einen vielfach geteilten, sirrenden Streicherklang, an Richard Strauss denken.

So verbindet sich in «Glut» das starke Eigene des Komponisten Dieter Ammann mit der weiten Welt dessen, was den Komponisten (und somit uns) musikalisch umgibt – ohne dass aus den Anklängen eine Ideologie gemacht würde. Die unverkrampfte, geradezu spielerische Freiheit im Umgang mit bestehendem musikalischem Material und dessen Integration in die individuelle Handschrift, das erscheint als das eigentlich Zeitgemässe an diesem nur eine Viertelstunde dauernden, äusserst ereignisreichen Werk. Dass es der ebenso temperamentvolle wie in diesem Repertoire besonders erfahrene Dirigent Markus Stenz zusammen mit dem hochgradig engagierten Tonhalle-Orchester Zürich so plastisch zu formen verstand, dass er es in so kraftvoller Gestaltung Klang werden liess, sicherte der Uraufführung ihre Wirkung.

Danach gab es in einem mutigen Akt der Programmgestaltung das selten gespielte, unvollendet zurückgelassene Bratschenkonzert von Béla Bartók mit dem grossartigen Solisten Nils Mönkemeyer und eine sehr persönliche, kräftig zugreifende, in der Tempogestaltung attraktive Auslegung der zweiten Sinfonie, C-dur, von Robert Schumann. Wie sehr sich das Zürcher Orchester an einer starken und darum fordernden interpretatorischen Handschrift zu entzünden vermag, ist in der jüngeren Vergangenheit etwas in Vergessenheit geraten. Hier war es wieder einmal zu erleben.