Bernard Haitink und das Requiem von Brahms

 

Peter Hagmann

Wenn die Zeit zu Ende ist

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit seinem heimlichen Hauptdirigenten

 

Sonder Zahl sind die musikalischen Höhepunkte, die der Dirigent Bernard Haitink mit dem Tonhalle-Orchester Zürich geschaffen hat. Zumal seit der Jahrtausendwende, seit er einigermassen regelmässig ans Zürcher Pult tritt. Unvergesslich etwa die Reihe der Sinfonien Bruckners, die Sechste Anfang 2003, die Achte im Frühjahr 2007, die Neunte von 2010. Oder jene der Sinfonien Mahlers von der Fünften 2002 bis zur denkwürdigen Aufführung der Neunten im Mai 2014. Das waren jeweils, und durchwegs, Konzerte der Sonderklasse. Nämlich Weltklasse.

Grund dafür ist auch, dass das Tonhalle-Orchester, wenn Bernard Haitink erscheint, sogleich ein anderes wird. Das ist so, seit ich es erlebe. Vor einem Vierteljahrhundert war es so, als das Orchester in schwerer Depression darniederlag, in dem Augenblick aber, da Haitink für Mahlers Erste den Taktstock hob, sich wie ein Phoenix aus der Asche erhob. Heute gilt es erst recht. Nichts von jener klanglichen Grobheit, die nach dem Abschluss der Ära Zinman um sich griff, ist zu hören, wenn Haitink das Zepter führt – im Gegenteil: Warm klingt das Orchester, wie es seine Natur und seine Tradition ist; mächtig, aber nie schmerzhaft im Fortissimo, sensibel abgestuft bis hin zum zart schimmernden Pianissimo der Ersten Geigen. Oft ist die Rede vom Identitätsverlust der Orchester im Zeichen der Globalisierung; das mag ja sein. Dass aber jeder Dirigent von Format seinen ganz eigenen Klang erzeugt, sei das bei welchem Orchester auch immer, bei Bernard Haitink ist es offenkundig.

Schwarze Trauer, tröstliche Zuversicht

Auch der jüngste Auftritt Haitinks in Zürich, eine drei Mal gebotene Aufführung des «Deutschen Requiems» von Johannes Brahms, stand in diesem Zeichen. Haitink nutzte den Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt, zu einer ganz und gar dunklen, in den Grabes-Tiefen der Bässe ruhenden Wiedergabe. Unterstrichen wurde diese Tiefe durch die Mitwirkung des Kontrafagotts und der Orgel. Beide Instrumente hat Brahms «ad libitum» vorgesehen; sie können verwendet werden, müssen es aber nicht. Haitink setzte sie ein, und er liess damit erleben, wie sie, der Pauke vergleichbar, das Geschehen von Fall zu Fall unterstreichen – was zu ebenso hinreissenden wie sinnfälligen Wirkungen führte.

Äusserst leise und in herrlich ausgesungenem Legato erhebt sich der Anfang aus dem tiefen F heraus, und weil die Bratschen mit ihrer kernigen Mittellage zunächst die höchste Stimme bilden, wirkt der Chor bei seinem ersten Einsatz vergleichsweise hell. Es ist in dieser Aufführung die Zürcher Sing-Akademie, die in ihrer erweiterten Besetzung als grosser Bürgerchor angetreten ist. Während in Chören solcher Art die Alt- und die Tenorstimmen gerne Probleme bereiten, ist es hier gerade umgekehrt: strahlend der Tenor, leuchtend der Alt, der Sopran dagegen etwas im Schatten und nicht immer sicher, der Bass immerhin solide. An eine Professionalität, wie sie sich im Orchester von selbst versteht, ist die Sing-Akademie noch nie herangekommen, da war ihr der von Fritz Näf geleitete Schweizer Kammerchor um Welten voraus. Im Rahmen des Möglichen hat Tim Brown, der seine Aufgabe als Chorleiter jetzt unter einigen Misstönen niederlegt, hier jedoch ein Optimum erreicht.

Jedenfalls macht das ausgesprochen langsame Tempo, das Haitink im ersten Satz anschlägt, niemandem Schwierigkeiten. Es erlaubt dem Dirigenten, den Gegensatz zwischen schwarzer Trauer und tröstlicher Zuversicht, der sich hier erstmals anzeigt, das Werk aber insgesamt prägt, plastisch herauszuarbeiten. Den von zukünftigen Freuden kündenden Mittelteil nimmt er eine Spur schneller, um bei der Reprise des Anfangs mit Nachdruck in die ursprüngliche Gemessenheit zurückzufinden. Grossartig, wie sich der Kontrast zwischen Schmerz und Hoffnung dann im zweiten Satz zeigt: im Gewand eines Trauermarsches, eines heftigen «Memento mori» und eines fast trotzigen Blicks auf den Kreislauf der Natur.

Und dann: Christian Gerhaher, Bariton. Er streut Salz in die Wunden. Und das mit einem Auftritt, der aus der Sprache lebt und den Text in beinah szenisches Licht stellt. Er tut es mit seiner unglaublich prägnanten Diktion, die auf hellen Vokalen basiert, und mit der Vielfalt der Töne, die bei aller Schönheit seines Timbres auch das Aschfahle einschliesst. So macht er unmissverständlich bewusst, worum es hier geht: um Endlichkeit und Tod. Dass jedes Leben ein Ziel hat und jeder, wie es der Text fünf Mal ausspricht, «davon muss» – Gerhaher stellt diesen Satzteil mit einer Drastik heraus, dass es einem kalt wird. Er kann es, weil ihm Haitink, der zuhört wie kein Zweiter, das Feld dafür bereitet.

Grundlegend anders Camilla Tilling. Die schwedische Sopranistin gestaltet ihren kurzen Part ganz aus der vokalen Linie heraus: mit einer schlanken, trotz der heiklen Lage wunderbar leuchtenden Höhe, mit geschmeidigem Legato und konsequenter Verschmelzung der sprachlichen Formanten. In diesem Moment scheint etwas nach oben zu schweben, ein Engel vielleicht. Da ist er wieder, der Kontrast, aus dem das Werk seine Spannung gewinnt. Und für einen Augenblick scheint der Trost die Oberhand gewonnen zu haben.

Es kommt aber bald wieder heftig; die Posaune erschallt, und die Toten erheben sich aus den Gräbern. Da findet die Aufführung zu einer Intensität, wie sie sich eindringlicher kaum denken lässt. Sie hat sich schon einmal angedeutet: über dem gewaltigen Orgelpunkt am Ende des dritten Satzes, in dessen unglaublichem Zug das Orchester förmlich in Trance geraten ist. Im sechsten Satz kommt dieses Vibrierende nun zu voller Ausformung. Viel macht Bernard Haitink nicht, seine Zeichengebung skizziert bloss, es ist allein das Charisma, das hier wirkt, und vielleicht die einzigartige Identifikation des stumm gestaltenden Dirigenten mit dem Komponisten. Das Tonhalle-Orchester klingt, als spiele es stehend, und zieht den Chor mit, Christian Gerhaher blickt immer wieder fast ungläubig zum Dirigenten empor, Camilla Tilling beginnt den Kopf zu wiegen – und kann dann nicht mehr anders als ganz leis in den Chor einzustimmen. Das lässt sich nicht beschreiben, man muss es gesehen, man muss es gehört haben. Am Ende, nach dem in leiser Feierlichkeit verklingenden siebten Satz, ein unglaublicher Moment der Stille. Dann Stehapplaus und verstohlenes Augenwischen, hüben wie drüben.

Weite des Horizonts

Vielleicht gelingt ein solcher Moment nur einem ganz alten Menschen – einem, der schon etwas losgelassen hat und sich dem Glück des noch einmal geschenkten Augenblicks hingibt. Jedenfalls war es die reine Liebe, die hier sprach: die Liebe zu einer Kunst und zu den Menschen, die sie weitertragen. Stilistisch stand diese Aufführung für eine romantische Tradition, die längst entschwunden schien, ersetzt durch ein neues, von verschlanktem Ton, flüssigeren Zeitmassen und verdeutlichter Artikulation geprägtes Brahms-Bild. Die Abende in der Tonhalle Zürich liessen dieses Romantische noch einmal auferstehen: in exzellenter Ausformung, in bezwingender Authentizität und damit gültig.

Das heisst nicht, dass Bernard Haitink ein Traditionalist wäre. Seines hohen Lebensalters zum Trotz nimmt er die Bewegungen in seinem musikalischen Umfeld wahr, lässt er sich anregen und macht er sich zu eigen, was ihm gelegen kommt. Sein Beethoven-Bild etwa hat in jüngerer Vergangenheit eine beträchtliche Wandlung erlebt – angeregt durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis und durch deren Weiterungen auf den Konzertpodien. In aller Eindrücklichkeit war das beim Lucerne Festival zu erfahren, wo er die Sinfonien Beethovens mit dem Chamber Orchestra of Europe in ihrer Gesamtheit auslegt hat. Zu hören war es auch beim Tonhalle-Orchester Zürich, mit dem er eine Woche vor dem Brahms-Requiem das Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll und die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, die «Eroica», dirigiert hat. Bei beiden Werken war das Orchester klein besetzt und herrschte griffiges Musizieren – auch wenn der Solist Igor Levit im Largo des Klavierkonzerts ein sehr langsames, allerdings erfüllt langsames Tempo anschlug. Glücklich, wer diese Konzerte gehört hat.

Tage für Neue Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Klarheit in der Vielfalt

Das Tonhalle-Orchester Zürich erstmals mit Sylvain Cambreling

 

Schreiben sie sich jetzt mit grossem oder mit kleinem «N», die Tage für Neue Musik Zürich? Einmal und meist mit grossem, ein anderes Mal mit kleinem – und das hat durchaus seinen Hintersinn. Erinnert das grosse «N» im Adjektiv doch an jene nun schon weit zurückliegende Zeit, da sich die Neue Musik mit aller Emphase als unerhört, als Beitrag zur Weiterentwicklung des Materials, somit im weitesten Sinn als Fortschritt verstand. Während das kleine «n», das heute und im Zeichen des «anything goes» üblich geworden ist, bescheidener auf irgendeine Art Gegenwärtigkeit verweist.

Beides gehört zu dem von der Stadt Zürich jeden Herbst durchgeführte – und grosszügig durchgeführte – Festival. Auf der einen Seite nämlich, so scheint es, nehmen die Tage für Neue Musik Zürich durchaus in Anspruch, zeigen zu wollen, dass die Tonkunst keineswegs so stehenbleibt, wie es das Abonnementskonzert suggeriert, dass sie sich vielmehr laufend und produktiv verändert. Auf der anderen möchte aber auch dieses Kurzfestival, und das ist legitim, reine Information bieten über das, was sich in der Szene tut.

Das Kuratorenmodell

Ihre Ziele verfolgen die Tage für Neue Musik Zürich in ausgesprochen persönlicher Weise. Jedes Festival im Bereich der Gegenwartsmusik wird von einer Handschrift geprägt, die sich in der Programmgestaltung verwirklicht. Die Donaueschinger Musiktage trugen lange Zeit die Signatur von Armin Köhler, der letztes Jahr viel zu früh einer Krebserkrankung erlegen ist, bei Wien Modern wirkte im Hintergrund der überaus kenntnisreiche und stilsichere Lothar Knessl und wird im nächsten Jahr der in Österreich lebende Schweizer Bernhard Günther das Zepter übernehmen, bei der Strassburger Musica bestimmt seit langem Jean-Dominique Marco den Kurs. In solcher Konstellation entwickelt sich die Handschrift über längere Zeiträume, sie verändert sich im besten Fall, im schlechteren versteinert sie.

Bei den Tagen für Neue Musik Zürich ist das grundsätzlich anders. 1986 von den beiden Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag ins Leben gerufen und 1994 ins Dossier von René Karlen aus der Präsidialabteilung der Stadt Zürich übergeführt, trug das Festival lange den Stempel der Gründer. Seit einiger Zeit wird es nun aber von jährlich wechselnden Kuratoren geleitet. Das führt zu raschen Beleuchtungswechseln, zu erhöhter Agilität und letztlich vielleicht doch einer breiteren Wahrnehmung der Geschehnisse. Jeder Kurator hat seinen ganz persönlichen Blick, das bringt Einengung mit sich und zugleich, in der Abfolge der Kuratoren, Erweiterung.

Diesen Herbst war die Reihe an Bettina Skrypczak, der seit langem in der Schweiz lebenden Komponistin aus Polen. «Heureka!» überschrieb sie ihr vier Tage umfassendes Programm – als ob sie hätte anzeigen wollen, was die Neue oder die neue Musik ausmache. Fehlanzeige; gerade das Gegenteil war der Fall. Ihr Programm liess vielmehr aufscheinen, mit welcher Vielfalt der Erscheinungsformen der Begriff der «neuen Musik» heute verbunden ist. Die ehemalige Avantgarde von Karlheinz Stockhausens «Gesang der Jünglinge» kam ebenso zu Wort wie das Unterfangen des «Stone Orchestra», das den Klang von Natursteinen in die Szene einzubringen sucht.

Besonders packend verwirklichte sich der Ansatz der Kuratorin dieses Jahres in jenem Konzert, mit dem sich das Tonhalle-Orchester Zürich an den Tagen für Neue Musik beteiligte. Programme, die so schlüssig gebaut sind und so anregend wirken, wie es an diesem Abend der Fall war, sind Raritäten, die man nicht hoch genug schätzen kann. Und die Selbstverständlichkeit, mit der hier Musik unserer Zeit als Ausdruck von Geschichte wie von Gegenwart dargebracht wurde, hatte etwas Bezwingendes. Zu verdanken war das dem Dirigenten Sylvain Cambreling, einem Interpreten, der im Spezialgebiet der neuen Musik genauso profiliert wirkt wie im Bereich des klassisch-romantischen Repertoires. Und der hier zum ersten, aber hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Zürcher Orchesters trat.

Freiheit und Kontrolle

Zwei Stücke in der Besetzung des Tripelkonzerts bildeten sozusagen einen langen ersten Teil des Abends; und zwei Werke, in denen das Erklingende nicht ausschliesslich auf schriftlicher Fixierung basiert, die Klammer. In dieses dramaturgisch konzis gebaute Programm mischten sich Töne denkbar unterschiedlichster Herkunft. Eröffnet wurde der Abend durch die Uraufführung von «No Alarming Interstice» des Genfers Jacques Demierre – wobei das schon eine halbe Fehlinformation darstellt. Demierre ist Pianist und wirkt zusammen mit dem Luzerner Saxophonisten Urs Leimgruber und dem aus San Francisco stammenden Kontrabassisten Barre Phillips in einem Trio, das seine Musik aus der Improvisation heraus entwickelt. Und das sich hier mit einem Klangkörper zusammengetan hat, der mit notierter Musik zu arbeiten gewohnt ist. Was das im Einzelnen bedeutet, war im Zuhören nicht direkt zu fassen. Das Stück, im Rahmen des Projekts «œuvres suisses» entstanden, wartete mit einer Fülle an disparaten Entwicklungen auf, an denen das Orchester auch mit Geräuschklängen  Anteil nahm. Im Endergebnis präsentierte sich da eine rüde, aufgeladene Klangwelt, wie sie in gewissen Sektoren der neuen Musik zum guten Ton gehört.

Welchen Gegensatz bot da Wolfgang Rihm mit seinem 2014 in Berlin uraufgeführten, vom Tonhalle-Orchester mitbestellten «Trio Concerto» für Klaviertrio und Orchester, also die von Beethoven her bekannte Tripelkonzert-Besetzung. Rihm hat alle Zwänge der avantgardistischen Masken hinter sich gelassen; er komponiert, wozu er Lust hat und was ihm einfällt – aber jenseits jeder Beliebigkeit: kreatürlich und zugleich bewusst entwickelnd. In seinem Tripelkonzert geht er diesbezüglich besonders weit. Das Trio Jean Paul mit Ulf Schneider (Violine), Martin Löhr (Violoncello) und Eckart Heiligers (Klavier) sowie das Tonhalle-Orchester Zürich verbreiteten ein hohes Mass an Sinnlichkeit: in Kantilenen, innerhalb deren dichte Bezüge hörbar werden – etwa dort, wo Gesten vom einen Instrument ans andere weitergegeben und dann verwandelt werden. Vor tonalem Wohlklang schreckt der Komponist keineswegs zurück, ja er spricht sogar offen von seiner Liebe zur Musik Gabriel Faurés. Die neue Musik nicht als Unerhörtes, sondern als Teil, Fortsetzung und Erweiterung des Gewesenen.

Ähnlich hat der grosse, leider viel zu selten gespielte Pole Witold Lutoslawski gedacht: streng in seinen handwerklichen Kriterien, frei in seinen Vorstellungen von Klangentwicklung. In «Livre pour orchestre» von 1968 setzt er ein wenig nach der Art eines Rondos den kontrollierten Zufall ein. Zwischen vier Hauptteile schieben sich Intermedien, bei denen sich die Orchestermitglieder im Rahmen gewisser Vorgaben nach eigenem Gutdünken entfalten können. Dem Tonhalle-Orchester Zürich hat das einen ungeheuren Energieschub verliehen; präsent, lustvoll und mit Verve nahmen sich die Musikerinnen und Musiker des Stücks an und brachten es unter der so präzisen wie motivierenden Leitung von Sylvain Cambreling zu einer eine absolut bezwingenden – mehr noch: zu einer restlos begeisternden Deutung. Ob das nun Neue oder neue Musik sei oder vielleicht gar nichts von beidem, durfte da getrost offen bleiben.

Jörg Widmann in Zürich

 

Peter Hagmann

Spiegelungen und Brechungen

Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Als Klarinettist ist er so gut wie unüberbietbar. Innigst ist Jörg Widmann mit seinem Instrument verbunden, es ist sozusagen Teil von ihm. Wenn er zum Beispiel, was er immer wieder tut, die Zirkuläratmung einsetzt, wenn er also einatmet, ohne dabei sein Spiel zu unterbrechen, sieht man ihm rein gar nichts an: keine aufgeblasenen Backen, kein roter Kopf, keine Zuckung – es scheint ihm selbstverständlich von der Hand zu gehen. Im (allerdings nicht sehr breiten) Repertoire klassisch-romantischen Zuschnitts gelingen ihm immer wieder Momente von grossartiger Eindrücklichkeit; Stücke wie das Klarinettenkonzert oder das Klarinettenquintett von Mozart erfahren in der Schönheit seines Tons, in der Weite seines Atems, in der natürlichen Souveränität seines Gestaltens eine interpretatorische Vertiefung, wie sie ihresgleichen sucht. Kein Wunder, gehört er zu den allseits gefragten, dementsprechend vielbeschäftigten Musikern dieser Tage.

Einer zum Anfassen

Und vielleicht auch kein Wunder, dass sich Jörg Widmann auch als Komponist profiliert. Sein Werkverzeichnis hat schon ansehnliche Dimension erreicht und umfasst viele Gattungen: Kammermusik, Orchesterwerke, aber auch die 2012 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführte Oper «Babylon» auf ein Libretto von Peter Sloterdijk. Sein Schaffen, zum Teil von ihm selbst vorgestellt, lässt sich jetzt kennenlernen beim Tonhalle-Orchester Zürich; es hat den 42-jährigen Münchner für diese Saison auf den «Creative Chair» gerufen – in die vor einem Jahr neu geschaffene Funktion für einen Musiker, der das Orchester eine Spielzeit lang als Komponist und Interpret zugleich begleitet. Ein intensiver Austausch wird da in Gang gesetzt, von dem alle Seiten profitiieren. Publikum wie Orchester können einen Musiker näher kennenlernen – als Interpreten in seinen Spielweisen, als Komponisten in seinem ästhetischen Horizont (wovon übrigens auch die Studierenden an der Zürcher Musikhochschule profitieren). Der Gast wiederum kann sich in eine Umgebung einleben, wie es ihm sonst, im Rahmen der Konzertreisen mit ihren Kurzaufenthalten, nicht möglich wäre.

Einer zum Anfassen wird da also präsentiert. Es ist freilich mit der Schwierigkeit verbunden, dass es ein Musiker von heute ist, während das, was heute komponiert wird, nicht von jedermann geschätzt wird. Ilona Schmiel, die Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich, hat diesbezüglich ein eigenes Fingerspitzengefühl entwickelt. Sie hat mit dem ganz und gar neuen, hochinteressanten Konzept des «Creative Chair» ein Format geschaffen, das Musik dieser Tage mit einem über längere Phasen anwesenden, seine Kunst persönlich vermittelnden Menschen verbindet. Zugleich ist sie stilistisch geschickt, nämlich vorsichtig vorgegangen; sie hat nicht gleich auf Heinz Holliger gesetzt, dessen Vermögen als Oboist höchsten Massstäben genügt, dessen Musik aber besonders offene Ohren verlangt. Nein, sie hat Künstler in den Blick genommen, welche die Avantgarde in gewisser Weise hinter sich gelassen haben. In der ersten Saison ihres Wirkens in Zürich war Esa-Pekka Salonen zu Gast, der als amerikanisch geprägter Finne eine in ihrer Weise zugängliche, weil ästhetisch offene, gleichwohl aber klar heutige Musik vertritt.

Und nun eben Jörg Widmann. Bei ihm fängt es damit an, dass er sein Instrument mit verspielter Neugierde oder neugieriger Verspieltheit erkundet – das Hohe wie das Tiefe, das Laute wie das Leise, das Reine wie das geräuschhaft Angereicherte. Wie das vor sich geht, war an einem Kammermusikabend im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich zu verfolgen. Widmann trug seine Fantasie für Klarinette solo von 1993 vor, die den Zuhörer im Rahmen von kaum zehn Minuten auf einen anregenden Spaziergang durch die Klangwelt des Instruments mitnimmt. Eine Fingerübung, vielleicht; eine Harmlosigkeit, mag sein. Aber doch ein Moment attraktiven Erlebens; mucksmäuschenstill war es im Saal, hie und da wurde geschmunzelt, bisweilen gar gelacht – was könnte Besseres geschehen?

Wie Salonen pflegt auch Widmann, das mag sich bei einem Musiker seiner Generation von selbst verstehen, einen entspannten Umgang mit der Avantgarde und ihren gewiss ausser Kraft gesetzten, in den Hinterköpfen jedoch nach wie vor wirksamen Normen. Mehr als am Willen zur Erneuerung des Materials, mithin dem Gedanken an einen wie auch immer gearteten Fortschritt, nährt sich sein Komponieren sich an dem, was ihn als Interpreten umgibt. Beim Lucerne Festival zum Beispiel hat das Collegium Novum Zürich im Sommer 2009 Widmanns Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass vorgestellt, das sich in Besetzung und Tonfall hörbar an dem für dieselbe Besetzung geschriebenen Werk Franz Schuberts orientiert. Gleiches geschah in besagtem Kammermusikabend in Zürich; Bezugspunkt war dort Robert Schumann.

«Im Märchenton»

Zusammen mit dem bei Schumann klanglich etwas groben Pianisten Dénes Várjon spielte Widmann die «Fantasiestücke» op. 73 in der Fassung für Klarinette und Klavier, nachdem er zuvor, unter Mitwirkung der Bratscherin Tabea Zimmermann, die «Märchenerzählungen» op. 132 für Klarinette, Viola und Klavier gegeben hatte. Als Reflex darauf folgte die Uraufführung eines vom Tonhalle-Orchester bestellten Werks für die gleiche Besetzung. Unter dem Titel «Es war einmal…» und, wie der Untertitel suggeriert, «im Märchenton» schliesst Widmanns Trio von 2015 klar an die Musik Schumanns an. Es nimmt teils ganze Passagen, teils charakteristische Gesten auf, lässt die Strukturen dann aber zerfallen, führt sie in die Phantasie und die Handschrift Widmanns über, um sie bisweilen auch wieder zusammenzufügen – äusserst anregende Verläufe ergeben sich da.

Die charakteristischen, euphorischen Sprünge Schumanns eröffnen das fünfteilige Stück. Bald jedoch verfremden sich die Klänge, sie werden nicht nur durch Dissonanzen angereicht, sondern auch farblich verändert, nehmen Züge orientalischer Welt an oder denaturieren sich zu gläsern erstarrten Mehrfachklängen. Widmann ist kein Strukturdenker wie Brian Ferneyhough, er bewegt sich auch nicht an den Rändern des Klangs wie Helmut Lachenmann, in seiner Lust an der Wahrnehmung seiner musikalischen Umgebung und in seiner fast unersättlichen Art von deren Verarbeitung gleicht er eher Wolfgang Rihm. Mit ihm teilt er auch die überquellende Phantasie, die wohlstrukturierte Spontaneität und die Zugänglichkeit, die keinerlei Anbiederung braucht. Nicht zuletzt lebte diese Uraufführung freilich von der Höhe der Interpretation. Wie weit Jörg Widmann im Leisewerden der Klarinette gehen kann und wie stolz sein Klang aus den Tiefen des Instruments nach oben steigt, ist ebenso hinreissend wie die gestalterische Intensität und die klangliche Präsenz der Bratscherin Tabea Zimmermann, aber auch das sagenhafte manuelle Vermögen und die Reaktionsschnelligkeit des Pianisten Dénes Várjon. Im «Kegelstatt-Trio» KV 498 von Wolfgang Amadeus Mozart führte das zum interpretatorischen Höhepunkt des Abends.

Stirbt das Konzert?

 

Peter Hagmann

Neue Orte, frisches Leben

Konzertsaalneubauten, wohin man blickt

 

Nun steht für München, wo die Situation diesbezüglich einigermassen verworren ist, vielleicht doch ein neuer Konzertsaal am Horizont – und das wäre tatsächlich das gute Ding, das Weile haben wollte. Das brillante Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fühlt sich nicht wohl im Herkulessaal, sein Chefdirigent Mariss Janons hat die stattliche Summe von 250’000 Euro, die ihm der Siemens-Musikpreis 2013 eingebracht hat, für die Suche nach einem neuen Saal zur Verfügung gestellt. Der Gasteig andererseits, in dem die Münchner Philharmoniker und ihr nicht ganz unumstrittener Chefdirigent Valery Gergiev residieren, verfügt über eine miserable Akustik. Vielfältig sind die Vorstellungen, wie München zu einem neuen, dem Image als Musikstadt entsprechenden Konzertsaal kommen könnte, die Frage der Finanzierung liess bis jetzt jedoch alle Initiativen im Sand verlaufen. Mitte Februar dieses Jahres folgte dann ein Befreiungsschlag, indem der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter mitteilten, es werde ganz einfach keinen neuen Saal geben. Vielmehr soll der Gasteig ab 2020 modifiziert und optimiert werden.

Und nun das. Die Idee nämlich, die der auch als Veranstalter aktive Bariton Thomas E. Bauer und der Architekt Peter Haimerl entwickelt haben. Und über die der Bayerische Rundfunk in seinem Klassik-Programm am 19. Oktober 2015 sachlich, aber mit spürbarer Euphorie berichtet hat. Aus einem stillgelegten, unter Denkmalschutz stehenden Heizkraftwerk im Westen der Stadt soll, so die Vorstellung der beiden Initianten, ein ebenso trendiger wie hochstehender Konzertsaal werden. Die Dimension des Gebäudes sei geradezu ideal für einen grossen Konzertsaal; für einen Kammermusiksaal sowie Nebenräumlichkeiten wie Garderoben, Foyer und Café soll dem alten Haus ein Neubau an die Seite gestellt werden. Hinter dem Projekt steht die Mineralölfirma Allguth aus München, die das Heizkraftwerk besitzt. Sie will das alte Haus für geschätzte 100 Millionen Euro umbauen und dann vermieten – zum Beispiel an die Münchner Philharmoniker, die einen Interimsstandort für die Zeit der Bauarbeiten im Gasteig suchen. Wie sich der Betrieb im einzelnen gestalten wird, ist noch nicht konkretisiert. Der Wille ist aber eindrücklich firm.

Eine Cité de la Musique für Genf

Es ist privates Engagement, das sich hier verwirklicht. Die Initianten sind der Meinung, dass es in München nicht nur Bedarf für einen weiteren Konzertsaal gebe, sondern mehr noch: dass Investitionen in Kultur zum Werthaltigsten gehörten. Auch in Genf regt sich private Initiative zur Errichtung eines neuen Konzertsaals – wo das Orchestre de la Suisse Romande doch in der Victoria Hall einen dem 19. Jahrhundert verpflichteten, sehr ansprechenden Saal bespielt. Grund für das Vorhaben sind strukturelle und räumliche Bedürfnisse, vor allem aber die Tatsache, dass ein anonymer Gönner, so die Tageszeitung «Le Temps», die Summe von nicht weniger als 270 Millionen Franken für ein Musikzentrum in Genf zur Verfügung gestellt habe.

So sollen denn, vermutlich auf einem Gelände neben dem Genfer Sitz der Uno, ein neuer Sitz für die Musikhochschule, ein Konzertsaal für 1700 Zuhörer sowie zwei kleinere Säle mit 400 beziehungsweise 200 Plätzen gebaut würden – nicht zu vergessen das Café, das die neue Cité de la Musique de Genève auch zu einem Ort für flanierende Besucher machen soll. Bereits gibt es auch einen Zeitplan; er sieht die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs 2016, den Spatenstich 2018 und 2020 Mahlers Achte mit dem Orchestre de la Suisse Romande und seinem dann amtierenden Chefdirigenten Jonathan Nott zur Eröffnung vor.

Erweiterungen in Zürich und Basel

Dabei wird das Genfer Orchester, das 2018 das Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens feiern kann, sehr bequem an seinem bestehenden Sitz arbeiten, bis an den neuen Ort umziehen kann. Das wird weder in Zürich noch in Basel so sein. In beiden Städten sind für die kommenden Jahre Bauarbeiten rund um die bestehenden, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Sälen vorgesehen. Wie in München ist in Zürich die Einrichtung eines neuen, hier allerdings (wohl) temporären Konzertsaals an einem ungewöhnlichen Ort vorgesehen: Das Tonhalle-Orchester Zürich soll, wenn die für 2016 vorgesehene Volksabstimmung glücklich verläuft, in den drei Spielzeiten 2017/18 bis 2019/20 in der bisher vorab für Musicals verwendete Maag-Halle im Westen der Stadt auftreten – in nächster Nachbarschaft zum neuen Sitz der Musikhochschule Zürich. Während dieser Zeit wird der Grosse Saal der Tonhalle Zürich renoviert und, wie es derzeit aussieht, in seiner farblichen Erscheinungsform aus dem Eröffnungsjahr 1895 wiederhergestellt. Erweitert wird zudem der Backstage-Bereich. Dies im Zusammenhang mit der Sanierung des Kongresshauses Zürich, einem von der Stadt getragen Vorhaben in der Grössenordnung von 167 Millionen Franken.

Auch das Sinfonieorchester Basel muss umziehen. Zwischen Mitte 2016 und 2019 wird es im Musical-Theater bei der Basler Mustermesse auftreten, weil in diesen drei Jahren das Stadtcasino Basel mit seinem exzellenten Musiksaal von 1876 ebenfalls saniert und erweitert wird. Auf gut 77 Millionen Franken wird das Projekt zu stehen kommen; knapp die Hälfte davon übernimmt der Kanton Basel-Stadt, für die andere Hälfte kommt die Casino-Gesellschaft im Verein mit privaten Spendern auf. Anders als bei dem vor acht Jahren an der Urne gescheiterten Projekt von Zaha Hadid, das keine Rücksicht auf die gegebene architektonische Situation genommen hatte, sieht der Entwurf des Architekturbüros Herzog & de Meuron eine Lösung gleichsam in historischer Aufführungspraxis vor. Der Musiksaal und das ihm 1939 angebaute Stadtcasino sollen getrennt werden, indem ein zwischen den beiden Gebäuden liegender Eingangsbereich abgerissen wird. Dafür wird dem Musiksaal an seiner Rückseite ein neues, wesentlich grösseres Foyer angebaut, dessen äussere Erscheinung die Formensprache des bestehenden Gebäudes von Stehlin punktgenau weiterführt – eine Lösung, wie sie sich trefflicher nicht denken lässt.

Lugano et cetera

Auf einen Neubau von spektakulärer Wirkung setzt dagegen das neue Kulturzentrum LAC in Lugano, das diesen Herbst, gut fünfzehn Jahre nach ersten Ideen, eröffnet worden ist. Lugano Arte e Cultura, neben dem ehemaligen Hotel «Palace» gelegen, von Ivano Gianola entworfen und für 210 Millionen Franken errichtet, vereint unter einem Dach eine ganze Reihe von Institutionen, die autonom agieren und dafür von der öffentlichen Hand unterstützt werden – übrigens mit Beiträgen, die deutlich angehoben wurden. Da findet sich zum einen das institutionell neu aufgestellte Kunstmuseum von Stadt und Kanton, während zum anderen insgesamt drei Säle für Musik, Musiktheater und Schauspiel zum Besuch einladen. Nicht nur kommt im Konzertsaal mit seinen 1000 Plätzen das Orchestra della Svizzera italiana nun endlich eine Heimstätte, die ihm entspricht. Der Verein LuganoFestival, der in Lugano bisher in kürzere Stagiones zusammengefasste Konzerte veranstaltet hat, bietet nun ein auf die ganze Spielzeit ausgedehntes Programm – und hat darum seinen Namen in LuganoMusica geändert. Mit Etienne Reymond, der von der Tonhalle-Gesellschaft Zürich nach Lugano gewechselt hat, steht der neu konzipierten Konzerteinrichtung ein erstklassiger Fachmann vor. Nicht auszuschliessen, dass man in Zukunft auch der Musik wegen ins Tessin reisen kann.

Die Erzählung könnte noch munter weitergehen. Zu berichten wäre von der Salle de Musique in La Chaux-de-Fonds, die nicht nur der bloss knapp 38’000 Einwohner zählenden Stadt dient, sondern ihrer aussergewöhnlichen akustischen Qualitäten wegen europaweit bekannt ist. Der Konzertsaal, an den ein original erhaltenes Theater aus dem frühen 19. Jahrhundert anschliesst, ist im zurückliegenden Jahr renoviert und eben wieder eröffnet worden. Vor allem wäre der Blick aber nach Paris zu lenken, wo in der vergangenen Spielzeit nicht weniger als drei neue oder wieder hergestellte Konzertsäle eröffnet worden sind. Mit der Philharmonie von Jean Nouvel verfügt die Capitale jetzt endlich ein Konzerthaus, wie es einer Stadt von dieser Grösse und dieser Ausstrahlung ansteht; das Orchestre de Paris hat dort seinen neuen Sitz. Konkurrenz macht der Philharmonie die renovierte Salle Olivier Messiaen im Haus des französischen Rundfunks. In früheren Zeiten als Studio 104 in der Maison de la Radio zu legendärem Status gekommen, bietet das neue Auditorium dem Orchestre National de France und dem Orchestre philharmonique de Radio France ihre Heimstätten. Und schliesslich ist in der Fondation Louis Vuitton ein neuer Saal eröffnet worden, der ebenfalls für Konzerte, allerdings solche spezieller Art, genutzt wird.

Kein Schatz im Silbersee?

Über einen gemeinsamen Leisten schlagen lassen sich all diese Projekte nicht; die Gegebenheiten sind von Ort zu Ort verschieden. Feststellen lässt sich aber doch, dass nicht in einem derart erstaunlichen Ausmass gebaut würde, wenn es kein Interesse gäbe für das, wofür diese Bauten gedacht sind. Genau das wird jedoch seit geraumer Zeit noch und noch behauptet: dass das Konzert am Verschwinden sei, dass sein Publikum, der ominöse Silbersee, immer älter werde und statistischer Wahrscheinlichkeit gemäss an absehbarer Zeit ausgestorben sein werde. Mag sein, dass in den meisten Fällen neue Architektur neue Publikumskreise erschliesst, dass in einem solchen Fall ein positiver Saldo in der Besucherstatistik weniger auf die Musik und ihre Darbietung als auf das Ambiente zurückgeht. Das KKL Luzern, als architektonische Ikone inzwischen weltbekannt und vielerorts schon kopiert, liefert den besten Beweis für diese Behauptung; ohne Zweifel hat da die Hülle dem Inhalt Auftrieb verliehen. Mit gleichem Recht lässt sich aber auch das Gegenteil behaupten; dank dem neuen Haus haben Institutionen wie das Lucerne Festival oder das Luzerner Sinfonieorchester in einer Weise weiterentwickelt werden können, wie sie vordem nicht denkbar gewesen wäre. Form und Inhalt sind da in eine ausgesprochen kreative Dialektik geraten.

Ravel aus der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Vorboten

Die beiden Klavierkonzerte Ravels
mit Yuja Wang und Lionel Bringuier

 

Obwohl das Englische mehr und mehr dominiert, gibt es in Zürich doch noch immer diese heimliche Sehnsucht nach Paris, nach der Grossstadt aus der anderen, der französischen Kultur. Auch im Musikalischen. In den späten achtziger Jahren, Chefdirigent war damals der wenig glückliche Hirsohi Wakasugi, holte sich das Tonhalle-Orchester Zürich Michael Plasson als Ersten Gastdirigenten, um sich unter seiner Anleitung etwas von der deutschen Tradition zu lösen und den französischen Duft zu erkunden. Viel wurde daraus nicht, Plasson sah in diesem Engagement seinerseits die Möglichkeit, deutsches Repertoire mit einem Orchester deutscher Tradition zu pflegen.

Auf nach Frankreich

Inzwischen ist es zu einem neuen Anlauf in dieser Richtung gekommen – und das weitaus entschiedener. Lionel Bringuier, der neue, junge Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürichs und Nachfolger David Zinmans, ist zwar auch in Nordamerika verankert: beim Los Angeles Philharmonic, wo er unter der Anleitung von Esa-Pekka Salonen und Gustavo Dudamel sein Handwerk perfektioniert hat. Von der Herkunft her ist Bringuier jedoch klar ein Vertreter der französischen Schule. Aus Nizza stammend, hat sich der heute 29-jährige Dirigent am Conservatoire National Supérieur in Paris ausbilden lassen, auch am Cello und am Klavier. Sein Auftritt beim Tonhalle-Orchester Zürich hat geradezu einen Schock ausgelöst – nicht nur seines jugendlichen Alters wegen. Das Orchester klang auch mit einem Mal ganz anders als zuvor.

Nicht französisch hell, sondern – laut, amerikanisch laut. Es war, wie wenn die Musiker losgelassen worden wären, nachdem sie mit Zinman, einem Amerikaner genuin europäischer Denkart, zwei Jahrzehnte lang einen eleganten, gezügelten und optimal auf den Saal abgestimmten Klang gepflegt hatten. Im allgemeinen wurde das als Zeichen des jugendlich frischen Zugangs gesehen; da und dort wurde gar darauf hingewiesen, dass der Tonhalle-Saal für gewisse gross besetzte Stücke zu klein dimensioniert sei. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, welche die grobe Lautstärke als künstlerischen Mangel empfinden. Tatsächlich gehörte es zu den ersten Aufgaben eines Interpreten, seine Darbietungen auf die räumlichen Gegebenheiten abzustimmen. Das weiss der Dirigent, der mit seinem Orchester auf Reisen geht, so gut wie der Organist mit seinen halligen Kirchen.

Bei den ersten Zürcher Konzerten Bringuiers in der Saison 2014/15 liess sich die Diskrepanz zwischen dem im Grossen Saal der Tonhalle Zürich Zuträglichen und dem vom Orchester Gebotenen durch die geringen Erfahrung des jungen Chefdirigenten entschuldigen. Inzwischen ist ein Jahr vergangen, doch die Mängel in der Kontrolle der Dynamik sind geblieben. Zur Eröffnung der Saison 2015/16, seiner zweiten in Zürich, dirigierte Lionel Bringuier Alexander Skrjabins «Poème de l’extase» – und liess das Orchester wieder Phonstärken erreichen, die zum Ohrenzuhalten waren. Die Partitur verlangt eine grosse Besetzung, es sucht die Überwaltigung durch die Masse der Mittel. Zugleich kennt es aber auch wellenförmige Steigerungsverläufe, die dem Stück mächtigen Zug verleihen. Davon war in dieser Zürcher Aufführung wenig zu hören.

Ähnliche Eindrücke hinterliess Bringuiers Beschäftigung mit Maurice Ravel – und das ist schon erheblicher. Denn Ravel ist vom Tonhalle-Orchester zum Schwerpunkt ausgerufen worden, auch im Bereich der CD-Aufnahmen und dort bewusst als Kontrast zur Ära Zinman, die in diesem Bereich den Akzent auf deutsch-österreichisches Repertoire gelegt hat. So sollen alle Orchesterwerke Ravels auf CD erscheinen – nicht mehr wie vordem auf dem Label RCA, sondern bei der Deutschen Grammophon. Als Vorbote zur grossen Box ist jetzt schon einmal eine CD mit den beiden Klavierkonzerten Ravels erschienen (Deutsche Grammophon 4794954). Und leider bestätigt sie in ihrer Weise die Befunde aus dem Konzertsaal.

Der problematische Umgang mit den dynamischen Werten, wie er in den Konzerten beim «Boléro» oder bei der Ballettmusik «Daphnis et Chloé» so ausgeprägt zutage getreten ist, spiegelt sich in diesen Aufnahmen. Reichlich handfest, ausgesprochen sportlich und sehr kräftig in der Zeichnung wird da musiziert. Gerade die grossen Steigerungen, wie sie etwa der dritte Teil des D-dur-Konzerts für die linke Hand bereithält, leiden daran, dass das Pulver zu rasch verschossen wird und im Fortissimo sich jeder nach Leibeskräften ins Zeug legt. Aber es gibt ja den Regler am Wiedergabegerät. Mit dabei ist auch wieder der Toningenieur Simon Eaden, der schon die Aufnahmen mit Zinman betreut hat; er sorgt dafür, dass das Wichtige heraustritt – hört man die Einspielungen über Kopfhörer, nimmt man den stützenden Einsatz der verschiedenen Mikrophone sehr genau wahr. Von der schlanken Geschmeidigkeit, die der französischen Musik so genuin ansteht, von ihrer filigranen Durchsichtigkeit ist aber wenig zu erfahren. Auch nicht gerade idiomatisch wirkt das fette Vibrato, das die Ersten Geigen pflegen.

Perkussiv und rhythmisch

All diesen Vorbehalten zum Trotz hat die Einspielung dennoch ihren Reiz hat. Das ist der Solistin zu verdanken. Yuja Wang geht die beiden Konzerte, so verschieden sie sind, in gleicher Weise draufgängerisch und aus dem Rhythmischen heraus an. Mit einer Energie sondergleichen und hoher Geläufigkeit – das Orchester hält da blendend mit – hämmert sie die wuchtigen Ecksätze des für die linke Hand allein geschriebenen Konzerts in D-dur heraus. In ihrem Fahrwasser spitzt Bringuier die Instrumentalfarben derart zu, dass das 1929 für den als Folge einer Kriegsverletzung einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein geschriebene Konzert in deutliche Nachbarschaft zu Strawinskys «Sacre du printemps» von 1913 gerät. Bei dem ebenfalls um 1930 entstandenen G-Dur-Konzert mit seinen von der Harfe strukturierten Flächen kann man sich dagegen an «Daphnis et Chloé» erinnern. Yuja Wang findet hier einen eher auf das Spielerische angelegten Ton; den Anklängen an den Jazz bleibt sie deswegen nichts schuldig.

Dass die 27-jährige Pianistin aus Peking auch Sinn für die versonnene Kantilene hat, führt die Ballade n Fis-dur von Gabriel Fauré vor, die zwischen die beiden Klavierkonzerte geschoben ist. Die Wahl hat ihren Sinn, war Fauré doch einer der Lehrer Ravels. Die kleine Beigabe, die durch einen kleinen Schnittfehler bei 7’13“ getsört ist, lässt freilich verstehen, warum Fauré heute so gründlich vergessen ist. Es handelt sich um ein angenehm dahinplätscherndes Salonstück für Klavier, dem auch die feurige Yuja Wang nicht viel Leben einzuhauchen vermag.