Brahms zum Singen gebracht – von Jörg Widmann und András Schiff

 

Von Peter Hagmann

 

Ein wundervolles Album ist das, reich an Poesie, getragen von dichter Atmosphäre, musikalisch auf höchstem Niveau. Ein Album, wie es in Zeiten des Streamings als Ausdruck bewusster Programmgestaltung leider wenig zur Geltung kommt, wie es aber bei ECM unentwegt produziert wird. Die Anlage ist denkbar einfach: Jörg Widmann mit seiner Klarinette und András Schiff am Klavier spielen die beiden späten Klarinettensonaten op. 120 von Johannes Brahms, dazwischen setzt Schiff die fünf Intermezzi für Klavier in Klang, die Widmann, bekanntlich Komponist wie Interpret, 2010 zu Papier gebracht hat.

Aufgeschrieben hat Widmann, was ihn als Nachklang an Musik von Brahms begleitet und was er dann weitergedacht hat. So wie es Wolfgang Rihm tat, als er 2011/12 im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters seine Assoziationen an die vier Sinfonien Brahms‘ in vier kurze Orchesterstücke mit dem Titel «Nähe Fern» einfliessen liess. Brahms‘ Musik kann einem nicht nur sehr nahegehen, sondern eben auch lange und nachhaltig im Ohr bleiben, das weiss die Zuhörerin so gut wie der Musiker. In seinen Intermezzi – der Titel schliesst an Brahms‘ späte Intermezzi op. 117 an – lässt sich Widmann von Gesten und strukturellen Verfahren aus der musikalischen Handschrift Brahms‘ anregen. Gleich das erste, ohne Bezeichnung versehene Stück, zeugt davon; eine knappe Minute lang lebt es von einem kleinen, drei Mal in absteigender Folge wiederholten Motiv und der kontrapunktischen Antwort darauf. Was András Schiff aus dieser Miniatur (und aus den darauf folgenden) macht, schon allein das lässt staunen.

Vollends gilt das für die Auslegung der beiden Klarinettensonaten. Sie werden in umgekehrter Reihenfolge präsentiert: die melancholische Nummer zwei in Es-dur erscheint auf der CD an erster Stelle, die etwas offenere erste in f-moll mit ihrem volkstümlichen Allegretto im Dreivierteltakt und ihrem spritzigen Finale zum Ausklang. Das wirkt vom Spannungsverlauf her plausibel, widerspricht jedoch den biographischen Umständen. Durch die Begegnung mit dem seinerzeit ausserordentlich berühmten Klarinettisten Richard Mühlfeld, von dessen Spiel sich der Komponist verzaubern liess, kam Brahms noch einmal zu einem letzten Schaffensschub, der freilich bald wieder in düstere Gefilde führte. Mit welcher Sensibilität Schiff und Widmann diese Musik in die Hand nehmen, lässt keine Wünsche offen. Mit dunklem, jederzeit geschmeidigem Ton wartet der Pianist auf, weite Bögen und sanfte Artikulation bringt der Klarinettist ein, und beides geschieht in vollkommener Übereinstimmung.

Ganz besonders gelungen ist in dieser Aufnahme die zarte Es-dur-Sonate op. 120 Nr. 2. Beide Musiker sind eben Meister des Leisen, und genau das ist hier gefragt. Hauchzart das Pianissimo, zu dem Jörg Widmann in der Lage ist – ein Pianissimo, das sich vom Piano noch durchaus abhebt. Und in weicher, sinnlicher Kantabilität gehalten das Dolce, das András Schiff seinem von der Bauart her perkussiven Instrument entlockt. Auch in diesem Stück hat der Pianist immer wieder so vollgriffig zu wirken, wie es nun einmal zu Brahms gehört – nur geschieht das hier ohne jeden Lärm, ohne jeden Druck, sondern in schlanker Schönheit des Tons. Und in aller Klarheit der Stimmführung; das Kontrapunktische im Klaviersatz arbeitet Schiff sehr schön heraus, so dass es selbst in dem wie ein Monolog angelegten Kopfsatz dieser Sonate zu lebhaftem Dialog mit Widmann kommt. Nicht zuletzt lässt sich auch in dieser Aufnahme erleben, mit welch diskreter Selbstverständlichkeit Schiff Spielmanieren des späten 19. Jahrhunderts pflegt, das Vorschlagen der Basstöne etwa, das leichte Arpeggieren oder die Simulation einer dynamischen Steigerung durch eine Modifikation des Tempos. Das alles belebt den leisen Ton in hinreissender Weise.

Johannes Brahms: Die zwei Klarinettensonaten op. 120, Jörg Widmann: Intermezzo. Mit Jörg Widmann (Klarinette und András Schiff (Klavier). ECM 4819512. CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020.

Der neue Beethoven – mit Kristian Bezuidenhout und Pablo Heras-Casado

Von Peter Hagmann

 

Wie modern Beethoven klingen kann, oder anders herum: Wie Beethoven klingen muss, um modern zu wirken – das lässt sich nicht bei Pultheroen wie Daniel Barenboim, Andris Nelsons oder Christian Thielemann und nicht bei Starorchestern wie den Wiener Philharmonikern erfahren. Da wendet man sich besser an die junge Szene der alten Musik, an das Freiburger Barockorchester zum Beispiel und den eng mit ihm verbundenen Dirigenten Pablo Heras-Casado. Zusammen mit dem aus Südafrika stammenden Pianisten Kristian Bezuidenhout haben Heras-Casado und die Freiburger an zehn Tagen im Dezember 2017 die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens aufgenommen. Nachdem die Nummern zwei und fünf vor einiger Zeit schon erschienen sind, ist jetzt bei Harmonia mundi, dem lebendigen Label aus Frankreich, das vierte Konzert, jenes in G-dur, herausgekommen. Auf CD oder im Streaming zu greifen ist eine aufsehenerregende Neubeleuchtung.

Bezuidenhout spielt ein Fortepiano von Conrad Graf aus dem Jahre 1824, allerdings nicht ein Original, sondern eine Kopie, die 1989 von dem Amerikaner Rodney Regier erbaut und von Edwin Beunk 2002 überholt worden ist. Ein herrliches Instrument, klangvoll, füllig ohne jede Härte; so fein es zeichnet, so opulent singt es. Und Bezuidenhout weiss das Potential zu nutzen. Brillantes Perlen in klar zeichnendem Non-Legato steht neben sinnlicher Kantabilität, und da die Töne bei Klavieren solcher Art nicht so lange klingen wie bei einem Steinway, können die Pedalanweisungen des Komponisten kompromisslos umgesetzt werden – mit entsprechendem Gewinn. Dazu kommt die ganz selbstverständliche Erfahrung des Solisten in den Spielweisen und der Interpretationskunst des frühen 19. Jahrhunderts. Steht in der Partitur ein Sforzato, führt das bei Bezuidenhout nicht unbedingt zu einem dynamischen Akzent, sondern ebenso oft zu einem Arpeggio oder zu einem Rubato. Überhaupt werden die Tempi vielfach nuanciert und damit in den Dienst des Ausdrucks gestellt. In seiner Vielschichtigkeit und zugleich seiner Schlichtheit verleiht das alles dem Solopart eine unerhörte, beglückende Vitalität.

Begleitet wird der Solist von einem Orchester, das agil und prononciert an der Ausgestaltung des musikalischen Geschehens teilhat. Mit Heras-Casado erzielt das Freiburger Barockorchester einen ganz eigenen, aufregenden Beethoven-Ton. Es fehlt ihm nicht an Wucht, aber es ist nicht der in Stein gehauene Heroismus früherer Zeiten, sondern eine elegante, federnde – eine musikalische Wucht. Viel wichtiger als Druck und Kraft sind hier die farblichen Abmischungen, die Akzentsetzungen in der klanglichen Balance, die Beweglichkeit in Phrasierung und Artikulation.  Das deutet sich schon in den beiden zum Klavierkonzert gestellten Ouvertüren an, in jener zu den «Geschöpfen des Prometheus», erst recht aber jener zu «Coriolan». Im Klavierkonzert dann glänzt das Orchester mit einer unerhört reichen Palette an Ausdrucksmöglichkeiten.

Sehr zart aus einem geschmeidigen Arpeggio des Klaviers heraus hebt der Kopfsatz an. Den ersten Phrasen des Soloinstruments antwortet das Orchester mit geschlossenem, geradezu kernigem Ton. Auch schlägt es ein etwas flüssigeres Tempo an, was nicht ein unkontrolliertes, vielleicht gar auf Rivalität basierendes Nebeneinander erzeugt, sondern vielmehr anzeigt, dass der Solist mit seiner Neigung zur Introspektion und das sozusagen als Öffentlichkeit agierende Orchester zwei Welten ausprägen, die später dann, im kurzen Mittelsatz, unverbunden nebeneinander stehen werden. Das Konzert erhält in dieser Anlage des Kopfsatzes nicht das liebliche Profil, mit dem es gerne versehen wird, es zeigt schon hier seine dramatischen Zähne. Vollends zutage treten sie im Andante con moto, das vom Orchester trocken und schroff angelegt, vom Solisten aber in berührende Sanglichkeit gekleidet wird – die alten Instrumente erlauben solch ausdrückliches Vorgehen fern jeden Kitschverdachts. Im abschliessenden Rondo finden die beiden Kontrahenten dann freilich zu fröhlicher Ausgelassenheit zusammen.

Sehr ausdrucksstark ist das, und anregend zudem – eine Interpretation in des Wortes bestem Sinn.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4, G-dur, op. 58; Coriolan, Ouvertüre; Die Geschöpfe des Prometheus, Ouvertüre. Kristian Bezuidenhout (Fortepiano, Kopie eines Instruments von Conrad Graf von 1824), Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi 902413 (CD, Aufnahme 2017, Publikation 2020).

Kristian Bezuidenhout tritt am Freitag, 18. September 2020, um 19.30 Uhr beim Festival Alte Musik Zürich auf. In der Kirche St. Peter spielt er auf einem Hammerflügel vier Klaviersonaten Beethovens.

Mozart-Arien mit Regula Mühlemann und dem Kammerorchester Basel

Von Peter Hagmann

 

Ihre Stimme ist einfach zauberhaft. Glockenrein klingt sie, mit einem reichen Spektrum an Obertönen versehen, was ihr ausgeprägten Glanz verleiht, und dazu kommt eine weiche Rundung im Timbre, die Fülle und Opulenz erzeugt – Regula Mühlemann verfügt über eine vokale Erscheinung von hoher, ja beglückender Individualität. In mancher Hinsicht lässt sie an Edith Mathis denken, ihre ebenfalls aus Luzern stammende, zwei Generationen jüngere Kollegin. Wie ihre berühmte Vorgängerin arbeitet Regula Mühlemann mit einem Höchstmass an technischer Präzision. Jederzeit untadelig Sitz und Führung der Stimme, eindrücklich das Legato, das weite Bögen trägt – und erst die Diktion: herrlich abgefärbt die Vokale, deutlich zeichnend, aber nie schneidend die Konsonanten, dementsprechend grossartig die Verständlichkeit.

Erleben lässt es sich mit einer neuen CD: einer zweiten Sammlung von Mozart-Arien, für die Regula Mühlemann wieder mit dem Kammerorchester Basel und seinem Gastdirigenten Umberto Benedetti Michelangeli zusammengearbeitet hat. Und auch hier finden sich nicht nur bekannte Nummern wie «Deh vieni, non tardar», die Arie der Susanna aus «Le nozze di Figaro», sondern auch Raritäten wie «Amoretti, che ascosi qui siete», jene erstaunliche Cavatina aus «La finta semplice», die Mozart im Alter von zwölf Jahren komponiert hat. Den Auftakt machen «Solitudini amiche» – «Zeffiretti lusinghieri», Rezitativ und Arie der Ilia aus «Idomeneo». Sehr langsam nimmt Regula Mühlemann die Arie, sie führt aber vor, dass sie die Bögen in Spannung zu halten vermag und dass ihr Atem dafür ausreicht. Erst recht gilt das für «In un istante»­ – «Parto, m’affretto», die Klage der Giunia aus «Lucio Silla». Hier zeigt die Sopranistin nämlich ihre Kunst der ganz und gar unangestrengten Koloratur, und sie lässt dabei Perlenketten von unerhörter Ausdehnung glänzen.

Die Bewunderung für das stimmliche Vermögen der jungen Sängerin wird allerdings etwas getrübt durch Defizite in der künstlerischen Ausformung. Mit dem Kammerorchester Basel steht Regula Mühlemann ein Ensemble zur Seite, das über lange Erfahrung im Bereich der alten Musik verfügt und im Instrumentalen bemerkenswerte Horizonte eröffnet. Im Vokalen werden sie zu wenig aufgenommen. Während das Orchester, das in alter Technik, auch in tieferer Stimmung spielt, hörbar macht, wie der reine, gerade Ton eine Dissonanz würzt, pflegt die Sängerin im Grunde jenes durchgehende Vibrato, das in der Vergangenheit geradezu Pflicht war und in der Gesangskunst von heute noch immer lebt, aber doch längst hinterfragt ist. Inzwischen setzen viele Sängerinnen und Sänger auf Differenzierungen im Gebrauch des Vibratos und nutzen erfolgreich die damit verbundenen Erweiterungen des Ausdrucksspektrums. Dasselbe gilt für das sprechende Singen, dem Regula Mühlemann, auch dies gemäss einer Norm von gestern, das ungebrochene Legato vorzieht. In «Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden», der schmerzerfüllten Arie der Pamina aus dem zweiten Akt der «Zauberflöte», ruft sie nach Tamino und zieht dabei die dritte Silbe des Namens betont in die Länge, obwohl sie nur ein Achtel dauern und in Pausen führen soll. Es gibt also noch Potential in der schon jetzt hohen Kunst der Sängerin. Und es ist nicht daran zu zweifeln, dass Regula Mühlemann in dessen Erkundung weiter gewinnen könnte.

Mozart Arias II. Regula Mühlemann (Sopran), Kammerorchester Basel, Umberto Benedetti Michelangeli (Leitung). Sony Classical 19439752372 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2020).

Jonas Kaufmann singt, Antonio Pappano dirigiert Verdis «Otello»

 

Von Peter Hagmann

 

Die Studioaufnahme einer Oper als reines Hörstück auf CD, das ist zur Seltenheit geworden. Zusammen mit dem Orchester der Accademia di Santa Cecilia in Rom – er leitet es seit 2005 als Musikdirektor und tut das neben seiner 2002 übernommenen Leitungsfunktion an der Königlichen Oper zu Covent Garden London – pflegt Antonio Pappano diese so gut wie verschwundene Gattung allerdings wie kein Zweiter. Er tut es immer wieder im Verein mit dem Münchner Tenor Jonas Kaufmann, mit dem Pappano seit langem eine enge künstlerische Verbindung pflegt. Ein Star wie Kaufmann ist es auch, der etwas so Aufwendiges wie die Studioproduktion einer Oper ermöglicht – der Name sorgt für Absatz.

Dabei ist es bei der Einspielung von «Otello», der späten Oper Giuseppe Verdis, die wegen der von Shakespeare vorgesehenen Hautfarbe des Titelhelden da und dort in Diskussion geraten ist, gerade nicht Jonas Kaufmann, dem besondere Aufmerksamkeit gehört. In hellstem Licht stehen vielmehr das Orchester und sein Dirigent. Antonio Pappano kennt die Partitur von «Otello» bis in ihre letzten Verästelungen. Er nähert sich ihr zudem mit einem Höchstmass an Phantasie und Gestaltungsvermögen. Nicht zuletzt aber sorgt er – unterstützt durch die Aufnahmetechnik – für eine Balance zwischen dem vokalen und dem instrumentalen Geschehen, die bei Richard Wagner zum Normalfall gehört, bei Verdi aber alles andere als die Regel ist.

In dieser Aufnahme von «Otello» ist es nicht die Singstimme, die über einem mehr oder minder wahrgenommenen Untergrund an instrumentaler Begleitung das Feld beherrscht. Die vokale Linie prägt zwar das Geschehen, tut es aber in enger Interaktion mit den orchestralen Äusserungen – so dass die interessante Harmonik und die exquisiten Farbgebungen in gleichberechtigter Kraft auf das Ohr des Zuhörers einwirken. Dabei tritt heraus, dass das Orchester der Santa Cecilia einen Verdi-Ton pflegt, der von körperhafter Kompaktheit, zugleich aber von hoher Wendigkeit ist. Übrigens lässt auch das andere Kollektiv, der von Ciro Visco vorbereitete Chor der Santa Cecilia, keinen Wunsch offen.

Aber auch in der vokalen Besetzung fallen Glanzlichter auf. Mit seinem kernigen, Bariton gibt Carlos Alvarez einen Jago, dessen intrigantes Potential in aller Schärfe zur Geltung kommt. In der Trinkszene des ersten Akts stürmt dieser Bösewicht, den Verdis Librettist Arrigo Boito von sich sagen lässt, er sei ja bloss ein Kritiker, mit einer unerhörten rhythmischen Energie voran, während er in seinem Monolog des zweiten Aktes in die Untiefen seines Wesens blicken lässt. Sehr ausgeprägt auch die Desdemona der jungen Italienerin Federica Lombardi. Mit ihrer lichten Höhe und ihrem reichen Farbenspektrum zeichnet sie die Gattin des Protagonisten als Inbegriff der Unschuld. Dank ihr werden das Liebesduett mit Otello am Ende des ersten Akts und ihr Ave Maria am Anfang des vierten zu einzigartigen Höhepunkten.

Nun aber: Jonas Kaufmann. Über viele Jahre hinweg hat er sich die als besonders anforderungsreich geltende Partie des Otello erarbeitet, in mehreren szenischen Produktionen hat er sie erprobt. Abgeschlossen sind solche Prozesse nie, doch ist nicht zu überhören, dass Kaufmann in der Partie des Otello einen fruchtbaren Kulminationspunkt erreicht hat. Seine Darbietung ist in hohem Masse austariert, mit aller Sorgfalt gesteuert. Die Technik bis hin zur Diktion: fabelhaft. Und die Stimme, dieser baritonal gefärbte, auch in der Höhe zu Expansion fähige Tenor, ist voll in Kraft. Die Zärtlichkeit des Liebesduetts, der Zornesausbruch am Ende des zweiten Akts, die Kaltblütigkeit im Moment des Mordes an Desdemona – es gelingt vorzüglich. Wenn etwas offen bleibt, sind es die wenigen etwas erzwungenen Töne, ist es die ganz spontane Exaltation, der die Kontrolle des Tuns im Weg zu stehen scheint. Alles kann man nicht haben.

Giuseppe Verdi: Otello. Jonas Kaufmann (Otello), Federica Lombardi (Desdemona), Carlos Alvarez (Jago), Virginie Verrez (Emilia), Lipait Avetisyan (Cassio, Carlo Bosi (Roderigo) et al. Chor und Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom, Antonio Pappano (Leitung). Sony Classical 19439703972 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).

Beethovens fulminanter Aufbruch – ins Licht gestellt

Von Peter Hagmann

 

Sie galten ihm als Schülerarbeiten, darum hat Ludwig van Beethoven die drei Klavierquartette, die er 1785 noch vor seinem 15. Geburtstag niedergeschrieben hat, nie zur Publikation freigegeben; erst 1828, ein Jahr nach des Komponisten Tod, erschienen die Werke im Druck. Den aufmerksamen Zuhörer lehren sie das Staunen. Das Staunen über einen Halbwüchsigen, der, für den Unterhalt seiner Geschwister verantwortlich, der gleichaltrigen Tochter eines Bonner Hofbeamten Klavierstunden gab und wohl für sie wie ihre drei Geschwister, die Geige, Bratsche und Cello spielten, passende Musik erfand. Und Staunen über einen Anfänger, der seine Vorbilder nicht verleugnete, aber doch andeutete, in welcher Weise er sie hinter sich zu lassen gedachte. Natürlich sind die drei frühen Klavierquartette von Mozart inspiriert; die quirlige Fantasie Beethovens, wie sie etwa die Variationen im mittleren Quartett andeuten, sichert den Stücken aber schon ein erstaunliches Mass an Individualität.

Erfahren werden kann das in einer neuen Aufnahme, die in jeder Hinsicht gelungen ist. Ihr Mentor ist der Italiener Leonardo Miucci, der nicht nur hervorragend Klavier spielt, besonders Hammerklavier, sondern der auch als ausgewiesener Beethoven-Forscher in Erscheinung tritt. Die drei Klavierquartette WoO 36 hat er für den Bärenreiter-Verlag in einer Kritischen Ausgabe vorgelegt, zu der er ein instruktives Vorwort mit zahlreichen Anregungen zur Aufführungspraxis verfasst hat, während er sich in seiner Dissertation den Klaviersonaten Beethovens gewidmet hat. So versteht sich, dass die drei Klavierquartette Beethovens in einem Ton erklingen, der dieser Musik angemessen ist, mithin mit einem Optimum an stilistischem und aufführungspraktischem Bewusstsein in Klang gebracht werden. Das führt zu erstaunlichen Resultaten – was umso bemerkenswerter ist, als Kammermusik in historisch informierter Aufführungspraxis noch immer ein Schattendasein fristet.

Leonardo Miucci hat für die Aufnahme die Kopie eines 1790 entstandenen Hammerflügels von Johann Lodewijk Dulcken zur Hand; Dulcken war ein beruflich Verwandter von Johann Andreas Stein, dessen Instrumente zu Beethovens Zeit in Bonn verbreitet und geschätzt waren. Umgeben hat sich Miucci mit Kolleginnen aus dem Bereich der alten Musik. Die Geigerin Meret Lüthi, Leiterin des Berner Ensembles «Les Passions de l’Ame», spielt eine Geige von Paolo Antonio Testore aus dem frühen 18. Jahrhundert, die Japanerin Sonoko Asabuki, die zuletzt an der Schola Cantorum Basiliensis studiert hat, lässt die Kopie einer Bratsche von Andrea Guarneri erklingen, der Cellist Alexandre Foster, ebenfalls an der Basler Schola ausgebildet und heute wie Miucci und Lüthi an der Berner Musikhochschule tätig, bedient ein Cello von Jacobus Stainer von 1673. Die Instrumente, klanglich allesamt ausserordentlich charakteristisch, bilden aber nur die eine Seite der Medaille.

Die andere gilt der Spielweise und dem interpretatorischen Temperament. Furios und lustvoll spielfreudig packt das Ensemble die Musik des jungen Beethoven an – die dadurch überhaupt nichts Niedliches bekommt, vielmehr ihr Stürmisches, auch ihr stürmisch Vorausblickendes herzeigt.  Blendend der Klang, der trotz der ausgeprägten Eigenheit der vier Instrumente in ein sinnvolles Ganzes gefasst ist, zugleich aber die einzelnen Stimmen, wenn es denn gefordert ist, mit scharfem Profil versieht. Dass hier nach Regelwerken musiziert wird, kommt als Eindruck keinen Augenblick lang auf – dabei wird tatsächlich nach dem aktuellen Forschungsstand agiert. Die Tempi sind nicht einfach gerade durchgezogen, sie werden vielmehr dem erwünschten Ausdruck gemäss modifiziert, was zu geschmeidig lebendigem Fluss führt. Nuanciert gepflegt wird von Leonardo Miucci auch die heute so gut wie vergessene Manier des asynchronen Anschlags, der leichten Verschiebung des Melodietons gegenüber den Begleitstimmen.  Und dass, wo es sich anzeigt, stilsicher extemporiert wird, verleiht der Aufnahme besonderen Reiz. Jugendwerke werden hier vorgeführt; sie sind aber voll beim Wort genommen.

Ludwig van Beethoven: Drei Klavierquartette WoO 36 (1785). Leonardo Miucci (Hammerklavier), Meret Lüthi (Violine), Sonoko Asabuki (Viola), Alexandre Foster (Violoncello). Dynamic 7854 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020).

Hannes Meyer – der Organist, der ins Freie trat

 

Von Peter Hagmann

 

Unglücklich geht die musikalische Saison 2019/20 zu Ende; in voller Fahrt wurde sie zu Fall gebracht, gestoppt durch ein Virus und die mit seiner Verbreitung verbundenen Folgen. Ab Mitte März herrschte behördlich verfügtes Schweigen in Oper und Konzert, weshalb es «Mittwochs um zwölf» nichts mehr zu berichten gab. So ist der Blog denn auf die Beobachtung des (inzwischen auch im Streaming abgebildeten) CD-Marktes ausgewichen – wo es immerhin manch Bemerkenswertes zu entdecken gab. Das Beste folgt aber hier und jetzt, als eine kleine Überraschung der anderen und vielleicht erheiternden Art.

Der Zufall spielte mir dieser Tage eine vor mehr als vierzig Jahren entstandene Langspielplatte auf den Tisch – nein, auf den Teller, denn tatsächlich hatte der Plattenspieler seinen Geist nicht aufgegeben. «SpielOrgelSpiel» nennt sich die von dem Schweizer Label Claves unter der Verkaufsnummer P 702 aufgelegte Platte. Im Antiquariat mag sie noch zu finden sein, im Netz ist sie in der originalen Fassung nicht greifbar, ähnliche Versionen gibt es auf den diversen Plattformen aber durchaus. «SpielOrgelSpiel» bietet ein klingendes Porträt des 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Organisten Hannes Meyer. Eines Könners erster Güte, aber eines ganz und gar untypischen Vertreters seines Fachs.

Davon spricht schon das erste Stück auf der Langspielplatte von 1977: die von Hannes Meyer eigenhändig komponierte «Schanfigger Bauernhochzeit». Drei Teile folgen einander im Rahmen von knapp fünf Minuten: ein Hochzeitsmarsch, ein Walzer mit Jodel, ein Schottisch. Der Klang ist der authentischer Volksmusik, nur entstammt er der Imagination von Hannes Meyer und entsteigt er den Pfeifen der wunderschönen Orgel in der Kirche Hilterfingen am Thunersee. Wer das Stück gehört hat, ist sogleich guter Dinge. Das liegt an den strahlenden, charakteristischen Farben der Registrierung. Es liegt am Rhythmus, der äusserst lüpfig wirkt, und er tut das, weil er mit allerletzter Präzision realisiert wird. Vor allem aber liegt es an der Artikulation, am bewussten, pointierten Umgang mit der Länge der einzelnen Töne, einem zentralen Ausdrucksmittel des Organisten. Volksmusik erklingt hier, dargeboten jedoch mit allem Raffinement der Kunstmusik.

Hannes Meyer war eine durch und durch ungewöhnliche, unkonventionelle Erscheinung. Ein Genussmensch war er. Bei Speis und Trank ohnehin, erst recht aber beim Orgelspielen. Zu seinem Instrument hatte er nicht nur eine lustvolle, sondern auch eine genuin taktile Beziehung – dies vielleicht darum, weil es mit seinen Augen nicht zum Besten stand und er ohnehin auswendig zu musizieren pflegte. Die Tasten fasste er mit einer eigenartigen Sensibilität an. Und auch wenn bei der Orgel von der Taste bis zu jenem Ventil, das die Luft in die Pfeife strömen lässt, ein komplizierter Weg zurückgelegt wird, ergab sich bei Hannes Meyer der Eindruck, dass ihn mit jedem Ton, der aus dem Instrument hervorklang, eine individuelle, höchstpersönliche Beziehung verband. Eine Achtsamkeit ganz eigener Art war da am Werk.

Die eigene Art – das galt bei Hannes Meyer auch, und vor allem, für das Repertoire, das er als Organist pflegte. Er war ein Virtuose, dem nichts verschlossen blieb, die Triosonaten Johann Sebastian Bachs nicht, die Orgelsinfonien Charles-Marie Widors nicht – mit der Fünften war er 1979 zu einem Rezital in die Tonhalle Zürich gekommen, zu einem Orgelabend mit Frack und dem Spieltisch auf dem Podium wie bei einem Klavierabend. Mit den ästhetischen Zwängen, die nicht zuletzt von der Evangelisch-Reformierten Kirche gelebt wurden, hatte er jedoch nichts am Hut. Nachdem er 1980 bei einer Trauung im Berner Münster auf Wunsch des Brautpaars den «Hochzeitsmarsch» aus Mendelssohns «Sommernachtstraum» und den von den Wiener Neujahrskonzerten her bekannten «Radetzkymarsch» intoniert hatte, bekam er von Heinrich Gurtner, dem an der Trauung als Zuhörer anwesenden Berner Münsterorganisten, geradewegs Hausverbot, was an die Öffentlichkeit getragen wurde und in der Folge zu Auseinandersetzungen in den Medien führte.

Die Orgel sei für alle da, für die Huren wie für die Pfaffen, befand Hannes Meyer. Und umgekehrt: für die Orgel sei alles da, das Präludium mit Fuge wie das Volkslied und der Zapfenstreich. Das hat er absolut wörtlich genommen. Ausgebildet vom Zürcher Grossmünsterorganisten Hans Vollenweider und dem Basler Komponisten Rudolf Moser, war Hannes Meyer ein einziges Mal angestellt: in dem guten Jahrzehnt zwischen 1967 und 1978 als Organist an der reformierten Kirche Arosa. Seither war er freischaffend tätig, und er lebte nicht schlecht davon. Das darum, weil er die eng mit der Kirche verbundene Orgel ihrer Fesseln entledigte und sie zu den Menschen brachte, hauptsächlich zu den orgelfremden unter ihnen. Er gab nicht nur Konzerte und Kurse auf der ganzen Welt, als geborener Ohrenöffner und Lustmacher bot er etwa auch Orgelwochen an, bei denen er ganztags auf der Orgelbank anzutreffen war und dort Jung und Alt hören, spüren und erfahren liess. Sogar die ganz Kleinen durften auf die Bank hüpfen und dem riesigen Instrument einige Töne entlocken.

Geradezu zwingend verband sich dieses Berufsverständnis mit einem ausserordentlich weiten musikalischen Horizont. Auf die «Schanfigger Bauernhochzeit», die seinen Namen weitherum bekannt gemacht hat, folgen auf der Langspielplatte «SpielOrgelSpiel» ein kurzes Stück von Hannes Meyer zu Ehren des Alphorns, in dem das berühmte Alphorn-Fa, vor dem sich auch Johannes Brahms verneigt hat, nicht fehlt, und später der «Cäcilienmarsch» des Einsiedler Benediktiners Anselm Schubiger. Wer sich heute im Internet nach Aufnahmen mit Hannes Meyer umtut, wird leicht fündig. Zum Beispiel kanner sich eine zweite Ausgabe von «SpielOrgelSpiel», aufgenommen in der Kirche von Bäretswil im Zürcher Oberland, zu Gemüte führen. Dort erklingt etwa der fröhliche Monte-Crappa-Marsch, in dem man Hannes Meyers Umgang mit gebundenen und gestossenen Noten besonders gut verfolgen kann. Und die 1997 bei Tudor erschienene CD «Stars and Pipes Forever» enthält als abschliessendes Feuerwerk eine vom Organisten erstellte Einrichtung von Maurice Ravels Orchesterwerk «Boléro», für die mit Dieter Zimmer ein Schlagzeuger mit von der Partie ist. Dieser spektakuläre Track, auf der Orgel des Münsters zu Konstanz gespielt, lebt ganz toll von Rhythmusgefühl und Farbensinn. Das ist es eben, was, unter manch anderem, das Orgelspiel Hannes Meyers auszeichnete.

Beethoven mit Currentzis  – und etwas viel Wind

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist weitgehend stillgelegt, Oper und Konzert sind so gut wie ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Die Fünfte mit dem Dirigenten Teodor Currentzis und seinem Orchester MusicAeterna als Auftakt zu einer neuen Gesamteinspielung der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens – das hatte das Zeug zu einem Hype. Das Virus hat ihn gebodigt, die physische Publikation der CD wurde hinausgeschoben und ist jetzt, da sie erfolgt ist, im allgemeinen Marktbetrieb untergegangen. Für Sony Classical ist das bedauerlich, von der Sache her erscheint es dagegen als angemessen.

In einem Booklet-Beitrag zu seiner Interpretation schlägt Teodor Currentzis grosse Töne an – das ist seine Art, auf dem Glatteis der Beethoven-Interpretation aber nicht ganz ungefährlich. Dezidiert abheben möchte er sich von der spätromantisch geprägten Tradition, die im grossen Geschäft bis heute dominiert. Das kann man sogleich unterschreiben, die Einspielungen neueren Datums mit Dirigenten wie Andris Nelsons, Christian Thielemann oder Daniel Barenboim zerreissen wahrhaft keine Stricke. Was Currentzis im Gegensatz dazu vorschwebt, ist, wie er schreibt, ein neues Hören, ein neues Erleben, ja kathartische, grundlegend reinigende Wirkung im Zuhörer. Inwieweit die Ambition durch die klingende Realität der CD eingelöst wird, ist eine andere Frage.

MusicAeterna, von Teodor Currentzis 2004 gegründet, von ihm bis heute geleitet und betrieben, agiert bei Beethoven als ein Orchester aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Stimmton ist leicht abgesenkt, die Artikulation äusserst agil und elegant federnd. Dazu kommt eine technische Fertigkeit, die keinerlei Wünsche offen lässt. Abgesehen vom zweiten Satz halten sich die Tempi ganz selbstverständlich, jedenfalls ohne jede Verkrampfung an die Metronomzahlen, die der Komponist ab 1817 publizieren liess. Das gelingt auch im Kopfsatz, wo das eröffnende Signal keine Spur von Hast zeigt. Allein, die Zeitmasse sind straff durchgezogen, sie bleiben in einem strengen Gleichmass, das wenig Atem lässt und die Musik kaum zum Sprechen bringt – jene kleinen Zäsuren, jene fast unmerklichen Akzente, die Leben schaffen, fehlen so gut wie ganz. Das kleidet den revolutionären Duktus, den Currentzis herauszuarbeiten sucht, in ein Musizieren von stromlinienförmigem Gepräge.

Dazu kommt der auffallende Mischklang. Schön ist er, ganz ausserordentlich schön – man könnte fast an Herbert von Karajan denken. Doch dieser schöne Klang zeigt mässig Relief. Das Scherzo verspricht einiges. Dank der ausgeprägten Kultur des Leisen, die MusicAeterna zu pflegen vermag, entsteht eine Atmosphäre von verschwörerischer Spannung, die Fuge des Trios, in dem von Beethoven gedachten Tempo genommen, lässt die kurz vor der Eruption stehenden Energien spüren – und wie dräuend der Schluss des Satzes ins Finale überleitet, ist grosse Klasse.

Das Finale selbst enttäuscht dann aber. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sinfonie werden hier Posaunen eingesetzt, Instrumente aus dem Bereich der französischen Revolutionsmusik etwa von Luigi Cherubini, wie sie auf einer anregenden CD mit dem Orchester der Mailänder Scala und dem dortigen Musikdirektor Riccardo Chailly zu hören ist. Auch Piccolo und Kontrafagott erscheinen erstmals im sinfonischen Kontext. Bei Currentzis ist das kaum zu hören; das Kontrafagott knurrt bisweilen vernehmlich, das Piccolo dagegen tritt kaum heraus, die Posaunen bleiben ins Tutti integriert und machen sich erst gegen Ende des Satzes bemerkbar. Der Schluss freilich mit seinen unendlichen Ausrufezeichen ist grossartig ausgeformt.

Das neue Kapitel in der Interpretation von Beethovens Fünfter wird von Currentzis nicht aufgeschlagen, das taten andere. Auswege aus der spätromantischen Interpretationsästhetik haben avantgardistisch denkende Dirigenten von Arturo Toscanini bis zu Michael Gielen gezeigt, im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis haben seit dem Orchester des 18. Jahrhunderts mit Frans Brüggen – vor immerhin bald vierzig Jahren – zahlreiche Ensembles bemerkenswerte Perspektiven eröffnet. In seinen späten Jahren hat Nikolaus Harnoncourt noch einmal kraftvoll in die Diskussion eingegriffen, und mit seinem Dirigenten Giovanni Antonini hat das Kammerorchester Basel eine Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens vorgelegt, welche die Latte ausgesprochen hoch gelegt hat. Warten wir ab, wie es bei Teodor Currentzis weitergeht.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5 in c-moll op. 67. MusicAeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony Classical 19075 884972 (CD, Aufnahme 2018, Produktion 2020).

«Vier Jahreszeiten» – von Verdi wie von Vivaldi

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Verdi auf Instrumenten, wie sie zur Entstehungszeit der Kompositionen üblich waren, das ist selten, gibt es aber doch schon. 2017 wurde in der Polnischen Nationaloper Warschau «Macbeth» aufgenommen – mit dem Geiger und Dirigenten Fabio Biondi und seinem «Originalklang»-Ensemble Europa Galante. In diesem Geist folgen jetzt La Scintilla, das Barockorchester des Opernhauses Zürich, und der Geiger Riccardo Minasi als sein Leiter – und dies mit nicht weniger spektakulären Ergebnissen. Als Giuseppe Verdi 1855 an der Pariser Oper mit der Uraufführung von «Les Vêpres siciliennes» in Erscheinung trat, hatte er natürlich auch Ballettmusik zu liefern, das war eine strikte Anforderung des Hauses. Mit Widerwillen hat sich Verdi dem Diktat unterworfen; «Tarantelle» nennt sich der Einschub in den zweiten Akt, «Les Saisons» der in den dritten Akt. Herausgekommen ist, gerade in «Les Saisons», handwerklich untadelige, im Einfall aber doch konventionelle Ballettmusik.

Daraus muss in der Interpretation etwas gemacht werden. La Scintilla tut das, und wie. Gleich zu Beginn fällt es ins Ohr. In der musikalischen Erfindung ist der Winter, mit dem Verdi beginnt, als solcher kaum zu erkennen, dafür bietet die Interpretation mitreissende rhythmische Genauigkeit, auffallende Beweglichkeit in den einzelnen Stimmen wie im Tuttti und eine eigenartige Farbigkeit. Das machen eben die Instrumente und die mit ihnen verbundenen Spielweisen – die schlanken Blechbläser, die obertonreichen Holzbläser, die in der Regel ohne Vibrato zum Klingen gebrachten Streicher. Stimmungsvoll beginnt der Frühling, mit Tremoli der Streicher, Arpeggien der Harfe und Vogelgesang, worauf ein herrliches Ständchen der Klarinette folgt. Auch im Sommer glänzen Holzbläser: die Flöte mit ihrer grossen Kadenz, die wunderbar kehlige Oboe mit einer sehnsüchtigen Kantilene. Der Herbst schliesslich gerät zum derben Winzerfest mit spritzigen Tanzrhythmen, mit tonschönen Einwürfen des Cellos und den für einmal nicht dröhnenden, sondern zeichnenden Beiträgen der Posaune. Hätte er sie so gehört, Verdi hätte mit der Balletteinlage seinen Frieden gemacht.

Der Clou der neuen Produktion aus dem Opernhaus Zürich – das spricht eben für die CD als konzipiertes Album – besteht nun freilich in der Kombination von Verdis «Saisons» mit «Le quattro stagioni» (1725) von Antonio Vivaldi, einer durch den musikalischen Betrieb abgewetzten Sammlung von vier Geigenkonzerten, die hier in ganz neuem Licht erscheinen. Riccardo Minasi – das hat auch der leider nicht mitgeschnittene Abend mit den Brandenburgischen Konzerten Bachs von 2019 erwiesen – scheut kein Risiko: Er kann es sich erlauben, denn seine Agilität auf der Barockgeige sucht ihresgleichen, und La Scintilla bleibt ihm in keinem Augenblick etwas schuldig. Dementsprechend weit gespannt ist der klangliche Horizont. Der Frühling hebt gleich mit markanten Kontrasten an – mit solchen zwischen den beiden Geigengruppen im Orchester, aber auch solchen zwischen dem mit üppigem Continuo versehenen Ripieno und dem von Verzierungskunst geprägten Concertino. Die Diminution – das Einfügen quirliger Tonfolgen in ruhige Verläufe – bricht sich erstmals im langsamen Mittelsatz des Frühlings Bahn, bestimmt in der Folge das Geschehen aber immer wieder. Der Sommer besticht durch die Vielfalt der Artikulation und die furianten Ausbrüche von Blitz und Donner. Auch bei Vivaldi wird der Herbst zum ausgelassenen Fest, doch tut der junge Wein hier rasch seine Wirkung, wovon der süsse Schlummer im Mittelsatz mit den süchtigmachenden Akkordbrechungen des Cembalos zeugt (bedauerlich, dass die CD keine Namenliste der Mitwirkenden enthält). Fassbar lautmalerisch gerät schliesslich der Winter mit seinen Stellen brüchigen Eises.

Schade nur, dass die CD die Sonette zu den vier Stücken mit ihren programmatischen Hinweisen nicht mitliefert. Wer im Hören die Bedeutung der Musik Vivaldis im Blick hat, vermag zu erfassen, wie scharf Minasi und die Scintilla die kleinteiligen Verläufe zeichnen – und mit welcher Kunst sie das Mosaik doch wieder zu einem Ganzen fügen.

Antonio Vivaldi: Le quattro stagioni. Giuseppe Verdi: Les Vêpres siciliennes, daraus Les Saisons, das Divertissement aus dem dritten Akt. Orchestra La Scintilla, Riccardo Minasi (Leitung). Philharmonia Rec 0112 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2019).

Italianità aus Dresden – mit Marek Janowski

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Das lag nun nicht eben nahe. Der Dirigent Marek Janowski wird als Spezialist für das deutsche Repertoire geschätzt, seine Beschäftigung mit Richard Wagners «Ring des Nibelungen» zum Beispiel setzte Marksteine. Auch der französischen Musik hat er sich genähert, wozu er als langjähriger Chefdirigent des Orchestre philharmonique de Radio France reichlich Gelegenheit hatte. Aber nun: «Cavalleria rusticana» von Pietro Mascagni in einer Aufnahme aus Dresden und Marek Janowski als Maestro concertatore e direttore d’orchestra ganz all’italiana. Die Überraschung ist perfekt – und gelungen. Mascagnis Einakter erklingt in hohem Masse idiomatisch und zugleich in jener feurigen Präzision, die Janowskis Wirken auszeichnet.

So untypisch, wie sie erscheint, ist die Wahl des Werks allerdings nicht. In der «Cavalleria rusticana» spielt das Orchester, zusammen mit dem eher klangmalerisch eingesetzten Chor, die Hauptrolle. Bevor das gut einstündige Stück in Gang kommt, nimmt sich Mascagni eine Viertelstunde lang Zeit für eine ausserordentlich vielgestaltige Zeichnung der Atmosphäre. Das alte Kirchlein mit seiner Orgel und seinem hohem Glöckchen, die Orangenbäume mit ihren überreifen Früchten, das naive Gottvertrauen und die damit verbundene strenge Ordnung der Gesellschaft – all das wird hier nach der Art eines mit musikalischen Mitteln gestalteten Bühnenbilds ausgelegt. Und meisterlich ausgelegt wird es, denn die Dresdner Philharmonie, das Orchester der Stadt, das 2017 im Kulturpalast einen hochmodernen Konzertsaal erhalten hat, erweist sich als ein Klangkörper von mitreissender Ausstrahlung – und der von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitete MDR-Chor aus Leipzig steht ihm in nichts nach.

Auch nach der Einleitung entfaltet sich keine grosse Geschichte, vielmehr folgt der Katastrophe erst einmal jenes «intermezzo sinfonico», das in den Wunschkonzerten gern gesehener Gast ist. Enorm ist freilich die auf engstem Raum erzeugte dramatische Spannung. Turiddu hat seine Braut Santuzza mit der Gattin Lora des Fuhrhalters Alfio hintergangen. Mitten im Ostergottesdienst verrät es die Betrogene dem Gehörnten – der natürlich Rache schwört. Wie die Gläubigen aus der Kirche strömen, begegnen sich die beiden Herren; Alfio beisst Turiddu ins rechte Ohr, was der Tunichtgut ohne Umschweife versteht. Das hinter der Bühne ausgetragene Duell überlebt er nicht.

Musikalisch wird das in blühenden Farben geschildert. Marek Janowski entlockt der Dresdner Philharmonie, der er seit einem knappen Jahr als Musikdirektor vorsteht, opulenten, reich abgestuften Klang; er baut grosse Bögen, die er mit geschmeidiger Nuancierung der Tempi belebt, und sorgt für prägende rhythmische Präzision. Und die fünf Rollen im Spiel sind, wiewohl mehrheitlich amerikanischer Herkunft, ausgezeichnet besetzt. Fünf der Rollen sind es, weil mit der alten Lucia, der Mutter Turiddus, eine Vertrauensperson ins Spiel kommt, die das Scharnier des Geschehens bildet – und was Elisabetta Fiorillo hier bietet, lässt erfahren, was eine italienische Altstimme sein kann. Der Tenor Brian Jagde gibt den Turiddu mit sinnlichem Schmelz, Melody Moore die Santuzza mit leuchtendem, vibratogesättigtem Sopran. Der in der Tiefe verankerte Bariton von Lester Lynch bringt die düstere Ehrbarkeit des Alfio zur Geltung, während Roxana Constantinescu mit ihrem hellen Mezzosopran eine gefährlich verführerische Lola einbringt.

Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana. Mit Melody Moore (Santuzza), Brian Jagde (Turiddu), Roxana Constantinescu (Lola), Lester Lynch (Alfio), Elisabetta Fiorillo (Lucia), dem Chor des MDR Leipzig, der Dresdner Philharmonie und dem Dirigenten Marek Janowski. Pentatone 5186772 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).