Alt und Neu gesellt sich gern

Badenweiler Musiktage im Frühling 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Es geht also weiter. Fast 45 Jahre lang hat Klaus Lauer die von ihm 1973 ins Leben gerufenen Badenweiler Musiktage geleitet. Letzten Herbst har er sich von dieser Aufgabe zurückgezogen und die Leitung des zwei Mal im Jahr durchgeführten, hochstehenden Kammermusik-Festivals im südlichen Schwarzwald seiner Nachfolgerin Lotte Thaler übergeben (vgl. Mittwochs um zwölf vom 15.11.17). Sehr zu Recht hat die Musikologin und Journalistin Kontinuität in Aussicht gestellt; zugleich hat sie jetzt, in ihrer ersten Ausgabe, erkennen lassen, in welcher Weise sie eigene Akzente zu setzen vermag. «Heut‘ und ewig» hiess das Motto, das in seiner poetischen Formulierung ein Gefühl für das Vergehen der Zeit und, auf der anderen Seite, für das Bestehenbleiben, zum Beispiel singulärer Leistungen, evoziert. Es entstammt einem Gedicht Goethes, dessen Vertonung Wolfgang Rihm 2007 abgeschlossen hat – und Rihm, einer der bedeutendsten Komponisten unserer Tage und regelmässiger Gast bei den Badenweiler Musiktagen, durfte hier nicht fehlen. «Heut und ewig» schien nämlich auch zu bedeuten, dass es auch mit der komponierten Musik weitergeht, jedenfalls sprachen die Programme mit ihren kreativen Verbindungen von Alt und Neu in aller Deutlichkeit davon.

Zum Beispiel an jenem unerhört eindrucksvollen Liederabend, an dem sich nicht nur der Bariton Hans Christoph Begemann und der Pianist Thomas Seyboldt trafen, sondern auch Wolfgang Rihm und Franz Schubert. Und dies in zwei Werkgruppen: mit Gedichten von Goethe einerseits, mit solchen von Heine andererseits. Der Komponist von heute, der Texte aus dem 19. Jahrhundert vertont, wie es sein gut 150 Jahre zuvor geborener Kollege tat, das mag einen bildungsbürgerlichen Zug tragen. Bei Rihm fällt das aber nicht ins Gewicht. Rihm sah sich immer in einem grossen Traditionsstrom und leugnete bei aller Eigenheit seiner Handschrift nie seine innige Verbindung mit Altvorderen. Er kann sich das erlauben, weil sein Vorrat an musikalischen Ideen unerschöpflich scheint und weil, auch wenn er sich aktiv der Tradition nähert, stets so viel Neues auf Tapet kommt, dass kein Déjà-vu entsteht. Vor allem aber sind die von Rihm ausgewählten Texte so besonders, dass sich die kompositorische Beschäftigung mit ihnen geradezu aufdrängt. Die im Vokalen ausserordentlich textgenaue und im Instrumentalen hochgradig farbenreiche Präsentation durch Begemann und Seyboldt liess an all dem keinen Zweifel.

Bei den Goethe-Liedern wurde der Block mit den Vertonungen Schuberts eingerahmt von «Sehnsucht und Nachtgesang» (2014), «Heut‘ und ewig» sowie am Ende der äusserst speziellen «Harzreise im Winter» von 2012. Im Falle Heines folgten die sechs einzigen Lieder, die Schubert auf Texte dieses Dichters komponiert hat, sie stammen alle aus dem «Schwanengesang», dem Zyklus «dort wie hier» (2015), bei dem Wolfgang Rihm, die Idee muss man erst haben, ein Gedicht Heines sieben Mal in unterschiedlicher Weise vertont hat. Da kam es zum Höhepunkt des Abends, denn Begemann wie Seyboldt, ein durch langjährige Übung bestens aufeinander eingespieltes Duo, sind Virtuosen im Umgang mit dem Leisen – und «dort wie hier» soll ja als eine Meditation im Pianissimo aufgeführt und gehört werden. Bei Schubert dagegen konnte es vital, ja dramatisch werden, etwa in dem drängenden Zug, den «Rastlose Liebe» entwickelte, oder im Grauen des «Doppelgängers», dessen Nachspiel radikale Konturen annahm. Überhaupt beeindruckten hier die enorme Diversität der Ausdrucksformen und die Einlässlichkeit, mit der sowohl der Sänger als auch der Pianist den Stücken auf den Grund gingen. Dass es dabei bisweilen, zumal in den Schlussmomenten der Lieder, zu einer Art Zelebrieren kam, musste und konnte mit etwas Nachsicht hingenommen werden.

Nicht weniger anregend waren die Verzahnungen in einem Programm, das an den hundertsten Geburtstag Bernd Alois Zimmermanns erinnerte. Die drei Solosonaten für Geige, Bratsche und Cello, die Zimmermann zwischen 1951 und 1960 komponiert hat, erscheinen selten im Konzertsaal – was wenig erstaunt, sind sie doch von kaum zu bewältigender Schwierigkeit. Grossartig, wie Ilya Gringolts die Virtuosität der Geigensonate blitzen liess und wie James Boyd die schwarze Depression der Bratschensonate zur Geltung brachte; die Cellosonate mit David Eggert, der kurzfristig für den erkrankten Thomas Demenga eingesprungen war, musste für uns leider einer unumgänglichen Reisedisposition weichen. Der Moment geriet ohne Zweifel nicht weniger hochstehend, denn der aus Kanada stammende Cellist trug massgeblich zur Wirkung des Trios in B-dur, D 471, von Schubert bei – einem Fragment, das ganz im Geiste Mozarts geschrieben ist. Mozart selbst war mit seinem grossen Duo in G-dur, KV 423, vertreten, in dem Gringolts und Boyd impulsiv mit dem Tempo arbeiteten und sorgsam artikulierten – mithin zu äusserst lebendigem Dialogisieren fanden. Zum Schluss gab es Ludwig van Beethovens Streichtrio in D-dur, op. 9, Nr. 2. Zimmermann und schönste Musik im Tonfall der Klassik, das machte den Reiz dieser blendend komponierten und grandios interpretierten Werkfolge aus.

Starke Gegensätze prägten auch das Eröffnungskonzert; es stand im Zeichen der Verbindung zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Kulturraum, die Klaus Lauer zu einer wichtigen Schiene in seinen Programmen ausgebaut hatte und die Lotte Thaler nun fortführt. Mit dem Diotima-Quartett aus Paris war eines der führenden Ensembles im Bereich der neuen Musik verpflichtet, und dass dieser Ruf gerechtfertigt ist, erwies das Streichquartett in g-moll (1893) von Claude Debussy, das Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Franck Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello) in einer Sinnlichkeit sondergleichen aufblühen liessen. Ganz anders das zwölf Jahre später entstandene Streichquartett Nr. 1 in d-moll, op. 7, von Arnold Schönberg, das die Chromatik bis kurz vor die Atonalität hochtreibt, das in mancher Hinsicht aber an die späten Streichquartette Beethovens anschliesst und nicht ohne Druck auskommt. Geriet dieses Stück dem Diotima-Quartett klanglich und dynamisch etwas pauschal, so fesselte das Ensemble in der Mitte des Programms mit «sogni, ombre e fumi», einem 2016 entstandenen Streichquartett von Tristan Murail. In einen fast tonlos gehauchten Beginn wirft die Bratsche Pizzicati und weiche Akkorde ein, die übrigen Instrumente reagieren mit kurzatmigen Bewegungen, dazu kommen bald mikrotonal verfärbte Klänge, bis sich alles in einem Unisono der beiden Geigen beruhigt – so haptisch gestaltet Murail eine Folge von Verläufen, die von klaren Konturen leben und den Zuhörer auf Anhieb gefangen nehmen. Auch das gibt es: neue Musik, die sich verständlich macht, ohne auf Anbiederung zu setzen. In Badenweiler ist sie zu hören.

«Echos – Ferne Erinnerungen» – so ist die Herbstausgabe der Badenweiler Musiktage überschrieben. Sie findet vom 8. bis zum 11. November statt. Und bringt etwa das Streichquartett op. 1 von Glenn Gould mit dem Minguet-Quartett, einen Auftritt des Arditti-Quartetts mit dem Countertenor Jake Arditti sowie die «Monologe» von Bernd Alois Zimmermann und Ferruccio Busonis «Fantasia contrappuntistica» mit dem Klavierduo Grau-Schumacher.

Die Cellosonaten von Brahms in neuem Ton

Ein Abend mit Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud in La Chaux-de-Fonds

Von Peter Hagmann

 

«Quelle salle, mais quelle salle», rief der Cellist Jean-Guihen Queyras seinen Zuhörern zu, bevor er ihnen eine erste Zugabe ankündigte. Dem kann man sich vorbehaltlos anschliessen: Die Salle de musique von La Chaux-de-Fonds gehört zu den besten Konzertorten dieses Landes und weit darüber hinaus – zumal jetzt auch das im Haus gelegene Restaurant wieder offen ist und niemand mit knurrendem Magen auffallen muss. Schon das Entrée, Moderne im Geist der 1950er Jahre, erregt Aufmerksamkeit und erzeugt Wohlgefallen. Wer in den ersten Stock gelangt, wird ins Foyer eingeladen – das nun allerdings nicht Teil des Musiksaals bildet, sondern zu dem gleich daneben gelegenen Theater von 1837 gehört, das ebenso renoviert und im Originalzustand erhalten ist wie die Salle de musique. Dieser Konzertsaal – mit seinen 1200 Plätzen etwas kleiner als der Musiksaal im Basler Stadtcasino und der Grosse Saal in der Tonhalle Zürich, für eine Stadt wie La Chaux-de-Fonds mit ihren knapp 40’000 Einwohnern aber sehr gross – ist ganz in einem dunklen, nirgends vernagelten, nur geleimten Holz gehalten und bietet eine Akustik, die in ihrer Weite und gleichzeitig ihrer Präsenz tatsächlich ihresgleichen sucht.

Kein Wunder, trafen sich in La Chaux-de-Fonds die Besten der Besten. Sie taten es in den Konzerten der Société de musique, die 1893 gegründet wurde, in diesem Jahr also auf 125 Jahre des Bestehens zurückblicken kann und das mit einer kleinen, edlen Festschrift getan hat. Camille Saint-Saëns, Eugène Ysaïe, Pablo Casals, Fritz Kreisler, Ferruccio Busoni, Artur Rubinstein, Wilhelm Backhaus, Dinu Lipatti, Elisabeth Schwarzkopf waren unter jenen, die schon vor der Eröffnung der Salle de musique 1955 nach La Chaux-de-Fonds gekommen sind. Ihnen schlossen sich Mstislav Rostropowitsch, Arturo Benedetti Michelangeli, Yvonne Loriod und Olivier Messiaen, später Radu Lupu, Emmanuel Pahud, die Gebrüder  Capuçon oder Grigory Sokolov an. Nicht zu vergessen, dass die Salle de musique Ort legendärer Schallplattenaufnahmen war. Claudio Abbado hat an diesem Ort mit Viktoria Mullova zusammengearbeitet, der Pianist Andreas Haefliger hat viele seiner Beethoven-Aufnahmen hier gemacht. Und wenn sich die sogenannten Majors inzwischen aus dem Markt verabschiedet haben, sind es heute die kleineren Labels, die trotz angeblicher Krise des CD-Marktes munter Einspielungen erstellen und dafür nach wie vor gern die Salle de musique in der jurassische Uhrenmetropole aufsuchen.

Jetzt war die Reihe an dem jungen französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras und seinem Landsmann Alexandre Tharaud am Klavier. Sie spielten die beiden Sonaten für Klavier und Violoncello von Johannes Brahms – und fingen einigermassen schwach an mit Johann Sebastian Bachs Gambensonate in D-dur BWV 1028. Queyras artikulierte lebendig und vielgestaltig, aber Tharaud blieb ein Schatten seiner selbst. In der edlen Absicht, den Cellisten nicht zu bedrängen, verzog er sich in ein gehauchtes Pianissimo, was dazu führte, dass der Bass nicht zum Fundament werden konnte und das Konzertieren der Oberstimme unterbelichtet blieb – dass in dieser Sonate ein Trio mit Solostimme, Bass und rechter Hand entsteht, war nicht zu hören. Überdies offenbarte der Pianist einen Hang zum Nähmaschinen-Barock, der doch wohl endgültig überwunden ist. Wesentlich besser geriet die zweite Ergänzung mit den vier Stücken für Klarinette und Klavier (in der Version für Violoncello und Klavier) op. 5 von Alban Berg. Der lyrische Grundzug des ersten Stücks, der depressive Charakter des zweiten, die Webern-Nähe des vorbeihuschenden dritten und die explosive Expressivität des vierten mit seinem gewaltigen Schluss-Cluster – all das klang grossartig und in vollendeter Balance, dies bei ganz geöffnetem Flügel.

Auch bei Brahms blieb das Klavier merklich unterbelichtet, wenigstens bei der zweiten der beiden Sonaten, die Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud als erste präsentierten. Es widersprach dem von Brahms formulierten Titel, in dem die Sonaten als Werke für Klavier und Violoncello benannt werden; um Cellostücke mit Klavierbegleitung – das suggerierte leider auch der Programmzettel der Société de musique – handelt es sich hier gerade nicht, die beiden Partner sollen jederzeit auf Augenhöhe agieren. Indes wird das klangliche Ungleichgewicht auf die abendliche Performance zurückzuführen sein, denn bei der inzwischen von Erato/Warner publizierten CD-Aufnahme tritt das Problem nicht auf; und selbst wenn da der Tonmeister nachgeholfen hat, kann man davon ausgehen, dass die beiden Musiker das Resultat abgesegnet haben, mit dem Klangbild also einverstanden waren.

Wichtiger als das Problem der Balance – das sich später bei der Wiedergabe der ersten Sonate deutlich relativiert hat – erscheint indessen der Umstand, dass sich in den Auftritten der beiden Musiker aus Frankreich jenes neue Brahms-Bild offenbart, das sich zunehmend verbreitet. Wer in Aufnahmen aus früheren Zeiten hineinhört, mit Grössen wie Jacqueline du Pré, Mstislav Rostropowitsch oder Mischa Maisky, wird sogleich feststellen, dass der fleischige, von heftigem (und durchgehendem) Vibrato getragene Brahms-Ton bei Jean-Guihen Queyras abgelöst ist durch eine Bogenführung ohne Druck, durch Vielfalt der Artikulation und effektvolle Differenzierung des Vibratos, während Tharaud das kontrapunktische Moment in seinem Part mit aller Sorgfalt, auch aller Lust herausstellt. Es herrscht hier jener eher helle, transparente Ton, den Brahms selbst geschätzt hat, wie ein lobender Satz des Komponisten an die Adresse des Dirigenten Felix Weingartner überliefert. Zu hören war es in La Chaux-de-Fonds, hart an der Schweizer Landesgrenze. Die Reise dorthin lohnt sich allemal.

Johannes Brahms: Sonaten für Klavier und Violoncello Nr. 1 in e-moll op. 38 und Nr. 2 in F-dur op. 99, Ungarische Tänze. Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexandre Tharaud (Klavier). Erato 019029573934 (1 CD, aufgenommen 2017).

Das Streichquartett – ungebrochen am Leben

Haydn und Tschaikowsky mit dem Schumann-Quartett

 

Von Peter Hagmann

 

Wer glaubt, das Streichquartett sei zu elitär, um zu überleben, dürfte sich täuschen. Wohl noch nie in der gut zweihundertjährigen Geschichte dieser Gattung hat es so viele so herausragende Streichquartette gegeben, wie es heute der Fall ist. Dafür kann mancher Grund genannt werden. Der erste betrifft die Ausbildung an den Musikhochschulen, die in der jüngeren Vergangenheit bedeutend an Qualität gewonnen hat. Die jungen Musikerinnen und Musiker werden sodann nicht nur gut, sondern auch in grosser Zahl ausgebildet, während auf der anderen Seite, bei den Orchestern beispielsweise, in vielen Gegenden Europas gespart und abgebaut wird – weshalb die Gründung eines Ensembles oder der Beitritt zu einem solchen trotz prekärer Einkommenslage zu einer wichtigen professionellen Perspektive geworden ist. Nicht zu vergessen ist schliesslich, dass all diese Ensembles nicht existierten, wenn es für sie kein Publikum gäbe. Und dieses Publikum gibt es – in dem hochstehenden und anregenden Streichquartettzyklus, den die Neue Konzertreihe Jürg Hochulis in der Kirche St. Peter in Zürich durchführt, war es eben wieder zu erleben.

Versammelt sind hier Zuhörer, die wissen, worauf sie sich einlassen – sonst wäre das Schumann-Quartett aus Deutschland nicht so emphatisch gefeiert worden. Die Brüder Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello) sowie die aus Estland stammende, aber in Deutschland aufgewachsene Bratscherin Liisa Randalu hatten ja auch eine ausgesprochene Rarität im Gepäck. Von Peter Tschaikowsky kennt man die Ballette und die Sinfonien, vielleicht noch das erste Klavierkonzert und das Violinkonzert; dass er aber auch drei Streichquartette komponiert hat, ist so gut wie unbekannt – in den Konzertprogrammen erscheinen diese Werke kaum je. Dabei hinterlässt gerade das dritte Quartett in der seltenen Tonart es-moll tiefe Eindrücke, zumal in einer emotional so aufgeladenen Interpretation, wie sie das Schumann-Quartett geboten hat. Den Kopfsatz mit seiner harmonisch eigenartigen Einleitung gingen sie in aller Intensität, doch ohne jedes Zuviel an Vibrato oder Glissando an. Im scherzoartigen zweiten Satz brachten sie die rhythmischen Formungen zu beinah körperlicher Gegenwärtigkeit, während sie im Trauermarsch des dritten Satzes, für den sie stark wirkende Dämpfer aufsetzten und einen ganz dunklen Ton anschlugen, zu unglaublicher Bildhaftigkeit fanden – man sah förmlich die Mönche vorbeiziehen, welche die leeren Quinten hier andeuten. Um so befreiender dann das Finale mit seiner orchestralen Extraversion.

Zuvor hatte es einen Klassiker des Repertoires gegeben, das meisterliche Streichquartett in B-dur Hob. III:78, die Nummer 4 aus den sechs Erdödy-Quartetten op. 76, die den Titel «Sonnenaufgang» trägt. Und auch dieses Werk erklang in pointierter Interpretation. Zum einen darum, weil das Schumann-Quartett eine etwas spezielle Aufstellung kennt, sitzt dem Primgeiger doch nicht der Cellist gegenüber, sondern vielmehr die Bratscherin, während der Cellist dort seinen Platz hat, wo in anderen Quartetten der Meister an der Bratsche wirkt. Das hat den entschiedenen Vorteil, dass die gern unterbelichtete Mittelstimme deutliches Relief bekommt, was dem Sonnenaufgangs-Quartett Haydns besonders zugute kommt. Schärfungen erfuhr aber nicht nur die Polyphonie, sondern auch das Klangbild. Das Schumann-Quartett gehört zu jenen Ensembles jüngerer Generation, denen der differenzierte Umgang mit dem Vibrato selbstverständlich ist. Der gerade oder mit bloss kleinem Vibrato versehene Ton hat hier auch seinen Platz, was etwa dem Anfang des Stücks seinen ganz eigenen Reiz sicherte. Musikalische Interpretation als Vergegenwärtigung, mithin als Übertragung eines mehr als zweihundert Jahre alten Kunstwerks in die Jetztzeit, war hier auf blendendem Niveau verwirklicht.

Partnerschaft – beim Wort genommen

Nicolas Altstaedt und Alexander Lonquich spielen die Cellosonaten Beethovens

 

Von Peter Hagmann

 

Wie es wohl klingen würde? Ein Streichquartett im Grossen Saal der Tonhalle Zürich mit seinen 1500 Plätzen, ein Klaviertrio im Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern vor 1800 Besuchern – das waren problematische Erfahrungen. Kammermusik, die Bezeichnung sagt es, ist nun einmal nicht für philharmonische Säle geschrieben, sie verlangt intimere Räume. Nun aber, als Veranstaltung der Neuen Konzertreihe Zürich, die fünf Sonaten für Klavier und Violoncello Ludwig van Beethovens in der Tonhalle Maag, in dem hölzernen Konzertsaal mit seinen 1200 Sitzen, den sich das Tonhalle-Orchester Zürich für die drei Jahre der Bauarbeiten in der Tonhalle am Bürkliplatz errichtet hat.

Die Überraschung zunächst: sehr gut besetzt war der Saal – obwohl die Beschilderung, die den Konzertbesucher vom Bahnhof Hardbrücke in die Tonhalle Maag locken sollte, noch immer auf sich warten lässt. Ausserdem wirkte das Auditorium frisch, auch mit jungen Menschen durchsetzt, wo doch im Bereich der klassischen Musik so gerne vom Silbersee der älteren Generation die Rede ist und vom lautlosen Sterben des Konzerts, insbesondere des kammermusikalischen Konzerts. Dann aber, und vor allem, die akustische Entdeckung: ausgezeichnet klang der Saal, hell und transparent, zugleich aber auch vollmundig, da es reichlich (künstlich erzeugten?) Nachhall gibt. Freude herrscht: auch Kammermusik funktioniert in dem Provisorium, das sich so gar nicht wie ein Provisorium ausnimmt.

Das Fazit kann gezogen werden, obwohl der Cellist Nicolas Altstaedt gerade nicht zu den Dröhnern gehört und obwohl Alexander Lonquich am Steinway diesem Ansatz mit wahren Wundern aus der Welt des Leisen antwortete. Wie manche seiner Generationsgenossen setzt Altstaedt nicht auf Druck, er geht auch mit dem Vibrato äusserst sparsam um – der Prunk des Tons an sich ist seine Sache nicht. Das Cello steht bei ihm in Verwandtschaft mit der Gambe; es singt im Prinzip fein und zart, auch wenn es seine Stimme bisweilen ernsthaft zu erheben weiss. Wie es in diesem Leisen singt, wie ausdrücklich und wie vielgestaltig, das war absolut hinreissend.

Mit seinem ganz geöffneten, wie für einen solistischen Auftritt eingerichteten Flügel zeigte Lonquich wiederum an, dass er sich nicht in der Funktion des Begleiters, sondern in jener des gleichberechtigten, auch gleichermassen verantwortliche Partners versteht. Damit hat es allerdings seine Richtigkeit, sind diese Sonaten doch nicht für Violoncello und Klavier, sondern, umgekehrt, für Klavier und Violoncello geschrieben. Nicht dass das Klavier die Hauptsache wäre wie in manchen der frühen Violinsonaten, es ist aber auch nicht jene Nebensache, zu der es Cellisten früherer Zeiten gemacht haben – die beiden Instrumente begegnen sich in dieser Musik ganz einfach auf Augenhöhe.

Was das heissen kann, war gleich in den ersten Takten der F-dur-Sonate op. 5, Nr. 1, von 1796 zu hören – in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz etwa, die sich abgesehen von einigen Akzenten durchwegs im Leisen abspielt. Spannend, wie hier zur Harmonie der geglückten Balance der motivische Diskurs trat, das Austauschen musikalischer Gesten zwischen den beiden Instrumenten. Noch deutlicher kam das Spannungsverhältnis im Allegro, das den Hauptteil des ersten Satzes ausmacht, zur Geltung. Es hebt mit dem ersten Thema an – das freilich vom Klavier vorgetragen wird, während das Cello die begleitenden Quinten der linken Klavierhand aufnimmt und sie zum Dreiklang erweitert. Vorzüglich war das gemacht. Und nicht zuletzt in einer Perfektion, die vor zwei, drei Jahrzehnten noch nicht selbstverständlich war – man muss nur kurz an grosse Cellisten wie Mstislaw Rostropowitsch oder Heinrich Schiff denken.

Dabei herrschten zwar leise Töne, aber vibrierende Energie – so sehr, dass in der zweiten Sonate aus dem frühen Opus 5, jener in g-moll, eine Saite riss, was Nicolas Altstaedt jedoch keineswegs aus der Fassung brachte. Er spielte sich nach der Reparatur vielmehr richtig warm, denn in der A-dur-Sonate op. 69 (1807) wird das Violoncello kurz zur Diva. Ganz allein trägt es im eröffnenden Allegro ma non tanto das Thema vor, worauf es sich auf einem tiefen E niederlässt und den Platz freigibt fürs Klavier, das nach einer kleinen Assonanz und einem gewaltig niederstürzenden Lauf das Thema in Doppeloktaven ans Licht stellt. Altstaedt hauchte, während Lonquich für einen Augenblick den Tiger aus dem Tank liess – genau aus solcher Art, Musik in Klang zu bringen, war an diesem (leider wieder völlig verdunkelten) Abend so unendlich viel zu erleben.

Im langsamen Satz dieser Sonate, einem Adagio cantabile, in dem Alexander Lonquich die Melodie bisweilen nach alter Manier asynchron klingen liess, deutete sich an, was nach der Pause in den beiden relativ späten Sonaten des Opus 102 aus dem Jahre 1815 zum zentralen Moment der Interpretation werden sollte. Es ist eine nicht in Worte zu fassende Innigkeit. Sie zeigte sich im langsamen Satz der C-dur-Sonate, ganz besonders aber jenem der D-dur-Sonate. Die beiden Musiker nahmen sich in diesem Adagio con molto sentimento d’affetto alle Zeit der Welt, und dies ohne jeden Hang zum Kitsch. Ganz leicht spielten sie die Diminutionen aus, so dass sich der Eindruck eines ruhig liegenden Sees ergab. Und sie erzeugten eine Atmosphäre der Versenkung, wie sie in dieser Intensität nur live, nur im Konzert entstehen kann.

Alle sechzehn, keinesfalls weniger

Die Streichquartette Beethovens und ein Epochenwechsel bei den Badenweiler Musiktagen

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders, nämlich fordernd und anregend, waren die Badenweiler Musiktage jederzeit. Als ich zum ersten Mal in die liebliche Gegend etwas nördlich von Basel kam, vor knapp dreissig Jahren, fanden sie noch im Hotel Römerbad statt und hiessen darum «Römerbad-Musiktage». Klaus Lauer, ihr Erfinder und spiritus rector, wirkte von Berufs wegen als Geschäftsführer des hochkarätigen Hauses in Badenweiler, hatte zugleich aber eine ausgeprägte Schwäche für klassische Musik. Weil dem Hotelier missfiel, dass in den trüben Novembertagen die Gäste ausblieben, trat der Melomane auf den Plan. 1973 gründete Lauer die Römerbad-Musiktage als ein kleines, aber eben besonderes Festival von wenigen Tagen eines verlängerten Wochenendes; es sollte die Auslastung des Hauses fördern und gleichzeitig eine ungewöhnliche Art Begegnung mit der Musik bieten. Bis 2007 leitete er das über die Jahre hin vielfach erweiterte Festival, dann zog es ihn weg: aus dem Hotel wie aus dem Schwarzwaldstädtchen. 2008 ging er für vier Jahre nach Bad Reichenhall, wo er die künstlerische Leitung des Festivals Alpenklassik besorgte; 2013 kehrte er nach Badenweiler zurück, um die Intendanz der neu gegründeten Badenweiler Musiktage zu übernehmen.

Bild Badenweiler Musiktage

In der Grundidee ging es den damaligen Römerbad-Musiktagen darum, das Erlebnis der gehobenen Hotellerie mit einem hochstehenden musikalischen Angebot zu verbinden. Da die von Lauer eingeladenen Künstler ebenfalls im Hotel wohnten, geschah diese Verbindung in intimem Rahmen. Wer sich auf einen Spaziergang aufmachte, konnte im Vorbeigehen mit dem (inzwischen verstorbenen) Pianisten Zoltan Kocsis ein Wort wechseln. Wer spät am Abend noch auf ein Glas in die Bar ging, konnte dort auf Mitsuko Uchida stossen, die am Flügel nicht genug bekommen konnte von Schubert. Die ungewohnte Nähe zwischen dem Künstler und seinen Zuhörern, sie beförderte im Publikum die Intensität der Auseinandersetzung wie den Mut, sich auf Neues einzulassen. So bildete sich hier eine Stammklientel, die sich ganz und gar dem Geist des Festivals verschrieb – die spezielle Konstellation und ihre anhaltend geglückte Konkretisierung ermöglichten es.

Zu dem in Badenweiler gelebten Geist gehörte nicht nur die Offenheit in ästhetischer Hinsicht, sondern auch intellektuelle Regsamkeit. Einführungen genossen alle Aufmerksamkeit, bisweilen waren auch Proben offen, und die kritische Anteilnahme fand auf hohem Niveau statt. Nicht zu unterschätzen war aber auch die ganz eigene Sinnlichkeit der Veranstaltung. Mag sein, dass die südbadischen Weine ihre Rolle spielten. Ebenso von Bedeutung war die im «Römerbad» gepflegte Kulinarik; nicht von ungefähr erinnere ich mich mit einigem Wohlgefallen daran, wie in den letzten Momenten der Konzerte die Düfte des anschliessenden Abendessens verbreiteten. Und kein Wunder, hat sich Heinz Josef Herbort, der damalige Musikkritiker der «Zeit», in einem Herbst nicht seinem Metier hingegeben, sondern sich als Hilfskraft in der Hotelküche verdingt – und dafür in einer kleinen Zeremonie ein Diplom sowie die vereinbarte Gage in der Höhe von einer Deutschen Mark überreicht bekommen.

Das Zentrum des Geists von Badenweiler bildete indessen eine im positiven Sinne elitäre Grundhaltung. Nur das Beste, nur das Interessanteste sollte gut genug sein. Erstklassige Vertreter ihrer Kunst waren zugegen. 1989, die Berliner Mauer war eben gefallen, konnte man Kontakt aufnehmen mit dem Komponisten György Kurtág und seiner Gattin Márta, der Pianistin, beide im Westen noch so gut wie unbekannt. Im Jahr zuvor war Elliott Carter zu Gast gewesen, der damals schon achtzigjährige Komponist aus den USA, der hierzulande selten gehörte Musik im Geist der europäischen Avantgarde schrieb. Zentralfiguren waren Wolfgang Rihm und Pierre Boulez. Als er den berühmten Komponisten und Dirigenten für einen Auftritt in Badenweiler angefragt habe, so Klaus Lauer, sei die Antwort ein glattes Nein gewesen; für ein einzelnes Konzert komme er nicht, es müsse schon eine ganze Woche sein. So kam es 1990 zu jener denkwürdigen Ausgabe der Musiktage, bei der Boulez mit dem damals noch von ihm selbst geleiteten Pariser Ensemble Intercontemporain einen denkbar breiten Horizont moderner Musik ausschritt.

Mit dem Abschied Klaus Lauers von seinem Hotel und, wenigstens vorläufig, von seinem Festival war das dahin. Allerdings nicht ein für alle Mal, wie inzwischen feststeht. 2013 wurden das Festival wiederbelebt, nun unter der Bezeichnung «Badenweiler Musiktage» und durchgeführt von der örtlichen Therme zusammen mit der Gemeinde und einer Gruppe von Sponsoren, aber nach wie vor mit zwei Ausgaben, einer im Frühjahr, einer im Herbst. Die Atmosphäre des grossbürgerlichen Hotels ist Vergangenheit, nicht aber der Geist. Einführungen gibt es weiterhin. Und am Ende der Konzerte wird jeweils ein Glas badischen Weissweins gereicht, was der Kontaktnahme förderlich ist – zum Beispiel jener mit den Musikern, die sich bald unters Publikum mischen. Und was die Programmgestaltung betrifft, ist bei den Badenweiler Musiktagen auch heute manches möglich, was andernorts ausgeschlossen wäre.

Wer wäre schon in der Lage, eine integrale Aufführung der sechzehn Streichquartette Ludwig van Beethovens an sechs Abenden aufs Programm zu setzen, die Grosse Fuge op. 133 eingeschlossen, und das dargeboten von einem einzigen Streichquartett? Bei Klaus Lauer ist so etwas möglich; er hat es seinem Publikum, aber auch sich selbst geschenkt – zum Abschluss, zum Abschied, denn mit dieser Herbst-Ausgabe des Festivals zieht sich Lauer von der Leitung der Badenweiler Musiktage zurück. Mitgetragen hat das wagemutige Projekt das Danel-Quartett, das französisch geprägte Ensemble mit Sitz in Brüssel, das schon seit 1991 besteht, im deutschsprachigen Kulturkreis aber viel zu wenig bekannt ist.

Das ist zu bedauern, handelt es sich hier doch um eine sehr spezielle, weil sehr persönlich wirkende Gruppierung. Seine Mitglieder unterscheiden sich erheblich voneinander. Der Cellist Yovan Markovich, seit 2013 mit dabei, bleibt jederzeit, auch in heikelsten Momenten, souverän und makellos, bringt zugleich aber ungeheure musikalische Energie ins Ensemble ein. Ihm zur Seite der Bratscher Vlad Bogdanas, der, wenn er denn heraustreten darf, eine Innigkeit eigenen Zuschnitts hören lässt. Noch mehr gilt das für Gilles Millet, der an der zweiten Geige den ruhenden Pol bildet, dabei aber keineswegs im Schatten bleibt, weil er so viel unaufgeregte Genauigkeit beisteuert. Das braucht es, denn Marc Danel als Primarius ist ein Feuerteufel erster Güte. Er legt sich unheimlich in den Klang und seine Verläufe hinein, und dabei zieht es ihm bisweilen vor lauter Spannung die Beine hoch – wann hat man Derartiges schon gesehen, ja gehört? Die Vielfarbigkeit der vier Musikerpersönlichkeiten findet nun aber zu einer Übereinstimmung, die nur staunen lassen kann; so eng sind sie miteinander verbunden, dass alles wie aus einem Guss, wie aus einer Geste heraus klingt.

Ein geradezu orchestraler Zugriff bestimmt die Auslegung der drei Quartette op. 59, die Beethoven für den Fürsten Rasumowsky geschrieben hat. Das heisst freilich nicht, dass die verrückten Zuspitzungen, die der Komponist hier gesucht hat, in der Fülle des Wohlklangs untergingen – nein, sie kommen erst recht als solche zur Geltung. Viele Einzelheiten bleiben dabei in Erinnerung, etwa die rhythmische Prägnanz, die, vom Primarius mit seiner fast perkussiven Bogenführung ausgelöst, das F-dur-Quartett op. 59, Nr. 1 kennzeichnet, oder das sensationell stimmende Tempo im Scherzo und im Trio des C-dur-Quartetts op. 59, Nr. 3. Im Vergleich zur Extravaganz von Opus 59 boten die drei nächsten Quartette, F-dur op. 74, f-moll op. 95 und Es-dur op. 127, spielfreudige Entspannung. Mit historisch informierter Aufführungspraxis hat das Danel-Quartett nichts am Hut. Dennoch wurde in der Maestoso-Einleitung zum Kopfsatz von Opus 127 ebenso sorgfältig wie phantasievoll mit dem Einsatz des Vibratos gearbeitet. Während sich in dem unglaublich ausladenden Adagio dieses Quartetts wieder Wunder an Tempogestaltung ereigneten.

Bild Badenweiler Musiktage

Der gewaltige Schlusspunkt war ein Abschied ganz nach dem Geschmack von Klaus Lauer. Im kommenden Frühjahr geht es jedoch mit neuer Energie weiter. In der Musikologin Lotte Thaler, noch für kurze Zeit als Musikredaktorin beim SWR tätig und als langjährige Besucherin, bisweilen Mitwirkende, mit den Badenweiler Musiktagen vertraut, ist genau die richtige Nachfolgerin gefunden worden. Auch wenn sie ihre eigenen Akzente setzt, bleibt sie dem Geist von Badenweiler treu. «Heut‘ und ewig» lautet das Motto ihrer ersten Ausgabe – was heisst, dass das Kernrepertoire seine Bedeutung bewahrt, dem Hergebrachten aber Neues beigesellt wird. Indem sie an den hundertsten Todestag von Claude Debussy und den hundertsten Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann erinnern, führen die Badenweiler Musiktage im Frühjahr 2018 die traditionelle Verbindung zwischen dem Deutschen und dem Französischen weiter. Das Pariser Quatuor Diotima wird Tristan Murail spielen und das Streichquartett Debussys, aber auch das erste Quartett Arnold Schönbergs. Der Bariton Hans Christoph Begemann wird Lieder von Franz Schubert mit solchen von Wolfgang Rihm kombinieren. Ilya Gringolts wird mit James Boyd und Thomas Demenga unter anderem die drei für ihre Instrumente geschriebenen Solosonaten vorstellen, während Alexander Melnikov auf nicht weniger aus drei Instrumenten Klaviermusik zwischen Schubert und Strawinsky einbringt. Nicht wenig, was dieser Auftakt verspricht.

Die nächsten Badenweiler Musiktage, die ersten unter der Leitung von Lotte Thaler, finden vom 28. April bis zum 1. Mai 2018 statt. Informationen unter www.badenweiler-musiktage.de.

Orchester in der Kammer

Das Mandelring-Quartett spielt Brahms

 

Von Peter Hagmann

 

Mandelring, schon gehört? Nicht der Komponist ist gemeint, nicht der Schriftsteller, nicht der Philosoph – die gibt es nämlich alle nicht. Mandelring ist bloss eine Strasse, sie liegt in Neustadt im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz. Und weil die drei Geschwister Sebastian Schmidt (Violine), Nanette Schmidt (Violine) und Bernhard Schmidt (Violoncello) am Mandelring nicht nur aufgewachsen sind, sondern bis heute arbeiten, nennen sie das Streichquartett, das sie zusammen mit dem Bratscher Andreas Willwohl bilden, eben «Mandelring Quartett». Auf den Bindestrich, der nach deutscher Regel fällig wäre, verzichten sie, denn in Manila, Singapur, Hongkong oder Peking, wohin sie diesen Herbst unterwegs waren, wäre er bloss lästig.

Ja, sie sind gut im Geschäft – kein Wunder, sie sind ja auch schon seit dreissig Jahren dabei. In Berlin und München führen sie eigene Zyklen, wie sie seinerzeit das Alban-Berg-Quartett pflegte, und regelmässig treten sie auf den kammermusikalischen Podien Europas in Erscheinung. Nur in der Schweiz lässt die Präsenz zu wünschen übrig. 2010 waren sie bei der Kammermusik Basel, diesen Frühsommer hat sie Mirella Weingarten zur Schlossmediale Werdenberg eingeladen, wo sie die Uraufführung eines neuen Stücks von Michael Wertmüller besorgten, ansonsten: Funkstille. Aber das kann sich ja noch ändern.

Das muss sich ändern, denn die Aufnahmen, mit denen das Mandelring-Quartett auf dem nach wie vor bestehenden und funktionierenden CD-Markt in Erscheinung tritt, haben es in sich. Die Formation liebt den enzyklopädischen Ansatz. Schubert, Mendelssohn und Janáček, vor allem aber Schostakowitsch haben sich die Mandelrings zugewandt, auch eher peripheren Erscheinungen wie George Onslow und Berthold Goldschmidt, der dem Ensemble sein viertes Streichquartett widmete, galt ihre Aufmerksamkeit. Und inzwischen hat ihre Brahms-Serie Zuwachs erhalten. Nach drei Editionen, in denen den Streichquartetten von Brahms Werke von Zeitgenossen des Komponisten gegenüberstehen, legen sie jetzt auf zwei CD die Streichquintette und die Streichsextette vor. Die Aufnahmen zeugen von der einzigartigen Qualität des Quartetts und bestätigen seinen singulären Ruf.

Was auch hier als erstes auffällt, ist die opulente Sonorität. Sie ist als Markenzeichen jederzeit erkennbar, legt sich aber nicht wie eine immergleiche Farbe über die Interpretationen. Vollmundig dunkel ist der Ton des Ensembles, und das erhält in den beiden Sextetten einen zusätzlichen Akzent, weil die tiefen Stimmen verdoppelt sind. An den beiden Geigen setzen Sebastian und Nanette Schmidt aber Glanzpunkte von leuchtender Helligkeit, im langsamen Satz des B-dur-Sextetts op. 18 von 1860 kommt es sogar zu lichten, zarten, ja irisierenden Klangwirkungen. Sehr überzeugend auch, wie hier der orchestrale Duktus herausgearbeitet wird, während im G-dur-Sextett op. 36 von 1865 die eher kammermusikalisch und kontrapunktisch gedachte Faktur zur Geltung kommt.

Bestechend am Brahms-Bild des Mandelring-Quartetts ist die Verbindung von struktureller Klarheit und Sinnlichkeit der Klanggebung. Im Kopfsatz des B-dur-Sextetts erhält der Dreivierteltakt sprechende Kraft und ruhiges Fliessen zugleich. Im Andante findet die Spannung zwischen dem weiten Ambitus des Themas und seiner klanglichen Auffüllung vorzügliche Wirkung, während die Variationen äusserst phantasievoll ausgestaltet sind. Sehr schön das Tempo im Scherzo, dessen Allegro molto auffallend gezügelt ist, während im pointiert schneller genommenen Trio das feurige Temperament des Ensembles durchbricht. Es zeigt sich da eine Ausdrücklichkeit, die sich im G-dur-Sextett noch zuspitzt. Die Durchführung im Kopfsatz dieses zweiten Sextetts birst beinahe vor Spannung, während der Primgeiger den absteigenden Verläufen kurz vor Schluss des Satzes geradezu existentielle Dimension verleiht. Und dass der rhythmisch komplexe Anfang des langsamen Satzes verständlich wird, darf als Verdienst der Interpreten keinesfalls geringgeschätzt werden.

Die klangliche Homogenität, in dieser Ausprägung ungewöhnlich, geht auf langjährige Übung, aber auch die Tatsache zurück, dass für die Quintette wie die Sextette mit Roland Glassl ein zweiter Bratscher ins Spiel tritt, der ab 1999 bis 2015 festes Mitglied des Ensembles war (bei den Sextetten kommt als zweiter Cellist Wolfgang Emanuel Schmidt dazu). Mit seinem Nachfolger Andreas Willwohl scheint er sich ausgezeichnet zu verstehen, wie die nicht seltenen Momente erweisen, da die Führung von den Bratschen ausgeht. Überhaupt verleiht die klangliche Signatur des Ensembles den beiden deutlich später als die Sextette entstandenen Quintetten – jenes in F-dur, op. 88, von 1882 und jenes in G-dur, op. 111, von 1890 – eine geradezu körperliche Fasslichkeit. Der Einstieg ins G-dur-Quintett lässt hochfliegenden Enthusiasmus anklingen, weil die Begleitfiguren über der Melodie des Cellos nicht in vornehmer Zurückhaltung, sondern lustvoll präsent in den Raum gestellt werden – und dabei zeigt sich auch, dass die Zweite Geige der Ersten absolut ebenbürtig ist. Ungeheuer, welche Intensität hier durch Akzentsetzung und das Ziehen der Töne erzielt wird und wie stark die Farben ausgespielt werden – weshalb sich genau verfolgen lässt, wie in der Durchführung die Gesten durch die Stimmen wandern. Für mein Gefühl störend fallen hier (und auch in den Sätzen drei und vier) jedoch die Schleifer auf, mit denen der Primgeiger, und eben nur er, operiert.

Radikal wird dieser Satz auf die Spitze getrieben. Die Fortsetzung lebt dann aber von der ausgebauten Unterschiedlichkeit der Tonfälle, die dem Mandelring-Quartett zur Verfügung stehen. Der zweite Satz lebt von einem berührenden, gern auch ohne Vibrato gestalteten Pianissimo; die Energie kommt hier zum Beispiel aus den Triolen, die spannungsreich ins gerade Metrum eingefügt werden, und aus der Genauigkeit der Artikulation – ob über Noten Punkte stehen oder Punkte unter einem Bogen, ist nun einmal nicht dasselbe. Hinreissend dann wiederum das spritzige Finale, in dem die fünf Streicher orchestrale Färbungen erreichen, die denen in den Sextetten nicht nachstehen. Hier sind eben, frei nach Goethe, fünf vernünftige Leute im Gespräch.

Johannes Brahms: Die beiden Streichquintette. Mandelring-Quartett. Audite 97724. – Johannes Brahms: Die beiden Streichsextette. Mandelring-Quartett. Audite 97715.

Achtung: Streichquartett

Eröffnung einer neuen Konzertreihe in der Zürcher Peterskirche

 

Von Peter Hagmann

 

Auf nach St. Peter – nicht in Rom, sondern in Zürich. In der eleganten Barockkirche an der Peterhofstatt gibt es jetzt nämlich eine neue Konzertreihe mit nichts anderem als Streichquartetten. Da die Tonhalle Zürich wegen Bauarbeiten für drei Spielzeiten geschlossen ist, zieht die Neue Konzertreihe Zürich in die Tonhalle Maag; dort veranstaltet sie ihren gewohnt hochstehenden Abonnementszyklus. Zusätzlich aber bietet Jürg Hochuli, dessen Agentur die Neue Konzertreihe Zürich führt, in der Kirche St. Peter eine Reihe von sechs Abonnementskonzerten, die allein den Streichquartetten gehört. Angekündigt sind etablierte Ensembles der Spitzenklasse wie das Belcea-Quartett oder das Cuarteto Casals, aber auch eine Reihe jüngerer Gruppierungen wie das Signum-Quartett, das Quartett der Geschwister Schumann, das Armida-Quartett oder das Chiaroscuro-Quartett, das sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben hat.

Aufsehenerregend ist das. Zählen schon reine Kammermusikreihen zu den Raritäten, so bildet eine ganz dem Streichquartett gewidmete, über eine Saison gespannte Konzertserie die absolute Ausnahme. Die Kammermusik Basel, 1926 gegründet und ungebrochen lebendig, führt in ihren Programmen auch Streichquartette, aber eben nicht nur; es gab und gibt dort auch Abende mit anderen kammermusikalischen Besetzungen bis hin zu Konzerten mit vokalem Anteil. Anders als in Basel stehen in der neuen Zürcher Quartettreihe ausschliesslich Werke des klassisch-romantischen Repertoires auf dem Programm – mit Ausnahme des ersten Streichquartetts von Leoš Janáček, das von Corina Belcea und ihren drei Herren gespielt wird. Doch die Interpretationen versprechen höchstes Niveau, mithin ebenso viel Lustgewinn wie Erkenntnis. Das Streichquartett, nicht zu Unrecht als Königsgattung bezeichnet, bildet ja die Keimzelle und Experimentierstätte der Kunstmusik – und das gilt, auf die Interpretationen bezogen, bis heute. Und vielleicht noch nie gab es ein so grosses Angebot an profilierten Streichquartetten, die dieser Gattung in anregender Weise nachgehen.

Beispielhaft zu erleben war das bei der ausserhalb des Abonnements geführten Eröffnung der Neuen Konzertreihe Zürich in St. Peter. Zunächst durfte man zu Kenntnis nehmen, dass das akustisch geht: Streichquartett in diesem Kirchenraum. Gewiss, es gibt dort mehr Nachhall als im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich, doch wenn sich die Interpreten, was ihre Aufgabe ist, auf den Raum einstellen, bleibt die Verständlichkeit gewahrt – ja, es tritt sogar eine Opulenz dazu, die der Kammermusik gut ansteht. Vor allem aber ermöglichte der Eröffnungsabend die Begegnung mit einem der aufregendsten jungen Streichquartette. Auffallend am Doric String Quartet aus London ist die Tatsache, dass nicht der Primgeiger Alex Redington die Kraftquelle bildet, sondern vielmehr der hinreissende Cellist John Myerscough; das führt zu neuartigen Kräfteverhältnissen. Dazu kommt, dass Jonathan Stone an der zweiten Geige wie die Bratscherin Hélène Clément so viel Präsenz zeigen, dass die Mittelstimmen nicht im Hintergrund bleiben, sondern gemäss ihren Funktionen im musikalischen Satz mit Prägnanz in Erscheinung treten.

Das ist Musizieren im Streichquartett auf der Höhe der Zeit. Es zeigte sich auch im differenzierten, bewussten Einsatz des Vibratos; im eröffnenden Moderato des Streichquartetts in C-dur op. 20 Nr. 2 von Joseph Haydn kam es gleich zu jenem spannungsvollen Ziehen, welches das Non-Vibrato erzeugen kann. Allerdings fiel dort auch auf, wie unsorgfältig, ja geschmacklos der Primgeiger, und nur er, mit dem Portamento umgeht, dem Gleiten im Übergang vom einen Ton zum anderen. Eindrücklich dafür das Pianissimo, zu dem das Quartett etwa im Adagio des zweiten Satzes fand. Hier konnte man sich auch an belebten Trillern, an sprechenden Rezitativen und von innen heraus bewegten Tonleitern erfreuen – so macht Haydn unendlich Vergnügen. Mit dem Streichquartett in G-dur D 887 von Franz Schubert tat sich dann eine ganz andere Welt auf – eine Szenerie voller Wagnisse und Extremsituationen. Nirgends sonst, auch nicht in seinen späten Klaviersonaten, hat Schubert derart ungewöhnlich formuliert und derart weit vorausgeahnt – das war in der Auslegung durch das Doric String Quartet geradezu existentiell spürbar.

Das erste Abonnementskonzert der neuen Reihe bestreitet am Sonntag, 8. Oktober, um 17 Uhr das Signum-Quartett. Es spielt von Haydn das Streichquartett in D-dur op. 20 Nr. 4 und von Beethoven das späte Streichquartett in a-moll op. 132.

Das Quatuor Ebène häutet sich

Zum jüngsten Konzert des Streichquartetts in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Über kein Streichquartett weiss man inzwischen so viel wie über das Quatuor Ebène. Das geht natürlich zuvörderst auf das künstlerische Vermögen der vier Musiker zurück, das sie in mehr als hundert Konzerten pro Jahr unter Beweis stellen. Nicht weniger ist es aber dem wunderbaren Film «4» von Daniel Kutschinski zu verdanken, der dem Quartett als diskreter Begleiter und genauer Beobachter folgen konnte; entstanden ist daraus eine packende Dokumentation über das Leben und das Arbeiten, über Leid und Freud im Streichquartett (vgl. NZZ vom 02.06.17). Dass der Film in Zürich genau an jenem Sonntagmorgen lief, an dem abends das Quartett in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters auftrat, war dabei von besonderem Reiz.

Dies um so mehr, als sich das Quatuor Ebène nach Abschluss der Dreharbeiten grundlegend verändert hat. Sein Bratscher Mathieu Herzog trat auf Ende 2014 aus dem Ensemble aus, um sich einer Laufbahn als Dirigent zuzuwenden. Als sein Nachfolger gesellte sich zu Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure (Violinen) sowie Raphaël Merlin (Violoncello) der 1991 geborene Franzose Adrien Boisseau, der sich inzwischen schon ganz ausgezeichnet ins Ensemble eingefügt hat. Ja, mehr noch, er hat dem Quatuor Ebène eine neue, auffallend prägende und glücklich einwirkende Farbe verschafft. Boisseau erzielt auf seinem Instrument stark zeichnende Präsenz; zugleich arbeitet er prononciert mit dem geraden Ton des Non-Vibrato und mit sprechender Artikulation. Das führt zu einer auffallenden Stärkung der Mittelstimmen, aber auch der tiefen Region, die in der neuen Formation des Quartetts ein prägnantes Gegengewicht zu den Kantilenen der hohen Lagen bildet.

Zu vernehmen war das gleich zu Beginn des so gut wie ausverkauften Abends im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich – nämlich im Kopfsatz von Wolfgang Amadeus Mozarts Streichquartett in d-moll KV 421.  Die liegenden Noten, die in den ersten Takten des Werks dem Cello anvertraut sind, wurden in der Durchführung von der Bratsche mit einer ganz eigenartigen Kraft versehen, die sich später, im Moment der Reprise, wiederum fruchtbar auf die Cellostimme auszuwirken schien. Hatte es anfänglich den Anschein gehabt, der Cellist habe den jungen Bratscher unter seine Fittiche genommen und wolle ihn mit expressivem Spiel ermuntern, stellte sich in der Folge gerade der umgekehrte Eindruck ein: schien das neue Ensemblemitglied seinem Mentor Mut zu machen. Vielleicht flossen die Energien auch in beiden Richtungen – Tatsache ist jedenfalls, dass die Aufführung zu einer von A bis Z spannenden Angelegenheit geriet. Dass die Verläufe in hohem Masse greifbar wurden und die musikalische Form gleichsam von selbst heraustrat. Wann lässt sich das schon so erleben?

Von den beiden Streichquartetten Ludwig van Beethovens, die auf das Werk Mozarts folgten, schien das höchst anspruchsvolle, zerklüftete, auch enorm ausholende Spätwerk in Es-dur, op. 127, noch nicht zu vollends ausgeprägter interpretatorischer Aussage gefunden zu haben. Manches geriet da technisch, gerade was die Intonation des Primgeigers betrifft (aber darf ich das überhaupt schreiben, nachdem ich den Film gesehen habe?), nicht auf dem Niveau des Ensembles. Die Eröffnung gelang noch stark; das Maestoso fuhr einem in seiner klanglichen Intensität förmlich unter die Haut. In der Folge aber stellte sich – bei allen Schönheiten, etwa bei dem vorzüglich getroffenen Tempo im Andante con moto des zweiten Satzes – zunehmend das Gefühl ein, die Komplexität der musikalischen Erzählung sei noch nicht hinreichend in den Griff genommen und komme darum noch nicht zu ausreichender Verständlichkeit. Reines Glück herrschte dagegen im f-moll-Quartett op. 95. Blitzendes Wechselspiel der Stimmen und solistische Brillanz des Primgeigers im eröffnenden Allegro con brio, ein wunderbar erfülltes, übrigens wie im «Dissonanzen-Quartett» Mozarts vom Cellisten allein vorgegebenes Tempo im Allegretto ma non troppo, vitales Konzertieren im Finale – so und nur so muss Streichquartett sein. Und so bringen es die vier Musiker des Quatuor Ebène zur Geltung.

Daniel Kutschinskis Film «4» läuft im Kino Xenix in Zürich noch am 18. und am 26. Juni, im Kino Rex in Bern am 18. und 20. Juni 2017.

Entdeckungsreisen bei und mit Mozart

Sonaten für Klavier und Violine mit Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova

 

Von Peter Hagmann

 

Von Anne-Sophie Mutter gibt es eine schöne CD-Box mit Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie trägt den ebenfalls schönen Titel «Die Sonaten für Klavier und Violine». Allein, das ist ein Irrtum, lauten müsste der Titel nämlich «Sonaten für Klavier und Violine» – ohne den bestimmten Artikel. Die vierteilige Edition enthält 16 Stücke für diese Besetzung, wo es von Mozart doch deren 37 gibt. Die Besetzung immerhin, die wird richtig angegeben; die Sonaten sind tatsächlich für Klavier und Violine, nicht für Violine und Klavier geschrieben. Aber schon optisch, erst recht jedoch musikalisch dominiert die Geigerin das Album voll und ganz, während der originelle Lambert Orkis auch hier als ihr charmanter Begleiter im Hintergrund wirkt.

Obwohl die Box erst zehn Jahre ist, erscheint sie als Produkt einer vergangenen Zeit. Jedenfalls dann, wenn man sich den Aufnahmen der Mozart-Sonaten zuwendet, die Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova derzeit auf CD publizieren. Hier geht es wirklich um «Die Sonaten für Klavier und Violine», denn die 31-jährige Russin und der zehn ältere Franzose haben alle Stücke Mozarts in dieser Gattung und für diese Besetzung im Blick. Auch die ganz frühen des komponierenden Wunderkinds von acht Jahren, die auf dem Titelblatt der (vom Vater eilig vorangetriebenen) Druckausgabe noch als Sonaten für Cembalo angezeigt werden, die mit Begleitung der Violine gespielt werden könnten. Das ist von hohem Reiz; in den sechs Sonaten KV 10 bis 15 zum Beispiel, 1764 entstanden, gibt es viel zu entdecken. Zum Beispiel die rasant aufsteigende Tonleiter des Klaviers, die sehr ungewöhnlich in die dreisätzige C-dur-Sonate KV 14 einführt, oder den Effekt eines Glockenspiels, den der Pianist im Trio zum abschliessenden Menuett dieser Sonate zu erzielen hat.

Überraschende Einfälle eines Kindes? Das Staunen erhöht sich, wenn diese Einfälle so hochstehend präsentiert werden, wie es hier geschieht. Zum Einsatz kommen Instrumente unserer Tage; Cédric Tiberghien sitzt an einem Steinway, Alina Ibragimova spielt auf einer Violine von Bellosio aus dem späten 18. Jahrhundert, wenn auch in heute üblicher Ausstattung. Was für die Wiedergabe von Musik Mozarts gilt, was also die historisch informierte Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten ans Licht gebracht hat, das ist dem Duo aber völlig bewusst und wird von ihm auch auf dem «modernen» Instrumentarium ganz selbstverständlich eingesetzt – mit Gewinn, kommt es doch weniger auf das Instrument an sich als auf den Geist an, mit dem das Instrument behandelt wird.

Ausgezeichnet gelöst ist etwa das heikle Problem der Balance zwischen dem Klavierpart, der hier in unterschiedlichster Weise die Hauptsache darstellt, und dem der Geige, die einmal kommentierend im Hintergrund wirkt, einmal dialogisierend auf Gleichberechtigung pocht: Pianist und Geigerin konzertieren in diesen Aufnahmen auf Augenhöhe, vielgestaltig und vital. Dazu kommt zu einen, dass Cédric Tiberghien sorgsam zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen unterscheidet und so zu sprechender Artikulation findet. Zum anderen fällt prägend ins Gewicht, dass Alina Ibragimova grundsätzlich vom zurückhaltenden, geraden Ton ausgeht, das heisst: Klangfülle und Vibrato als das Besondere einsetzt und so zu unterstreichender Wirkung bringt. Welten liegen zwischen diesem neuartigen Ansatz und jenem von Mutter und Orkis.

Fünf Doppelalben soll die von Hyperion ebenso vorzüglich wie schlicht präsentierte Edition umfassen. Aufgebaut ist sie nicht chronologisch, vielmehr bietet jede der bisher erschienen Folgen eine Mischung aus frühen, mittleren und späten Sonaten, die weniger nach tonartlicher Verwandtschaft als nach stilistischer Unterschiedlichkeit zueinander gestellt sind. Wer sich neugierig auf die C-dur-Sonate KV 10 eingelassen hat, kann sich danach der ausserordentlich tief gehenden Sonate in e-moll KV 304 – das weit in die Zukunft weisende Wunderwerk eines Zweiundzwanzigjährigen. Der helle Klavierton, der diskret präsente Bass, die Leichtigkeit in der Formung der von Mozart mit einem Keil versehenen, also akzentuiert gewünschten Töne, die Unterschiedlichkeit in der Ausführung der Triller, die fast unmerklichen, aber doch ins Gewicht fallenden Veränderungen in den durchwegs respektierten Wiederholungen – all das führt zu reichhaltigem Hörerleben. Besonders anrührend im zweiten, abschliessenden Satz das «sotto voce» des Menuetts und das «dolce» im Trio, das in E-dur gehalten ist und in dieser Einspielung wie eine Insel der Glückseligen erscheint.

Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten für Klavier und Violine. Cédric Tiberghien (Klavier), Alina Ibragimova (Violine). Hyperion 68091 (Vol. 1), 68092 (Vol. 2), 68143 (Vol. 3).