Mahlers Sechste mit David Zinman

Das Tonhalle-Orchester Zürich begegnet seinem früheren Chefdirigenten

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht nur das neue Licht auf Ludwig van Beethoven prägte die knapp zwanzig Jahre, die David Zinman als Chefdirigent beim Tonhalle-Orchester Zürich verbracht hat. Fast noch nachhaltiger wirkte die Beschäftigung mit Gustav Mahler. Dessen Symphonien durchzogen die Programme der gesamten Amtszeit Zinmans – vom Debütkonzert mit der Dritten 1995 bis zum Abschied mit der Zweiten 2014. Immer und immer wieder liess er diese Partituren auf die Pulte legen, selbst die monumentale (und bis heute umstrittene) Achte erschien zwei Mal. Das schuf eine Kontinuität der Auseinandersetzung, bei der jede Wiederbegegnung einen Schritt nach vorn bedeutete. So war es auch mit der sechsten Symphonie, der «Tragischen», die Zinman jetzt bei seinem jährlichen Gastspiel, wie es seit seinem Rücktritt Tradition geworden ist, wieder zur Hand genommen hat.

Die stete Wiederholung des Gleichen, die der klassischen Musik so gerne vorgeworfen wird, hat eben durchaus ihre Vorteile. David Zinman bestätigt es, wenn er zur jüngsten Zürcher Aufführung von Mahlers Sechster bemerkt, er habe in der Zürcher Tonhalle nicht von vorne beginnen müssen, sondern an das Erarbeitete anschliessen und im Aufbau weiterfahren können. Das stimmt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich ein Orchester durch die personelle Fluktuation nach und nach verändert – denn implizit, im Kern des Klangkörpers, gibt es jenen Schatz an Überlieferung, der von Musiker zu Musikerin weitergegeben wird. Tatsächlich hat Zinman Mahlers Sechste mit dem Tonhalle-Orchester, Irrtum vorbehalten, drei Mal erarbeitet. Ein erstes Mal 2003, 2007 dann im Rahmen der bei Sony erschienenen Gesamtaufnahme der Symphonien Mahlers und schliesslich 2011, als das Tonhalle-Orchester nach Leipzig eingeladen war, wo Riccardo Chailly mit dem von ihm geleiteten Gewandhausorchester ein grosses Mahler-Fest veranstaltete.

Der Vergleich mit der CD-Aufnahme von 2007 bringt schlagend an den Tag, wie sehr die Wiederholung des Gleichen von pulsierendem Leben zeugen, wie deutlich sich nämlich eine Interpretation bei erneutem Zugang verändern kann. Gleich geblieben ist freilich die Wahl der Fassung. Mahlers Sechste, 1903/04 komponiert, ist 1906 ja in drei kurz hintereinander erschienenen Ausgaben veröffentlicht worden. Die erste Fassung vom Anfang jenes Jahres dürfte für die Uraufführung vom 27. Mai 1906 in Essen verwandt worden sein. In der zweiten Fassung, kurz nach der Uraufführung erschienen, sind die beiden Mittelsätze vertauscht, ist das Scherzo von der ursprünglich zweiten Position auf die dritte verschoben, während das Andante moderato vom dritten zum zweiten Satz geworden ist. Die dritte Fassung aus der zweiten Jahreshälfte wiederum wartet mit nicht unbedeutenden Retouchen an der Instrumentation auf, vor allem aber mit der Streichung des dritten jener drei Schicksalsschläge, bei denen ein grosser Holzhammer auf eine Kiste niederzufahren hat. Heute wird im allgemeinen diese dritte Fassung gewählt, doch fällt diese Entscheidung in keinem Falle leicht, das betont auch David Zinman. Er nehme die Fassung letzter Hand, weil Mahler (auch bei der Uraufführung?) diese Version dirigiert habe – aber im Grunde müsste er noch viel mehr lesen, um zu einer besseren Entscheidungsgrundlage zu finden.

Während also die Wahl der Fassung gleich geblieben war, zeigte das klangliche Erscheinungsbild von Mahlers Sechster in der jüngsten Deutung durch das Tonhalle-Orchester Zürich und David Zinman bedeutende Veränderungen. Auch diesmal gaben die Musiker ihrem Chefdirigenten, was sie zu geben vermögen. Sie agierten ganz und gar auf der Stuhlkante: hingegeben an die Intentionen Zinmans, reaktionsfähig und leistungsbereit bis zum Letzten, klanglich auf bestem Niveau. Mag sein, dass sich in dieser geradezu demonstrativen Identifikation auch die derzeitige Lage spiegelt, in der sich das Orchester befindet; sie ist gekennzeichnet durch die heiklen Fragen rund um den jungen Nachfolger Zinmans, der vom Wunschkandidaten zur lame duck geworden ist. Entscheidender war aber wohl die ungebrochene Kraft, mit der Zinman, mittlerweile achtzig Jahre alt, die Fäden in der Hand hielt – auch die künstlerischen. Aus einer klaren, auch als klar erkennbaren Vorstellung heraus zeigte er an, wohin die Reise gehen sollte. Es wurde eine Reise durch zerklüftete Seelenlandschaften.

Nach wie vor war der Fokus zwar auf das Strukturelle gerichtet, das blieb auch zehn Jahre nach der Aufnahme von 2007 zu spüren. Die Transparenz des musikalischen Satzes, die Sorgfalt in der Staffelung der Farben, die rhythmische Schärfe – alles war unverändert da. Hinzu kam nun aber eine Emotionalität, die für David Zinman aussergewöhnlich ist. Der Kopfsatz, dessen marschartige Unerbittlichkeit in der Aufnahme durch die vergleichsweise leichte, federnde Attacke aufgefangen ist, fand an diesem denkwürdigen Freitagabend in der Tonhalle Zürich geradezu drastische Wirkung – davon zeugte nicht zuletzt die enorme Kraftentfaltung im Orchester. Dass auf diesen Einstieg mit seiner wahrhaft durchschüttelnden, seiner auch niederschmetternden Kraft das Andante moderato folgte, hatte seine eigene Logik. Nicht nur brachte es einen dringend benötigten Moment der Beruhigung ein; seine Kantabilität, von Zinman und dem Orchester wunderschön herausgearbeitet, schuf auch einen starken expressiven Kontrast – was umzog sinnreicher erschien, als dieser langsame Satz aus dem strengen motivischen Geflecht der Symphonie heraustritt. Für das Scherzo und noch mehr für sein Trio fand Zinman Tempi, deren Gezähmtheit von bezwingender Plausibilität war, während dann das Finale mit ungeheurer Gewalt über den Zuhörer hereinbrach. Das alles war derart packend, dass es geradewegs ans Zwerchfell ging. Darüber hinaus, und vor allem, liess es verstehen, dass die biographischen Auslegungen, die Mahlers Sechste hervorrief, nicht von ungefähr entstanden sind.

François-Xavier Roth beim Tonhalle-Orchester Zürich

Transparenz und Emphase bei «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg

 

Von Peter Hagmann

 

Dass mit Arnold Schönberg beim Publikum kein Staat zu machen ist, auch nicht mit der spätromantischen Tondichtung «Pelleas und Melisande», ist ein Allgemeinplatz. Interessanter ist, dass sich das Tonhalle-Orchester Zürich bei der Aufführung von Schönbergs Frühwerk erneut von einer ganz ausgezeichneten Seite gezeigt hat. Schon in den Konzerten mit Paavo Järvi und Bernard Haitink im Dezember letzten Jahres sowie mit Kent Nagano Anfang Januar hatten sich die Musikerinnen und Musiker voll auf den Dirigenten eingelassen; sie waren damit zu Interpretationen gekommen, die in Brillanz und Aussagekraft weit über dem Durchschnitt standen. Ähnlich war es jetzt mit dem Franzosen François-Xavier Roth, einem Musiker jener neuen Art, wie sie sich heute mehr und mehr verbreitet.

Sein Profil geschaffen hat sich Roth am Pult des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, des besten Rundfunkorchesters Deutschlands, das inzwischen einer bürokratischen Massnahme zum Opfer gefallen ist. Mit diesem hochkarätigen, durch seine Wirksamkeit in der Musik des 20. Jahrhunderts bekannten Orchester hat Roth mehrere Jahre lang bei den Donaueschinger Musiktagen das Neuste vom Tage aus der Taufe gehoben, zum Beispiel das mikrotonale Konzert für acht Klaviere und Orchester des Österreichers Georg Friedrich Haas, dessen Uraufführung 2010 unvergessen ist. Von der nämlichen Überzeugungskraft sind die Einspielungen von Tondichtungen Richard Strauss‘, die Roth mit dem Orchester in den Jahren ab 2012 erarbeitet hat; sie leben von feuriger Virtuosität und erfrischender Klarheit zugleich.

Erstaunlich ist das nicht. Mit der Musik der späten Romantik und der frühen Moderne beschäftigt sich Roth seit langem – konkret seit der Gründung von Les Siècles 2003, und dort in einer besonderen Weise. Das Orchester vertritt die Richtung der historischen informierten Aufführungspraxis, es benützt für jedes der von ihm aufgeführten Werke Instrumente und Spielweisen aus der Entstehungszeit der Kompositionen. Und das eben nicht nur bei barocker oder klassischer, sondern bei jeder Art Musik. Eben erst nahmen die Musiker von Les Siècles in Reims an einer halbszenischen Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium «Israel in Ägypten» teil, während ihre jüngste CD der Musik György Ligetis galt. Ganz zu schweigen von der Orgelsymphonie von Camille Saint-Saëns, dem «Zauberlehrling» von Paul Dukas oder Claude Debussys Tondichtung «La Mer» – alles in einem Klangbild, das sich um historische Plausibilität bemüht.

Davon konnte beim Gastspiel, das Roth beim Tonhalle-Orchester Zürich gab, nicht die Rede sein – genau so wenig wie in Köln, wo François-Xavier Roth derzeit als Generalmusikdirektor der Oper und des Gürzenich-Orchesters wirkt. Es war aber nicht zu überhören, wie sehr sich die so unterschiedlich gelagerten Erfahrungen des Dirigenten in seiner Auslegung von «Pelleas und Melisande» konkretisierten. Weder liess er sich zu einem Klangbad in den spätromantischen Wogen verleiten noch setzte er anachronistisch auf die Wegweiser in Richtung Moderne. Nein, Roth liess sehr genau spüren, wie lustvoll sich Schönberg mit seinem Werk von 1903 im Fahrwasser Wagners tummelt und wie entschieden es ihn zugleich drängt, die Grenzen der harmonischen Tonalität nicht nur auszuloten, sondern zu überschreiten.

Akkurat liess Roth die Leitmotive heraustreten, die das unheilvolle Dreieck zwischen der jungen, geheimnisvollen Melisande, dem in die Jahre gekommenen, undurchsichtig bedrohlichen Golaud und dem jugendlich stürmischen, von Melisande auf Anhieb ins Herz geschlossenen Pelleas umreissen. Das gelang dem Dirigenten um so besser, als er das Klangbild jederzeit unter Kontrolle hatte, weil helle, leuchtende Transparenz sein erstes Ziel war. Herrlich, um nur diese Beispiele zu nennen, das glühende Englischhorn, die glänzenden Posaunen, die klagenden Bratschen. Dabei bildeten die Instrumentalfarben in gleichem Masse Kontraste, wie sie sich miteinander verbanden. Das Ergebnis war kunstvoll gestaltete Emphase. Ebenso sehr wurde deutlich, wie dicht gewoben diese Partitur ist. Und war zu erfahren, wie stark die Farbenkunst der französischen Impressionisten auf Musik des deutschen Kulturkreises eingewirkt hat.

Anregend war das und vom Orchester brillant umgesetzt. Für den ersten Teil des Abends, für das Klavierkonzert Nr. 1 in d-moll von Johannes Brahms, gilt das nicht im gleichen Mass. Auch hier ging François-Xavier Roth von Feinzeichnung aus: von jenem lichten Klangbild, das der alte Brahms an dem für ihn jungen Dirigenten Felix Weingartner so schätzte. Kleiner als gewohnt war die Orchesterbesetzung, der Klang dementsprechend weniger wuchtig, dafür aber äusserst spannungsgeladen. Benjamin Grosvenor, ein von vielen Seiten namhaft unterstützter Engländer, schien davon keine Kenntnis zu nehmen; er donnerte, als sässe er vor dem Chicago Symphony Orchestra in Vollbesetzung – und das in einem harten, trockenen Ton, der in seiner perkussiven Anlage den gesanglichen Zug des zweiten Satzes besonders missglücken liess. Zudem glaubte der junge Pianist, die Tempi des Dirigenten korrigieren, nämlich bei seinen ersten Einsätze langsamer nehmen zu müssen. Und wenn ein Solist, wie es zu Begin des dritten Satzes geschah, Begleitfiguren unbekümmert laut vor sich hintrommelt, wo die thematische Hauptsache doch bei den Geigen läge, gibt zu erkennen, dass die Eierschalen noch nicht ganz abgefallen sind.

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Richard Strauss: Tondichtungen. SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, François-Xavier Roth (Leitung). Hänssler Classic. – [1] Ein Heldenleben, Tod und Verklärung. CD 93299. – [2] Till Eulenspiegel, Don Quixote, Macbeth. CD 93.304. – [3] Also sprach Zarathustra, Aus Italien. CD 93320. – [4] Eine Alpensinfonie, Don Juan. CD 93.335.

Sternstunde in Zürich

Daniil Trifonov und Kent Nagano, Beethoven und Messiaen beim Tonhalle-Orchester

 

Von Peter Hagmann

 

In der Pause herrschte an der Garderobe etwas mehr Betriebsamkeit als gewöhnlich. Nicht alle Besucher aus dem Grossen Saal der Tonhalle Zürich wollten sich Olivier Messiaen und seinen «Eclairs sur l’Au-Delà» zuwenden, einem riesigen Bekenntniswerk von der Dauer einer Bruckner-Sinfonie. Dass es aber fast alle taten, spricht sowohl für die Programmgestaltung dieses einzigartigen Abends als auch für die Aufbauarbeit, die Ilona Schmiel als Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich seit gut drei Jahren leistet. Neue Musik – und Kompositionen Messiaens wirken noch immer als solche – führt inzwischen weder bei den Musikern noch bei den Zuhörern mehr zu Aufwallungen. Im Gegenteil, es gibt Interesse daran.

Bei dem Konzert, welches das Tonhalle-Orchester übers vergangene Wochenende zwei Mal gegeben hat, war der Saal jedenfalls in beiden Fällen dicht besetzt. Mag sein, dass sich Samstag/Sonntag ein Publikum einfindet, das offener ist als der Stamm der Abonnenten. Von Gewicht wird aber auch die Mitwirkung zweier prominenter Interpreten gewesen sein. Tatsächlich gilt der Dirigent Kent Nagano, der mit dem Komponisten eng verbunden war, als der wohl kompetenteste Interpret Messiaens überhaupt. Und zählt der fünfundzwanzigjährige Pianist Daniil Trifonov, vier Jahre nach Igor Levit in derselben russischen Stadt Nischni Nowgorod geboren, zu den aufsehenerregendsten Musikern der jüngeren Generation. Mit dem Tonhalle-Orchester Zürich gaben Trifonov und Nagano zur Eröffnung Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 in C-dur.

Schon der erste Akkord des Orchesters liess aufhorchen. An sich eine einfache Sache: C-dur in Oktavlage, einmal eine halbe Note lang, dann in drei Viertelnoten, ein Verlauf im Viervierteltakt. Das Einfache war aber raffiniert ausgeführt: nicht als vier gleiche Schläge, sondern mit einem weichen Akzent auf der Halben, die Viertel dann in dynamisch absteigender Repetition. Wie an manch anderer Stelle im späteren Verlauf des Stücks trat zutage, dass hier die Aufbauarbeit, die David Zinman in seinen zwei Jahrzehnten in Zürich geleistet hat, längst ihre Früchte trägt. Stellen mit wenig oder gar keinem Vibrato, Momente der griffigen Artikulation sind dem Orchester selbstverständlich. Dazu kam, dass die Musiker an der Stuhlkante sassen und in blitzschneller Reaktion jede der kleinen Gesten aufnahmen, die sich Trifonov und Nagano zuwarfen. Selten, dass sich solches Begleiten, nein: solches Konzertieren einstellt.

Das geht auch und vor allem auf Daniil Trifonov zurück, der seinen Part in absolut eigener Weise anging. Nach der weiträumig angelegten Orchestereinleitung mit dem so überraschend wie reizvoll nach Es-dur gerückten zweiten Thema setzte er ganz schlicht ein, liess aber gleich erkennen, dass er den Akzent ganz auf die Kantabilität legen würde. Die Begleitung war deutlich auf eine nachgestellte Ebene gerückt, im Vordergrund stand die melodische Linie, und die klang in einer Weise ausgesungen, dass das perkussive Moment im Klavierklang völlig vergessen ging. Was für eine Vielfalt an Tonfärbungen erzielt dieser junge Mann, wie stolz kann bei ihm ein aufsteigender Lauf wirken, mit welch sprechender Brillanz erfüllt er das Laufwerk. Das Largo nahm er so innig und so sorgsam ausgesungen, dass man die besondere Färbung der Tonart As-dur auf der Haut zu spüren vermeinte. Das Rondo dagegen wurde dann zu einem ausgelassenem Kehraus und sorgte damit, ohne dass Grelles ins Spiel gekommen wäre, für kräftigen Kontrast und die Schritt zurück in ein fröhliches Diesseits sorgte. Das war in jeder Hinsicht aussergewöhnlich.

Und dann die Sekundreibungen, mit denen die «Eclairs sur l’Au-Delà» einsetzen. Wohlklingend und opulent die Akkordblöcke, mit denen die Bläser die «Apparition du Christ glorieux» ankündigen – so sinnlich, dass die Sekund, bei der zwei unmittelbar benachbarte Töne aufeinander stossen, von der Dissonanz zur Konsonanz wird. Grossartig, wie Kent Nagano diesen leuchtenden Anfang herausmodellierte und mit welcher Wärme ihm das Tonhalle-Orchester entgegenkam. Manche Vogelstimme war zu erleben, von jener des Leierschwanzes in «L’Oiseau-Lyre et la Ville-fiancée» bis hin zum Morgengesang der versammelten Vogelschar in «Plusieurs Oiseaux des arbres de Vie». Dem Charme der Natur trat das Jenseitige mit geballter Kraft gegenüber; die sieben Engel mit den sieben Posaunen liessen erahnen, wie bedrohlich dem Komponisten der unbekannte Gott, den er erwartete, vorgekommen sein muss – ein wenig, wie es Bruckner im Adagio seiner unvollendeten Neunten zu erkennen gab. «Le Christ, lumière du Paradis» beschloss dann, von den Streichern allein getragen, diesen riesigen Gang durch das Universum der religiösen wie ästhetischen Imagination Messiaen.

Kent Nagano schien das Werk in Fleisch und Blut übergangen. Er liess die Grandiosität dieser Musik ungeschmälert zu, sorgte aber auch für stetes Voranschreiten – und vor allem band er die ungeheure rhythmische Komplexität der Partitur in ganz und gar organische Verläufe ein. Wie ihm das Tonhalle-Orchester Zürich dabei folgte, führte zu einem Abend, der sich als Sternstunde in die Geschichte eingeschrieben hat.

Der Konzertsaal blüht auch im Winter

 

Peter Hagmann

Lauter Gipfeltreffen

Zeitreisen bei und mit dem Tonhalle-Orchester Zürich

 

Dicht das Angebot, anregend die Abfolge in ihrer Vielgestaltigkeit, waches Interesse und gute Laune in den durchgehend dicht besetzten Rängen – sieht so das demnächst eintretende Absterben des Konzerts mit klassischer Musik aus? Wenn es so aussieht, ist gegen dieses aus unterschiedlichsten Gründen prophezeite Absterben nicht das Geringste einzuwenden, es ist nämlich munter, vergnüglich und sehr lebendig. Zumal für diese angeblich in den Orkus steigende Kunstgattung laufend neue Häuser entstehen: in Hamburg, in Paris, in Bochum, in Krakau etwa. Während andere wie in Zürich, Basel oder Bern tiefgreifend renoviert werden.

In der Tonhalle Zürich zum Beispiel herrschte während der vergangenen gut vier Wochen regstes Kommen und Gehen. Ein erster Überblick. Zunächst gab es ein Gipfeltreffen im Bereich der alten Musik, erschienen doch mehr oder weniger kurz hintereinander so prominente Dirigenten wie John Eliot Gardiner, René Jacobs und Thomas Hengelbrock mit ihren Ensembles. Worauf Bernard Haitink ans Pult des Tonhalle-Orchesters trat. Während eine Woche später Paavo Järvi erschien und eine derart blendend aussehende Visitenkarte auf den Tisch legte, dass er flugs zum Papabile im Rennen um die Nachfolge des glücklosen Lionel Bringuier an der Spitze des Tonhalle-Orchesters ernannt wurde.

Ganz unverständlich ist das nicht. Sogar für das Orchester nicht. Zwar hatte es laut nach Bringuier gerufen, hatte es mit Feuereifer die ersten Konzerte unter seiner Leitung vor gut zwei Jahren mitgetragen; wer damals vor dem Strohfeuer warnte und auf künstlerische Defizite hinwies, wurde ewiggestriger Haltung geziehen. Rascher als erwartet war die Luft jedoch draussen, verschlechterte sich die Beziehung zwischen dem Orchester und seinem Chefdirigenten. Nach zwei Spielzeiten wurde diesen Sommer bekannt, dass der Vertrag mit Lionel Bringuier nicht über 2018 hinaus verlängert werde. Kaum hatte man begonnen, war man schon wieder auf der Suche. Diesmal unter veränderten Voraussetzungen; die Fehler, die bei der Bestellung Bringuiers begangen wurden, sollen nicht wiederholt werden.

Paavo Järvi – ruhige Souveränität und klares Wollen

So steht jetzt jeder Gastdirigent unter erhöhter Beobachtung. Für Paavo Järvi gilt das besonders, weil er von Alter, Profil und Notorietät her gewiss passen würde. Er präsentierte sich mit einem Abend, der Züge des Massstäblichen trug. Schon allein im Programm. Im ersten Teil das Cellokonzert von Sergej Prokofjew und darauf, allerdings nur am dritten der drei Abende, «Signs, Games and Messages» von György Kurtág, nach der Pause die dritte Sinfonie Robert Schumanns, die «Rheinische» in Es-dur. Wenige Menschen im Grossen Saal der Zürcher Tonhalle dürften Prokofjews Cellokonzert von 1938 je live gehört haben; für das Tonhalle-Orchester war es offenbar eine Erstaufführung. Das Werk wird äusserst selten gespielt – auch weil es für eine ästhetische Auffassung steht, die obsolet geworden ist. Im westlichen Ausland berühmt geworden, war Prokofjew 1936 nach Russland zurückgekehrt und hatte sich dort hochoffiziell der Doktrin der sozialistischen Realismus unterworfen. Sein Cellokonzert klingt danach, es ist ein schwer verdaulicher Brocken voller Ecken und Kanten, dem ich persönlich nie mehr zu begegnen brauche. Steven Isserlis hat sich dieser Partitur verschrieben, er hat das Werk vor drei Jahren zusammen mit Paavo Järvi und dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt auf CD aufgenommen und jetzt auch in Zürich vorgestellt.

Schumanns Dritte wirkte danach wie ein Akt der Befreiung. Hell und frisch das Klangbild, dabei kräftig zupackend, aber nirgends laut, grob oder unstrukturiert. Im Gegenteil, Järvi schichtete den Satz äusserst sorgfältig und stellte hochgradig Transparenz her, er liess Nebenstimmen ins Spiel kommen und Gegenakzente setzen – das alles auf der Basis geerdeter und klar erkennbarer persönlicher Auffassungen. Schumann klang hier grundlegend anders als bei David Zinman, extravertiert, lebenszugewandt, ja optimistisch – der strahlende Ton, mit dem die Hörner immer wieder ihre Signale setzten, mag davon zeugen. Nirgends stellte sich freilich je Bombast oder Härte ein, das verhinderte die Genauigkeit im Austarieren der Instrumentalfarben, etwa in der Abmischung von Bläsern und Streichern im dritten Satz und mehr noch im vierten, wo die Ersten Geigen ohne jedes Vibrato silberhellen Seidenglanz erzeugten. Wie dort am Ende der Choral mit voller, gerundeter Kraft eintrat, wurde auch klar, warum Järvi die grosse Besetzung mit sechzehn Ersten Geigen gewählt hatte.

Bei all dem stand der Dirigent in einer Ruhe vor dem Orchester, die Souveränität anzeigte; gleichzeitig setzte er mit wenigen Energieschüben zumal der linken Hand seine Schwerpunkte. Järvi braucht das Licht nicht auf sich zu lenken, es strahlt von selbst. Analytischer Geist und Klangsinn, Erfahrung und Spontaneität – da liegt sein Geheimnis. Seine Sporen hat er längst abverdient, hauptsächlich im Konzertsaal. 1962 im estnischen Tallin als erster von zwei dirigierenden Söhnen des Dirigenten Neeme Järvi geboren, war er Chefdirigent beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt oder beim Orchestre de Paris; in dieser Funktion wirkt er derzeit beim NHK-Orchester in Tokio – und vor allem bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die in den zwölf Jahren mit ihm zu internationaler Reputation gekommen ist.  Er weiss, was er will, und bringt es unaufgeregt an den Mann, an die Frau. Das Tonhalle-Orchester reagierte darauf mit gespannter Aufmerksamkeit; es gab zu erkennen, dass es, wenn ein Dirigent etwas von ihm will, durchaus zu geben in der Lage ist – und dass dieses Geben nicht gering ausfällt. Das ist, was bei Lionel Bringuier viel zu wenig geschieht, hier aber ganz unverkrampft eingetreten ist.

Bernard Haitinks feuerfeste Gelassenheit

Wenn es darf, ist das Orchester in altgewohnter Höhe da. So war es auch beim Gastspiel Bernard Haitinks, der, mittlerweile 87 Jahre alt, Bruckners Neunte dirigierte. Ein ganz klein wenig erinnerte dieser Auftritt an die späten achtziger Jahre, als das Tonhalle-Orchester über wenig taugliche Chefdirigenten verfügte und oft unter seinem Niveau spielte. Damals kam Bernard Haitink nach Zürich, setzte Mahlers Erste an und liess das Orchester unvergesslich anders klingen. So ist es bei diesem Dirigenten. Mit Haitink am Pult nimmt jedes Orchester einen ganz eigenen Ton an – eben jenen, den nur Haitink zu erzielen vermag. Und das Tonhalle-Orchester Zürich gehört zu jenen Klangkörpern, die auf Haitinks Ausstrahlung besonders gut reagieren; nicht von ungefähr wird das Zürcher Orchester hie und da mit dem Concertgebouworkest Amsterdam, bei dem Haitink von 1961 bis 1988 als Chefdirigent wirkte, in Verbindung gebracht.

Anders als mit Paavo Järvi wird der Klang des Tonhalle-Orchesters mit Haitink leuchtend warm, ja von innen heraus glühend, offen in seinen Formanten und enorm geschmeidig. Das ist die Basis für Haitinks Blick auf Bruckner – einen Blick, der von einer tief empfundenen Menschlichkeit lebt. Die musikalischen Gestalten Bruckners bis hin zu dem riesigen, scharf dissonanten Akkord im Adagio, der in drei Anläufen seinen Höhepunkt erreicht, haben nichts Dröhnendes an sich; keine Spur von Machtausstrahlung geht von ihnen aus – auch wenn sie sich zu jenem kraftvollen Forte erheben, das sich der Organist Bruckner erträumt haben mag, von seinen Instrumenten aber nicht erhalten hat. Insofern steht Haitink, wiewohl älterer Generation, für ein jüngeres Bruckner-Bild ein; auch für ihn ist der Bruckner der Ringstrassen-Architektur, wie ihn etwa Eugen Jochum in seiner Weise so hervorragend gepflegt hat, Vergangenheit.

Darum erhalten im Kopfsatz die Triolen in dem auf das gerade Vier-Takt-Schema ausgerichteten Denken eine weiche Fügung. Darum entfalten in dem durchaus gemessen genommenen Scherzo die trocken absteigenden Viertel packende Energie, ohne dass Schneidendes oder gar Stampfendes ins Spiel käme. Und darum erhält das Adagio eine Grösse, die sich in dem ganz einfachen E-dur-Akkord der Blechbläser, in den drei Pizzicati der Streicher fallen, eine so vollkommene Erfüllung, dass man an einen fehlenden vierten Satz gar nicht mehr denken mag. Zutiefst bewegend war das wieder – nicht weniger bewegend als bei Haitinks Zürcher Aufführungen der Neunten Bruckners in den Jahren 2005 und 2010. Das Tonhalle-Orchester dankte es seinem heimlichen Ehrendirigenten mit jener Wärme, zu der es in seinen besten Momenten so einzigartig in der Lage ist.

Panorama der historischen Praxis

In den Wochen zuvor waren die Akzente von ganz anderer Seite gekommen, hatte die Aufmerksamkeit der historisch informierten Aufführungspraxis gegolten. Die Dirigenten John Eliot Gardiner (https://www.peterhagmann.com/?p=817), René Jacobs und Thomas Hengelbrock führten vor, dass diese Spielart der musikalischen Interpretation, die so reiche Innovation ins Musikleben gebracht hat, lange Zeit aber als dogmatisch, ja als ideologisch belastet galt, inzwischen eine beträchtliche Vielfalt an persönlichen Handschriften hervorgebracht hat. Und die  Zürcher Tonhalle wurde wieder einmal hörbar zu jenem Zentrum der städtischen Musikkultur, das sie in den besten Momenten ihrer Saison sein kann. Übrigens einem durchaus schweizerisch, nämlich föderalistisch geprägten Zentrum, waren doch Gardiner und Hengelbrock Gäste des Tonhalle-Orchesters, während Jacobs von der Neuen Konzertreihe Zürich eingeladen war.

Thomas Hengelbrock kam mit dem von ihm gegründeten, ein Orchester und einen Chor umfassenden Balthasar-Neumann-Ensemble. Und mit einem Programm, das seinesgleichen sucht. Er stellte Vokalmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy vor, die so gut wie nie aufgeführt wird. Werke, die das dreizehnjährige Wunderkind zeigen und einen Blick in das Todesjahr des im Alter von achtunddreissig Jahren verstorbenen Komponisten werfen lassen. Stücke auch, die von der Bedeutung des Chorgesangs im früheren 19. Jahrhundert berichten. Und nicht zuletzt Musik, anhand derer über die diffizile Religiosität ihres Komponisten nachgedacht werden kann – eines Komponisten, der einer jüdischen Familie entstammte, aber christlich getauft war, und der sich ebenso einem katholischen «Ave Maria» wie einer protestantischen Weihnachtskantate zuwenden konnte. Hengelbrock, der einen ganz ausgezeichneten Chor geformt hat, in diesen aber nicht so erstklassige Solisten inkorporiert, wie es Gardiner oder Philippe Herreweghe tun – Hengelbrock liess der wunderbaren, in ihrem blühenden musikalischen Satz unglaublich zu Herzen gehenden Musik Mendelssohns alle Gerechtigkeit angedeihen. Und das in einem Tonfall, der, auf alten Instrumenten und in tiefer Stimmung erzeugt, ebenso viel Gelassenheit wie Identifikation spüren liess.

Für René Jacobs, den RIAS-Kammerchor und das Freiburger Barockorchester gilt im Prinzip dasselbe. Jedenfalls im Falle der Harmoniemesse Joseph Haydns, einem enorm festlichen Stück Kirchenmusik, das in vollem Glanz daherkam und aus dem Quartett der Vokalsolisten Sophie Karthäuser (Sopran) und Marie-Claude Chappuis (Alt) besonders zur Geltung kommen liess. Etwas Unbehagen liess dagegen Mozarts «Requiem» zurück. Nicht wegen der Neufassung der fragmentarischen Partitur durch Pierre-Henri Dutron, die nur wenig an der Vervollständigung des Mozart-Zeitgenossen Franz Xaver Süssmayr veränderte. Stirnrunzeln löste vielmehr der Versuch des Dirigenten aus, Mozarts Stück aus dem geistlichen Kontext, dem es eben doch entstammt, herauszulösen und es zugleich von jenen Rezeptionsmomenten zu befreien, die sich ihm durch die Figur des am Wiener Hof so erfolgreichen Kontrahenten Antonio Salieri angelagert haben. Jacobs, so der Eindruck, wollte Mozarts «Requiem» einfach als ein unglaublich gut durchdachtes, hochvirtuoses Stück Musik vorstellen. Er wählte darum Tempi, welche die an der Aufführung beteiligten Kräfte enorm forderten (und deren sagenhaftes Können zeigten), die im Zuhörer bisweilen aber auch leichte Atemnot auslösten. Wirklich aufgegangen ist das nicht – so ist das Leben.

Tief in die Weite erstreckt sich der musikalische Garten, den man in der Tonhalle Zürich betreten kann. Da und dort gibt es Stellen, die etwas der Bewässerung bedürfen. Dass dieses kleine Paradies im Begriff sei, zur Steppe zu werden, davon kann freilich keine Rede sein.

Zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Peter Hagmann

Würze, Anregung, Überraschung

Wenn alte Musik wie neue und neue Musik wie alte klingt

 

Das Tonhalle-Orchester Zürich ist nicht nur das Tonhalle-Orchester Zürich. Die Reihe der Konzerte, die das Orchester gibt, wird immer wieder ergänzt durch Auftritte, für die Gäste eingeladen werden – die sonntägliche Kammermusik mit dem Schwerpunkt beim Streichquartett, die Série Jeunes an Montagabenden, die Extrakonzerte wären da zu nennen. Diese Zugaben bieten Würze und Anregung, bisweilen auch Überraschung – wie sich eben dieser Tage wieder erwiesen hat. Anfang Woche war der britische Dirigent John Eliot Gardiner zu Besuch, zusammen mit den Mitgliedern des Orchestre Révolutionnaire et Romantique, das seiner französischen Bezeichnung zum Trotz aus England stammt.

Farbwirkungen und Kontraste

Das von Gardiner 1989 gegründete und bis heute von ihm geleitete Orchester zählt zu den einflussreichsten Klangkörpern im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Massstäbe gesetzt haben CD-Publikationen mit Werken von Hector Berlioz, etwa der Symphonie fantastique oder der Oper «Les Troyens», aber auch die Einspielungen der Sinfonien Beethovens in derselben Zeit. Seine Wurzeln hat das Orchestre Révolutionnaire et Romantique freilich bei einem Chor: beim Monteverdi Choir, den Gardiner, damals 31 Jahre alt, 1964 gegründet hat, und dem er vier Jahre später das Monteverdi Orchestra beigesellte. Aus dieser Formation gingen 1977, als die Musiker auf alte Instrumente und die entsprechenden Spielweisen wechselten, die English Baroque Soloists hervor – die sich später dann, im Hinblick auf die Interpretation von Musik des 19. Jahrhunderts, zum Orchestre Révolutionnaire et Romantique weiterentwickelten.

Gardiner – er arbeitet auch regelmässig mit konventionell besetzten Orchestern, hat ausserdem 2013 eine mächtige Monographie über Johann Sebastian Bach vorgelegt, die inzwischen auch auf Deutsch vorliegt, wurde im Jahr darauf zum Stiftungsratspräsidenten des Bach-Archivs Leipzig gewählt, spricht neben Englisch akzentfrei Deutsch wie Französisch und betreibt im Südwesten Englands einen Bio-Bauernhof, der Mann muss mehrere Leben gleichzeitig führen – Gardiner setzt konsequent auf Instrumente, die aus der Entstehungszeit der aufgeführten Werke stammen. Bei der Symphonie fantastique von Berlioz führte das zu frappanten Ergebnissen, weil bei den Blechbläsern Instrumente französischer Bauart aus dem späten 19. Jahrhundert zur Verwendung kamen, die weitaus leichter klingen und somit ein transparenteres Gesamtbild erzeugen, als es bei konventionell besetzten Orchestern möglich ist.

Von diesem Ansatz aus gewann die zweite Serenade, A-dur, von Johannes Brahms, die das Gastspiel des Orchestre Révolutionnaire et Romantique beim Tonhalle-Orchester Zürich eröffnete, ihr besonderes Profil. Fünf Bässe bildeten einen Riegel vor der Orgel – so wie es seinerzeit Frans Brüggen in seiner Arbeit mit dem Tonhalle-Orchester wollte und wie es die Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal zu tun pflegen. Vor ihnen die jeweils doppelt besetzten Bläser, wobei die Hörner nebeneinander wirkten, bei den Holzbläsern die beiden Instrumentalisten jedoch hintereinander sassen. Vor den Bläsern schliesslich zehn Bratschen und acht Celli; Violinen hat Brahms in diesem Stück nicht vorgesehen.

Weil die Instrumente – schade, dass im Programm nichts Genaueres dazu mitgeteilt wurde – die Praxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts spiegelten, konnten sie die Musikerinnen und Musiker voll ausspielen, ohne dass der Klang massig wurde. Die Farben traten deutlich heraus und stellten sich nebeneinander, während sie sich im konventionellen Orchester eher vermischen. Besonderen Effekt machten hier die ventillosen Hörner mit ihren gestopften Tönen und dem daraus resultierenden näselnden Klang. Jedenfalls ergaben sich lebhafte Schichtungen – und dazu kam die klar herausgearbeitete Linearität, die das Pulsieren des musikalischen Satzes spürbar machte. Sehr schön ausmusiziert die Übergänge, etwa jener zur Durchführung im eröffnenden Allegro. Und mitreissend das in frischem Tempo genommene, ganztaktig geschlagene Scherzo, dessen rhythmische Verschiebungen ganz geschmeidig wirkten, während das Menuett des vierten Satzes geradezu Swing erhielt. In dieser Auslegung wusste das Stück, das sonst gerne schwierig, wenn nicht langweilig wirkt, ganz direkt zu packen.

Erst recht gilt das für Ludwig van Beethoven und sein viertes Klavierkonzert, jenes in G-dur, das sich durch einen ganz besonderen Lyrismus auszeichnet. Unerhört, mit welch geballter Faust im Mittelsatz der Goliath des Orchesters einfuhr, während der David am Klavier zart, ja zerbrechlich dagegenhielt. So, in dieser Art Wörtlichkeit, mit der klaren Unterscheidung zwischen Achteln und Vierteln, aber auch mit heftig zugespitzter Artikulation, ist das nie zu hören. Möglich wurde es, weil auf dem Podium eben kein Steinway stand, sondern ein Hammerflügel von Conrad Graf, ein Instrument aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, aber nicht als Original, sondern als Nachbau von Rodney Regier aus dem Jahre 1989, der von Edwin Beunk und Johan Wennick 2002 restauriert wurde. Ein wunderschönes Instrument: metallen in der Tiefe, obertonreich in der Mittellage, allerdings etwas kurzatmig im Diskant, wie es bei den Wiener Hammerflügeln nun einmal der Fall ist.

Der Tastengang offenbar sehr leicht, denn Kristian Bezuidenhout konnte die Virtuosität seiner Geläufigkeit ungeschmälert entfalten. Mit einem Arpeggio, nicht mit einem synchron angeschlagenen Akkord begann er die Einleitung des Solisten, und späterhin führte er vor, in welch phantasievoller Freiheit er mit dem Geschriebenen des Notentextes umzugehen und wie er in die Emotionalität der Musik einzudringen weiss. Allerdings: Vieles war nur in Umrissen wahrzunehmen, denn das Orchester war für den fragilen Klang des Soloinstruments eindeutig zu stark besetzt. Da und dort wurde der Zugriff doch arg handfest, was das dialogisierende Prinzip der Komposition in Schräglage brachte. Noch stärker zum Pauschalisieren und insgesamt bedauerlich enttäuschend geriet nach der Pause die Sinfonie Nr. 5 in B-dur, von Franz Schubert. Der Versuch, auch dieses gerne zur Harmlosigkeit degradierten Stück als eine grosse Sinfonie darzustellen, in Ehren, aber wenn die Musik so wenig federnde Energie bekommt, dafür so massiv auf grossen Ton getrimmt wird, verliert sie ihre inneren Dimensionen.

Sonntag und Samstag

Das war nicht das Gelbe vom Ei, nur: Kann es das im Konzert überhaupt geben? Natürlich kann es das, der Abend zuvor liess er erfahren. Was historisch informierte Aufführungspraxis im besten Fall zu erreichen vermag, führten im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich die Bläser des Ensembles «Le Concert d’Astrée» unter der Leitung von Emmanuelle Haïm vor. Dreizehn Herren, allesamt Meister ihres Fachs, waren hier versammelt, und vor ihnen stand, koordinierend und anfeuernd, eine Frau, übrigens eine herausragende Cembalistin. Und wenn da und dort ein Ton nicht ganz akkurat gelang, war das so wenig ein Thema wie bei der ebenfalls in historischer Praxis gebotenen «Entführung aus dem Serail» von Wolfgang Amadeus Mozart im Opernhaus Zürich: die Instrumente jener Zeit haben eben ihre Tücken.

Zur Einstimmung gab es einige Sätze aus «Le Nozze di Figaro», die der Oboist Alfredo Bernardini für die Besetzung mit je zwei Oboen, Klarinetten, Bassetthörnern, Fagotten, vier Hörnern und einem Kontrabass eingerichtet hatte. Hauptstück des Programms war jedoch die alles andere als alltägliche Gran Partita Mozarts, deren unbeschreiblich schönes Adagio in Miloš Formans Mozart-Film «Amadeus» von 1984 eine so besondere Rolle gespielt hat. Gerade dieses Adagio geriet ganz wunderbar tiefsinnig, dabei getragen vom Reiz der Farben, welche die alten Instrumente erzeugen. Eine wesentliche Rolle spielte hier und wie beim «Figaro» der Kontrabassist Axel Bouchaux, der jederzeit hochpräzis zur Stelle war und das musikalische Geschehen fast mehr noch als die Dirigentin in Gang hielt. Das zu beobachten war nicht weniger anregend als die Hörerlebnisse.

Gelegenheit zu ungewohnten Begegnungen bot auch das Tonhalle-Orchester selbst, und zwar Anfang November in seinem Samstag-/Sonntag-Abonnement. Äusserst speziell das Programm, so anregend wie anspruchsvoll in Werkwahl und Ablauf. Die Eröffnung machte «Scheherazade.2», eine «dramatische Sinfonie» oder vielleicht eher eine Sinfonische Dichtung für Violine und Orchester des bald siebzigjährigen John Adams, des jüngsten Komponisten aus der Trias der amerikanischen Minimalisten. Wer den Eindruck hat, die neue Musik Westeuropas habe sich in einer Sackgasse verrannt, kann bei dieser ästhetischen Richtung Trost suchen – ob er ihn findet, ist eine andere Frage. Leila Josefowicz, als Wunderkind und Geigensternchen bekannt geworden, inzwischen jedoch eine engagierte Vertreterin neuer Musik, nahm den ihr auf den Leib geschriebenen Solopart fulminant in die Hand: mit geradezu sportlicher Kraft und souverän bis in die letzten Schwierigkeiten hinein. Mit der «Scheherazade» von Nikolai Rimsky-Korsakow, dem Vorbild, hat Adams‘ fast einstündiges Werk allerdings eine fatale Gemeinsamkeit: Es hat rasch seine Zenit erreicht, verliert sich bald in Redseligkeit und klingt eigenartig verbraucht.

Daran vermochte auch Alexander Liebreich am Dirigentenpult nichts zu ändern. Das Tonhalle-Orchester Zürich war zwar willig bei der Sache, aber vielleicht hat es dem interpretatorischen Zugriff doch an Biss gefehlt. Davon sprach das Concert Românesc, ein ganz frühes Werk von György Ligeti, dessen Witz eher hinter vorgehaltener Hand sprühte, erst recht aber «Tod und Verklärung», die Tondichtung von Richard Strauss. Hier herrschte kapellmeisterliche Tüchtigkeit. Zug und Extraversion, beides beinhaltet und fordert diese Musik ganz explizit, wollten sich aber nicht einstellen. Es war auch Samstag, nicht Sonntag.

*

Zur Bach-Monographie Gardiners vgl. Gardiner über Bach in der NZZ.

René Jacobs beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Peter Hagmann

Alte Musik in neuer Freiheit

Haydns «Jahreszeiten» mit René Jacobs in der Tonhalle Zürich

 

Eine unverkennbare Art federnder Energie hatte die Interpretationen von René Jacobs schon immer ausgezeichnet – dies im Verein mit einer Kunst der Phrasierung, die sich bei Vokalmusik stets eng an den Sprachverlauf anlehnte und die dadurch gewonnenen Prinzipien der musikalischen Formung auf den Bereich der Instrumentalmusik übertrug. In den letzten Jahren allerdings hat sich die Handschrift des flämischen Dirigenten, bekannt als einer der prominentesten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, in einer bemerkenswerten Weise erweitert. Eine klangliche Opulenz, wie sie im Bereich der alten Musik vergleichsweise wenig verbreitet ist, zog in sein Musizieren ein und eröffnete ihm ganz neue Perspektiven. Ahnungen davon hatten schon die äusserst reichhaltigen, phantasievollen Ausgestaltungen des Continuo-Parts in den Aufnahmen der Opern Mozarts vermittelt. Vollends bestimmend wurden die neuen ästhetischen Auffassungen dann aber in den Einspielungen der beiden grossen Passionen Bachs.

Diese Weiterungen prägten auch das späte Debüt von René Jacobs beim Tonhalle-Orchester Zürich. Wie ihm bei den Passionen Bachs die Räumlichkeit, mithin die Aufstellung von Chor und Orchester wichtig war, spielte Jacobs bei der Wiedergabe von Joseph Haydns Oratorium «Die Jahreszeiten» in der Tonhalle Zürich ganz gezielt mit der Positionierung der Schallquellen. Die Streicher waren in deutscher Weise angeordnet – mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten und den tiefen Stimmen auf der linken Seite. Die Trompeten sahen sich zusammen mit der Pauke nach rechts gerückt, während die Posaunen von der hinteren Mitte aus erklangen. Und für die Jagdszene im «Herbst» antworteten sich zwei Hörnerpaare links und rechts oben, wobei für diese antiphonale Anlage die Hornstimmen aufgeteilt wurden.

Dazu kommt in Jacobs‘ neuer Ästhetik die Lust am extravertierten Klang. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis verbunden war zum Beispiel die Verminderung der Basswirkung; der Bass wurde zurückgenommen und verschlankt – angesichts der Tatsache, dass sich diese Art des Musizierens anfänglich geradezu obsessiv vom schweren, basslastigen Ton der spätromantischen Interpretationstradition abzusetzen suchte, nichts als verständlich. Für René Jacobs ist die Zeit der Fundamentalopposition freilich längst überwunden (wenn sie für ihn je existiert hat). In den Aufnahmen der beiden Passionen Bachs klingt der Bass mindestens so kräftig wie seinerzeit bei Karl Richter – und so erstaunt nicht, dass bei den Zürcher «Jahreszeiten» das Kontrafagott munter mitbrummte: eingesetzt nach der Art eines Orgelregisters, das da und dort den Boden verstärkte und knarrend Farbe beitrug.

Das alles hat zu einem äusserst prachtvollen Klangbild geführt. Und das Tonhalle-Orchester Zürich, das sich seit den zwei Jahrzehnten mit David Zinman manches aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis zu eigen gemacht hat, war voll mit von der Partie. Grossartig die Virtuosität der Naturhörner, auch jene der Trompeten und Posaunen in alter Mensur. Und alle Musiker schienen ihr Bestes zu geben, auch wenn das, was sich bei René Jacobs von selbst versteht, nicht unmittelbar zu ihrem Alltag gehört. Bestens ins Geschehen eingefügt auch die Zürcher Sing-Akademie, die ein letztes Mal von Tim Brown vorbereitet war. Sehr agil klang der Chor, homogen und transparent zugleich; und als beim Lobgesang auf den Wein im «Herbst» ein zweites Schlagwerk mit Schellenbaum, Tambourin und Trommel dazu trat, wurde die Stimmung geradezu ausgelassen.

Ein Vergnügen erster Güte wurde diese Aufführung von Haydns «Jahreszeiten» – zu dem die drei Vokalsolisten nicht wenig beitrugen. Johannes Weisser (Bass) schien ein wenig unter Druck; im Leisen verlor seine Stimme an Substanz, im Lauten dagegen an Klarheit des Timbres. Die beiden anderen Solisten boten jedoch exquisite Leistungen: Marlis Petersen (Sopran) mit Lieblichkeit und Beweglichkeit, Werner Güra (Tenor) mit verschmitztem Humor und einem Obertonreichtum sondergleichen – und wie elegant der Sänger, wenn er in oberste Regionen zu steigen hatte, Elemente der Kopfstimme beimischte, war hohe Kunst. Zusammen mit dem farbenfrohen Orchesterklang führte die vokale Vitalität dazu, dass aus dem Oratorium bisweilen geradewegs eine Oper wurde.

Festspiele Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Alles Dada – oder fast alles

Abschluss der Ära Elmar Weingarten bei den Festspielen Zürich

 

Was waren das für Zeiten, als es in Zürich noch Junifestwochen gab. Als, im Rahmen grosser thematischer Schwerpunkte und veranstaltet von der Stadt selbst, Japan zu Gast war oder John Cage himself für erheiternde Unruhe sorgte. In den frühen neunziger Jahren war Schluss damit, angeblich aus finanziellen Gründen. Wenige Jahre später kam es zu einem Neustart – unter neuen Vorzeichen und dem neuen Namen «Zürcher Festspiele». Die Hoteliers der Stadt hatten sich über schlechten Geschäftsgang Ende Juni beklagt und waren bei Alexander Pereira vorstellig geworden, dem damaligen Intendanten des Opernhauses Zürich, von dem sie für die fragliche Zeit einen kulturellen Akzent und in der Folge eine kommerzielle Belebung erhofften.

So kam es vor zwanzig Jahren zu den Zürcher Festspielen, die eigentlich keine Festspiele waren. Denn die Stiftung, die sie ausrichten sollte, verfügte über geringe Mittel und dementsprechend wenig Handlungsspielraum. Im Stiftungsrat vertreten waren die grossen Zürcher Kulturinstitute, die von den Subventionsgebern aufgerufen waren, das Ende der Saison mit besonderem Glanz zu versehen. Wenn sich dieser Glanz einstellte, dann am ehesten in den Preisen, die das Opernhaus für seine Vorstellungen im Rahmen der Festspiele verlangte. Inhaltlich ergab sich kein Profil, da jedes der grossen Kulturinstitute sein ohnehin vorgesehenes Programm präsentierte – und es, weil ja Festspiele waren, mit einem speziellen Fähnchen versah.

Neue Ausrichtung

Das wurde erst anders, als Elmar Weingarten, mit seinem Ideenreichtum und seiner Konzilianz prädestiniert für diese Aufgabe, vor vier Jahren den widerwilligen Stier bei den Hörnern packte. Er übernahm die Leitung der Festspiele 2012 noch als Intendant des Tonhalle-Orchesters Zürich und führte die Geschäfte nach seinem Rücktritt beim Orchester 2014 weiter. Vier Ausgaben der Festspiele sind unter Weingartens gütiger Hartnäckigkeit zustande gekommen. Die Institution hat in dieser Zeit nicht nur ihren Namen gewechselt: von den eher lokal gedachten «Zürcher Festspielen» zu den «Festspielen Zürich» mit bewusst internationaler Ausstrahlung. Das Festival hat auch, und vor allem, ein Gesicht erhalten. Denn Weingarten hat den thematischen Schwerpunkt, der die Junifestwochen ausgezeichnet hatte, wieder eingeführt und ihn den neuen Bedingungen der Festspiele gemäss rehabilitiert.

Den Geburtsfehler der Institution hat auch Weingarten nicht beheben können. Tatsache ist, dass für die Festspiele Zürich mit dem Opernhaus und dem Tonhalle-Orchester sowie dem Schauspielhaus und dem Kunsthaus vier grosse Kulturinstitute der Stadt zusammenarbeiten sollten, die das aber nicht unbedingt wollen, ja der unterschiedlichen Planungsfristen wegen gar nicht können – was der Entwicklung einer gemeinsamen Dramaturgie fundamental im Wege steht. Dass die Festspiele dennoch ihr Profil so schärfen konnten, wie es geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Es basiert auf der Einsicht, dass eine Veranstaltungsreihe von einem thematischen Kern, einer thematischen Leitlinie nichts als profitieren kann – und dass sie selbst dann profitieren kann, wenn nicht alles und jedes im Angebot dem Thema gehorcht.

So hat Elmar Weingarten den Festspielen Zürich neue Horizonte eröffnet; er hat seinen Partnern die nötigen Freiheiten gelassen, zugleich aber als Anreger gewirkt und selber beherzt als Veranstalter agiert. Das mag zu einem gewissen Überangebot wie zu Terminkollisionen geführt haben, es hat dem Zürcher Kulturleben vor dem Beginn der sommerlichen Schulferien aber auch eine spürbare Zufuhr von frischer Luft und bunter Vielfalt verschafft. Alle sind sie in ihrer Weise unvergessen, das «Treibhaus Wagner» 2013, «Prometheus» mit der grandiosen Aufführung von Luigi Nonos Hörtragödie im Jahr darauf, «Shakespeare» 2015 und diesen Sommer, hundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, «Dada – zwischen Wahnsinn und Unsinn». Und heuer, nicht zu unterschätzen, lagen die Festspiele auch erstmals etwas früher als ehedem, um die Sommer-Ausstellung des Kunsthauses besser ins Gesamtprogramm einzubinden.

Dada und die Musik

Eine der Spezialitäten der vier zurückliegenden Jahre bestand darin, dass es nicht der Künstlerische Leiter allein war, der die Ideen entwickelte, dass Elmar Weingarten vielmehr seine Gattin Claudia von Grote zu Seite stand; entschieden wirkte sie an der Ausarbeitung der dramaturgischen Ansätze mit. So gab es dieses Jahr etwa eine Reihe von Soiréen, bei denen sich die Dada-Bewegung mit den etablierten Künsten traf, aber auch eine Folge von Begegnungen mit Dada in Zürcher Privatwohnungen – analog einer Idee, wie sie an den Wiener Festwochen seit langem üblich ist. Die Musik dagegen, sie geriet beim Thema dieses Jahres etwas in den Hintergrund – wenn auch nicht ganz. Das Infragestellen und das Aufbrechen herkömmlicher Rituale fand auch in der Musik statt, und vor allen Dingen setzte es sich bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in die Jetztzeit hinein fort.

Von solchem berichtete die grosse Dada-Nacht in der Tonhalle Zürich, die auf den Punkt genau um 19.16 Uhr begann und einen langen Abend währte. Wie ein Wirbelwind fegte Ursula Sarnthein, Bratscherin im Tonhalle-Orchester, durch den dritten Satz der Sonate für Viola allein, op. 25 Nr. 1, von Paul Hindemith; sie nahm die Vorschrift des Komponisten, dieses Stück Musik in rasendem Zeitmass und wild zu spielen, Tonschönheit sei dabei Nebensache, atemberaubend beim Wort. Wie viel Dada in Mauricio Kagel steckt, erwies dessen Stück «Match» für zwei Celli (Thomas Grossenbacher und Karolina Öhmann) und Schlagzeug (Erika Öhmann) von 1964. Und in ihrer Weise dadaistisch schräg die «24 Duos» von Jörg Widmann, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Ihre Höhepunkte fand die dadaistisch-musikalische Veranstaltung freilich im Auftritt der Stimmkünstlerin Salome Kammer, die dadaistische Sprechstücke aus ihrer persönlichen Schatzkammer präsentierte und neue Werke auf den Spuren Dadas dazustellte. Zur grossartigen Ausstrahlung der weit ausserhalb jeder Norm stehenden Sängerin kam die Kunst der Diseuse, die ihre Stimme in unglaublicher Weise zu wandeln versteht. Jedenfalls konnte man gewahr werden, wie sehr auch im deutschsprachigen Umfeld der Tonfall allein Bedeutungsträger sein kann.

Die Kunst der Interpretation

Neben Dada setzte sich das quasi normale Kunstleben fort – mit seinen helleren wie seinen dunkleren Seiten. Im Opernhaus trug der Bariton Christian Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber «Die schöne Müllerin» von Franz Schubert in einer Weise vor, dass einem das Blut ins Stocken geriet. Schon das scheinbar simple Strophenlied des Beginns liess kaum Heiterkeit aufkommen. Wenige Lieder später war klar, dass dem Müllerburschen, der hier von sich singt, grausam mitgespielt wird, dass die Müllerstochter alle vorführt, auch ihren Vater, und dass sie sich ganz rasch für den schmucken Jäger in Grün erwärmen wird, worauf dem Verschmähten nichts als der Sturz ins kalte Wasser des munter plätschernden Bächleins bleibt. Da in dem singenden Sprechen oder dem sprechenden Singen Gerhahers so gut wie jedes Wort verständlich war, wurde der Liederzyklus, den der Sänger mitsamt den von Schubert nicht vertonten Gedichten vortrug, zu einer ganz eigenen, äusserst dramatischen Erzählung, während die Dichtung des verkannten Wilhelm Müller in neuer Würde erschien. Ganz zu schweigen von der Vertonung Schuberts, die mit ihren Schlünden und ihren Abgründen an diesem Abend zutiefst erschütternd wirkte.

Solche Kunst der Interpretation ist für Lionel Bringuier, den Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich, ein Fremdwort. Weil es sich um den sinfonischen Erstling eines jungen, ambitionierten Komponisten handelt und weil im Untertitel von einem Titanen die Rede ist (allerdings in Anspielung an einen Roman von Jean Paul), stürmte Bringuier ohne Rücksicht auf Verluste durch die erste Sinfonie von Gustav Mahler – am Tag nach der «Schönen Müllerin» bot das reichlich Ernüchterung. Für eine Vortragsanweisung wie «gemächlich» hat er keinen Sinn; wenn er darf, dreht er die Laustärke sogleich und mächtig auf. Und um das etwas weinerlich Weiche der k.u.k-Mentalität schert er sich ebenso einen Deut wie um die ironische Doppelbödigkeit, die sich ganz besonders im langsamen Satz mit seinen verfremdenden Anklängen an «Frère Jacques» manifestiert. Dass musikalische Interpretation auch und gerade einen Akt der Sinngebung beinhaltet und dass dieser Akt seine intellektuelle Basis haben muss, das scheint Bringuier keineswegs zu kümmern – das ist das Verstörende an diesem unglaublich sympathischen und zugleich erschreckend naiven jungen Musiker. Wie soll das nur weitergehen?

Solche Fragen stellen sich bei Fabio Luisi nicht, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich weiss genau, was er will – das zu hören und zu erleben, bringt Erlebnisgewinn, auch wenn es unter dem Strich nicht überall aufgeht. Bei «I Puritani», der letzten Oper Vincenzo Bellinis, die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Festspielen herausbrachte, gedachte Luisi ans Licht zu heben, welch neue Bedeutung Bellini dem Orchester zumass. Das ist ihm an mancher Stelle vorzüglich gelungen, das Orchester der Oper Zürich stellte prachtvoll heraus, dass Bellini zu Recht stolz war auf seine Mühewaltung im Bereich der Instrumentation. In anderen Momenten aber explodierte die Lautstärke, dröhnte der Chor, schrien die Sänger, tutete das Orchester, als wären alle gegen alle, vor allem alle gegen die Partitur. Und das in einem Bühnenbild, das den Schall sehr direkt in den kleinen, für ein Sprechtheater konzipierten Zuschauerraum des Zürcher Stadttheaters abstrahlte. Der schwere, kreisende Zylinder, den Henrik Ahr entworfen hat, gab dem Regisseur Andreas Homoki Gelegenheit, eine Bildfolge zu entwickeln, die den narrativen Strang des eigenartig an Ort und Stelle tretenden Librettos erkennen liess. Und die Umdeutung des lieto fine in eine finale Katastrophe passte in ihrer drastischen Konkretisierung ganz und gar in diese Zeiten. Mit dem stimmgewaltigen, höhensicheren Lawrence Brownlee (Arturo) und der nicht weniger ausstrahlungsmächtigen Pretty Yende (Elvira) war die Szene durch zwei vorzügliche Protagonisten beherrscht.

Das waren die Festspiele Zürich 2016. Elmar Weingarten verabschiedet sich definitiv. Unter gründlich erneuerter Leitung sollen die Festspiele jetzt zur Biennale werden. Was das heisst, wird sich weisen.

Schöne neue Musik

 

Peter Hagmann

Weiter Blick, farbiger Klang

«Glut» von Dieter Ammann, eine Uraufführung beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Elf Orchester und je drei Auftragskompositionen innerhalb dreier Jahre – das ist das Projekt «Œuvres suisses», das die im Verband «orchester.ch» organisierten Sinfonieorchester der Schweiz und die Schweizer Kulturstiftung «Pro Helvetia» verfolgen. 33 neue Werke für grösser oder kleiner besetzte Klangkörper kommen da zusammen, und sie sollen, so der fromme Wunsch, nicht nur von den Auftraggebern aus der Taufe gehoben, sondern auch für zweite und dritte Einstudierungen an die anderen Orchester weitergereicht werden. Mit im Boot ist zudem das Radio; SRF2 schneidet die Uraufführungen mit und stellt diese Aufzeichnungen dann für eine CD-Box zur Verfügung.

Das Projekt richtet sich an Komponistinnen und Komponisten, die den Schwerpunkt ihres Wirkens in der Schweiz haben. Seinen Anfang nahm es mit «Vergessene Lieder» von Nadir Vassena, uraufgeführt im Dezember 2013 durch das Orchestra della Svizzera italiana unter der Leitung von Ion Marin. Seither ist einiges geschehen, denn inzwischen stehen wir bei der Nummer 26, der «Erosion» von Martin Wettstein – die sinnigerweise am genau gleichen Abend vom Musikkollegium Winterthur vorgestellt wurde wie die Nummer 25, nämlich «Glut» von Dieter Ammann, herausgebracht vom Tonhalle-Orchester Zürich. Es lebe der Föderalismus.

Die Idee mag in Zeiten, da auch in künstlerischen Bereichen die nationalen Grenzen sich doch deutlich relativiert sehen, nicht ganz taufrisch wirken. Auch war nicht zu erwarten, dass das Projekt zu 33 Neuentdeckungen führt; es geht da mehr um eine Bereicherung des Repertoires auf der Basis des Status quo. Für Überraschungen bleibt aber gleichwohl Raum, wie das jüngste Werk Dieter Ammanns erwies. «Glut» ist ein wunderbares, in seiner Weise herrlich schönes, dabei ganz und gar gegenwärtiges Stück Musik – die Uraufführung mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Markus Stenz unterstrich es.

Eine Tondichtung ist «Glut» nicht, dennoch gehen die Gedanken in diese Richtung. In seiner weiten räumlichen Anlage, seinem vielschichtigen Umgang mit klanglichen Flächen und den immer wieder einbrechenden Eruptionen berichtet das Stück durchaus von dem, was sein Titel andeutet – lässt es an eine glühende Feuerstelle denken. Die Energie ist da sozusagen zurückgenommen ins Innere des Glimmens. Ruhe und Bewegung herrschen zugleich; im selben Mass, in dem Liegendes und Flächiges dominieren, flackert es hier, schiesst dort etwas auf. Immer wieder verdichten sich die Kräfte, kommt es zu kurzen Flammenbildungen, bisweilen sogar zu Momenten repetitiver Bewegung.

All das ist mit beeindruckender Sicherheit der Formulierung, mit blendendem Sinn für die Dramaturgie der Abläufe und in souveränem Umgang mit dem grossen Orchesterapparat in Klang gesetzt. Natürlich ist die Dissonanz hier längst emanzipiert, steht sie nicht mehr in Abhängigkeit zur Konsonanz, in die sie sich auflösen muss, wir befinden uns ja im 21. Jahrhundert. Davon spricht auch der selbstverständliche Einbezug von Mikrointervallen, die zur Verdichtung des klanglichen Gewebes beitragen, sowie ausserdem, ja vor allem, der Einsatz eines üppig besetzten Schlagzeugs. Von ferne erinnert die phantasievoll ausgedachte Vielfalt der perkussiven Klangwirkungen an die «Notations» von Pierre Boulez. Zugleich und ebenso sehr kommt es zu betörend sinnlichen Akkordbildungen mit hinzugefügten Sexten und Nonen, wie sie Olivier Messiaen geliebt hat. Und lässt die Kunst der Instrumentation, zum Beispiel die Einbindung der tiefen Blechbläser in einen vielfach geteilten, sirrenden Streicherklang, an Richard Strauss denken.

So verbindet sich in «Glut» das starke Eigene des Komponisten Dieter Ammann mit der weiten Welt dessen, was den Komponisten (und somit uns) musikalisch umgibt – ohne dass aus den Anklängen eine Ideologie gemacht würde. Die unverkrampfte, geradezu spielerische Freiheit im Umgang mit bestehendem musikalischem Material und dessen Integration in die individuelle Handschrift, das erscheint als das eigentlich Zeitgemässe an diesem nur eine Viertelstunde dauernden, äusserst ereignisreichen Werk. Dass es der ebenso temperamentvolle wie in diesem Repertoire besonders erfahrene Dirigent Markus Stenz zusammen mit dem hochgradig engagierten Tonhalle-Orchester Zürich so plastisch zu formen verstand, dass er es in so kraftvoller Gestaltung Klang werden liess, sicherte der Uraufführung ihre Wirkung.

Danach gab es in einem mutigen Akt der Programmgestaltung das selten gespielte, unvollendet zurückgelassene Bratschenkonzert von Béla Bartók mit dem grossartigen Solisten Nils Mönkemeyer und eine sehr persönliche, kräftig zugreifende, in der Tempogestaltung attraktive Auslegung der zweiten Sinfonie, C-dur, von Robert Schumann. Wie sehr sich das Zürcher Orchester an einer starken und darum fordernden interpretatorischen Handschrift zu entzünden vermag, ist in der jüngeren Vergangenheit etwas in Vergessenheit geraten. Hier war es wieder einmal zu erleben.

Kulturpolitik und Volkes Wille – in der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Mit voller Kraft voraus

Das Tonhalle-Orchester Zürich blickt nach vorn

 

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Das gibt es nur in der Schweiz: Dass Stimmbürger über die Existenz eines Orchesters befinden. In Winterthur gab es das, und das dortige Musikkollegium hat damals kräftigen Sukkurs aus der Bevölkerung erhalten. Bei der Volksabstimmung, die am 5. Juni in Zürich stattfindet, geht es nur indirekt um das Tonhalle-Orchester. Dies allerdings in existentieller Weise. Denn vom Ausgang der Abstimmung über die Umgestaltung des Kongresshauses und die Renovation der Tonhalle hängt, das lässt sich durchaus so sagen, nicht weniger als der Weiterbestand des Tonhalle-Orchesters ab. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, pflegt es in diesen Tagen noch und noch auszusprechen. Ohne das geplante Bauvorhaben muss die Tonhalle-Gesellschaft die Zahl der Plätze im Grossen Saal von derzeit 1500 auf 750 reduzieren, das verlangen die Sicherheitsvorschriften, deren Einhaltung von der Feuerpolizei seit Jahren angemahnt wird. Mit der Hälfte der Sitze aber lässt sich das Orchester so, wie es heute besteht, nicht halten, die durch den Konzertbetrieb erwirtschafteten Mittel wären zu gering.

Mit Augenmass

Von den politischen Parteien hat sich einzig die SVP gegen das Kongresshaus-Projekt ausgesprochen. Sie stört sich an der Höhe der Kosten; das Innere des Grossen Saals zum Beispiel werde mit einem für die Partei nicht nachvollziehbaren Aufwand restauriert. Das ist freilich kein Argument, sondern einer jener Hüftschüsse, für welche die SVP bekannt ist; mit Hüftschüssen aber lässt sich nicht politisieren, wenigstens nicht auf dem hierzulande üblichen Niveau. In Tat und Wahrheit ist es so, dass von den 240 Millionen Franken, die für das Projekt veranschlagt sind, allein 73 Millionen Franken für die Entschuldung der Kongresshaus-Stiftung und deren Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Stiftung benötigt werden. Und dass von den verbleibenden 167 Millionen Franken der Löwenanteil an den Umbau des Kongresshauses und die dringend erforderliche Anpassung des Gebäudes an die heute gelten Massstäbe in punkto Technik und Sicherheit gehen. Dass bei einem derartigen Eingriff in die Bausubstanz auch der Grosse Saal gründlich überholt wird und dass dabei in gleicher Weise wie beim Kongresshaus die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands angestrebt wird, ist nichts als vernünftig.

Die optische Anmutung eines Konzertsaals darf nicht ausser Acht bleiben. Als ich in den späteren achtziger Jahren nach Zürich kam und das Tonhalle-Orchester einigermassen deprimiert zu Boden lag, wurde dieser Eindruck unterstützt durch das Grau in Grau des an sich opulent gedachten Grossen Saals – durch eine Farbgebung, die nicht dem ursprünglichen Zustand entspricht, sondern auf eine später durchgeführte Renovation zurückgeht. Inzwischen hat sich das Tonhalle-Orchester mächtig erhoben; es hat sich ein im Vergleich zu damals ganz anderes künstlerisches Profil erworben, weshalb es die Wiederherstellung des Saals mehr als verdient hat. Angestrebt wird, nicht zuletzt dank Elmar Weingarten, dem früheren Intendanten des Orchesters, eine leuchtend festliche Farbgebung, wie sie bei der Eröffnung der Tonhalle 1895 vorhanden war – und wie sie sich anhand der noch vorhandenen Farbschichten erschliessen lässt. Welche Wirkung ein solcher Schritt haben haben kann, war 1989 in Basel zu erleben, als der Musiksaal im dortigen Stadtcasino nach einer Renovation, die den Urzustand von 1876 wiederherstellte, mit einem Mal in fröhlichem pompejanischem Rot erstrahlte.

Über die Wiederherstellung des Grossen Saals in der Tonhalle Zürich hinaus soll auch der Hinterbühnenbereich auf Vordermann gebracht werden, sollen also die Aufenthaltsbedingungen für die Musikerinnen und Musiker, die hier immerhin ihren Arbeitsplatz haben und beträchtlich Lebenszeit verbringen, auf ein menschenwürdiges Mass angehoben werden. Weder die Garderoben noch die sanitären Anlagen entsprechen heutigen Gepflogenheiten, die zum Teil sehr wertvollen Instrumente müssen unter Bedingungen aufbewahrt werden, die Schäden zur Folge haben können. Zu diesem Zweck müssen zwei Nachtclubs weichen, die an dieser Stelle ohnehin am nicht eben richtigen Platz waren. Dies alles geschieht im Rahmen einer Neugestaltung des Kongresshauses, das für einen Kongressbetrieb der heutigen Zeit fit gemacht werden soll. Anders als bei dem Neubau-Projekt des spanischen Architekten Rafael Moneo, das 2008 an der Urne gescheitert ist, soll der Bau von Haefeli Moser Steiger aus dem Jahre 1939 insgesamt in seinen ursprünglichen Zustand werden. Die umstrittenen Zubauten von 1985 sollen wieder abgetragen und durch moderate Erweiterungen ersetzt werden, die das Äussere des Gebäudes nicht tangieren, in seinem Inneren jedoch die dringend notwendigen Optimierungen möglichen machen.

Mit voller Kraft voraus

Bei der Volksabstimmung vom 5. Juni geht es also im Grunde um drei Aspekte, nämlich um das Kongresshaus, um die in das Kongresshaus integrierte Tonhalle mit ihrem Orchester und um die Struktur der Trägerschaft dieser Einrichtungen. Aus dem Blickwinkel der Kulturstadt Zürich ist es die Tonhalle, die im Zentrum steht. Dessen ist sich das Orchester bewusst, und so hat es jetzt, gut vier Wochen vor dem Urnengang, das Programm für die Saison 2016/17 vorgelegt. Dabei zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner dritten Spielzeit unter der neuen Leitung mit dem Chefdirigenten Lionel Bringuier, der Intendantin Ilona Schmiel und dem Präsidenten Martin Vollenwyder in voller Blüte. Dieser Institution durch ein Nein an der oder das Fernbleiben davon die Lebensader zu kappen, wäre ein Fehler von fürwahr historischem Ausmass.

Lionel Bringuier, der ein gutes Drittel der etwas mehr als einhundert Konzerte dirigiert, wendet sich in der neuen Saison den Ballets Russes zu, jenen meist gross besetzten Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert, die im Umkreis um den Intendanten Serge Diahilew entstanden sind. So sind denn der «Sacre du printemps» und «L’Oiseau de feu» von Strawinsky oder «Der Dreispitz» von de Falla zu hören. Bringuier erarbeitet aber auch deutsches Repertoire, Schumanns Vierte etwa oder von Mendelssohn ebenfalls die Vierte sowie den «Lobgesang». Unter den Gastdirigenten finden sich die grossen Alten wie Herbert Blomstedt, Bernard Haitink oder der Ehrendirigent David Zinman, aber auch einige Newcomer wie Jakub Hrůša, der demnächst die Leitung der Bamberger Symphoniker übernehmen wird, oder die drei Damen Emmanuelle Haïm, Barbara Hannigan und Alondra de la Parra. Aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis sind John Eliot Gardiner, der mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique kommt, Thomas Hengelbrock und Philippe Herreweghe angekündigt. Macht alles ziemlich neugierig.

Besondere Aufmerksamkeit erweckt auch die nochmals verstärkte Hinwendung zur neuen Musik, die beim Tonhalle-Orchester, das darf auch einmal ausgesprochen werden, inzwischen ganz selbstverständlich dazugehört. An vorderster Front tragen dazu bei der «Artist in Residence» Martin Grubinger, ein Schlagzeuger von unglaublichem Können und sensationeller Breitenwirkung, sowie der Dirigent und Komponist Peter Eötvös als Inhaber des «Creative Chair». Taktisch ausgesprochen geschickt, diese Mischung zwischen alt und jung, zwischen avanciert und ohrenfällig – und Zeichen für die prickelnde Lebendigkeit, die beim Orchester inzwischen zum Alltag gehört. Damit gemeint sind nicht nur die zahlreichen Angebote an jüngere Konzertbesucher, das bezieht sich auch auf den Kalender an sich. Im Januar 2017 zum Beispiel folgen sich Kent Nagano, der die «Eclairs sur l’Au-Delà» dirigiert, ein wunderschönes Spätwerk von Olivier Messiaen, und Christoph von Dohnányi, der die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla Bartók im Gepäck hat, worauf der vom SWR her rühmlich bekannte François-Xavier Roth mit der spätromantischen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg erscheint und ihm dann das hochgelobte Schumann-Quartett mit einem Kammermusikabend nachfolgt. Am Totenbett, das von den Medien und ihren Managern für die klassische Musik so gern heraufbeschworen wird, geht es anders zu.

Westwärts

In voller Fahrt (und temperamentvoll angeleitet durch Giovanni Antonini) steuert das Tonhalle-Orchester Anfang Juli 2017 auf einen Abschied zu. Dann heisst es: Koffer packen, westwärts ziehen – hoffentlich, nein, sicherlich. Für die drei Spielzeiten bis 2020 nimmt das Orchester seinen Sitz in einem dannzumal fertiggestellten Provisorium auf dem Maag-Areal ein, in unmittelbarer Nähe des Schiffbaus, der Zürcher Hochschule der Künste und der Probebühnen des Opernhauses. Was von diesem Übergangssaal schon sichtbar geworden ist, lässt einiges erwarten. Und wer sich an den temporären Konzertsaal von 1997 in der Luzerner von-Moos-Halle erinnert, als das dortige Kunsthaus abgebrochen und das KKL noch nicht fertiggestellt war, wird keinen Zweifel am Wert dieser Übergangslösung in Züri-West hegen.

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So soll sich der Konzertsaal im Zürcher Maag-Areal, der provisorische Sitz des Tonhalle-Orchesters Zürich in den Jahren 2017 bis 2020, präsentieren / Visualisierung von Spillmann Echsle Architekten, Bild Tonhalle Zürich