«…alles für Freuden erwacht»

Die Bamberger Symphoniker und ihr Chefdirigent Jakub Hrůša glänzen mit Mahlers Vierter

 

Von Peter Hagmann

 

Inzwischen sind sie schon gut zusammengewachsen, die Bamberger Symphoniker und ihr im Herbst 2016 angetretener Chefdirigent Jakub Hrůša. Und nun, nach Auseinandersetzungen mit Smetana sowie mit Brahms und Dvořák in etwas eigenartiger Kombination, haben sie für ihre Aufnahmeprojekte Gustav Mahler in den Blick genommen. Das zeugt deshalb von Mut, weil die Gesamteinspielung der Sinfonien Mahlers mit Jonathan Nott, dem Vorgänger Hrůšas in Bamberg zwischen 2000 und 2016, Marksteine gesetzt hat, die nicht vergessen sind. Aber gesperrt ist der Komponist natürlich nicht – weshalb die Bamberger und Hrůša im Januar 2020 mit Mahlers Vierter auf Tournee gegangen sind. Wenig später trat der Lockdown in Kraft, und da war auch in Bamberg guter Rat teuer. Der Möglichkeit beraubt, Konzerte zu geben, suchte das Orchester nach Wegen, gleichwohl tätig zu sein – mit Aufnahmen eben. Schutzkonzepte wurden entworfen, der Joseph-Keilberth-Saal in Bamberg etwas adaptiert, damit die vorgegebenen Abstände eingehalten werden konnten. Im Juli 2020 wurde Mahlers Vierte mit leicht reduzierter Streicherbesetzung – das Bild im Booklet zeigt elf Mitglieder der Ersten Geige – in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet. Und so aufgezeichnet, dass der Höreindruck absolut gültig wirkt.

Die Aufnahme wartet mit manch blendend gelungener Lösung, auch manch überraschender Anregung auf. Hrůša wählt langsame Tempi, allerdings nicht so grossartig gemessene und konsequent durchgehaltene wie Riccardi Chailly in seiner Aufnahme mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest von 1999. Hrůša steigt sehr gezügelt in den Kopfsatz ein, bleibt aber nicht im gewählten Zeitmass, sondern steigert es mächtig. Und den ersten schnelleren, mit «frisch» überschriebenen Teil lässt er nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über ein Accelerando eintreten. Solche auch andernorts auftretenden Massnahmen unterlaufen die plötzlichen Gemütswechsel, ja die Brüche, die dem Werk auch eingeschrieben sind, und führen zu Verharmlosungen. Im Ganzen ist die äusserst belebte, von Mahler detailliert eingeforderte Tempopalette jedoch ausgezeichnet getroffen – dies in Verbindung mit einem hellen, sehr durchhörbaren Ton. Das erlaubt dem Dirigenten, die kontrapunktischen Reize der Partitur in aller Klarheit hörbar zu machen – und in der Durchführung des Kopfsatzes das von der Zweiten Trompete vorgetragene Schicksalsmotiv, mit dem später dann die Fünfte Sinfonie anheben sollte, erschütternd heraustreten zu lassen. Übrigens sind in dieser Einspielung die Trompeten, die in Smetanas «Vaterland», der 2016 erschienenen Debütaufnahme Hrůšas mit den Bambergern, noch arg amerikanisch herausstachen, makellos ins klanglich Ganze eingebunden.

Sehr scharf gezeichnet kommt das das Scherzo des zweiten Satzes daher. Mit seinem bewusst verstimmten Instrument wird der Konzertmeister hier zu einem echten Teufelsgeiger, die Holzbläser sorgen mit aufgerichteten Schalltrichtern für grelle Farben, während die von Mahler vorgeschriebenen Glissandi in ihrer Ausdrücklichkeit schräge Akzente setzen. Das Trio beantwortet die Szenerie dann in wunderschöner Langsamkeit. Ruhig ausgesungen auch der dritte Satz, in dem sich eine ebenso durchdachte wie natürlich wirkende Tempodramaturgie entfaltet. Eindrücklich der Höhepunkt des Satzes, an dem die hervorragend aufgestellten Bamberger ein Tutti von grossartiger Klangpracht bieten. Und dann das Finale mit dem Sopransolo. Anna Lucia Richter erscheint hier nicht so frei wie bei der denkwürdigen Aufführung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink zur Eröffnung des Lucerne Festival 2015. Sie pflegt ein fast übertriebenes Legato, das durch ebenfalls zugespitzte Konsonanten unterteilt wird; gefragt wäre hier engelsgleiche, auch von der Sprache ausgehende Leichtigkeit, wie sie Camilla Tilling oder Mojca Erdmann, Christine Schäfer oder Christine Whittlesey geboten haben. Im weiteren Verlauf lässt Anna Lucia Richter den Manierismus des Satzbeginns jedoch glücklich hinter sich, so dass am Ende der Sinfonie tatsächlich «alles für Freuden erwacht».

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4. Anna Lucia Richter (Sopran), Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša (Leitung). Accentus 30532 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).

Beethoven und seine Verschworenen

Das Tripelkonzert in einer beispielhaften Aufnahme

 

Von Peter Hagmann

 

Um das Image des Tripelkonzerts Ludwig van Beethovens steht es nicht zum Besten. C-Dur, ach ja – aber das heisst noch gar nichts. Für einen Pianisten aus dem habsburgischen Hochadel geschrieben und dementsprechend leicht gehalten – das wird oft behauptet, gehört jedoch wohl eher ins Reich der Legenden, jedenfalls findet es im Notentext keinerlei Niederschlag. Nein, wenn das Tripelkonzert als ein Nebenschauplatz erscheint, dann ist das nicht die Schuld des Komponisten, sondern jene der Interpreten. So macht es jedenfalls den Anschein, wenn man das Stück in der Aufnahme mit der Geigerin Isabelle Faust, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras, dem Pianisten Alexander Melnikov sowie dem Freiburger Barockorchester und dem Dirigenten Pablo Heras-Casado hört. Denn da gibt es manch Überraschendes zu entdecken und viel Ungewohntes zu erleben.

Die Namen lassen auf Anhieb erkennen, woher der Wind weht. Die Musikerinnen und Musiker, die diese Einspielung tragen, bilden eine ästhetische Familie. Sie stehen, alle in je eigener Weise der historisch informierten Aufführungspraxis zugetan, im Begriff, das klingende Beethoven-Bild unserer Tage gründlich auszulüften. In zahlreichen Wiedergaben des Tripelkonzerts dominiert der leichte, schlanke Ton – so zum Beispiel bei der als legendär geltenden Aufnahme des Werks mit Wolfgang Schneiderhan, Pierre Fournier und Géza Anda sowie dem Radio-Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Ferenc Fricsay aus den frühen 1960er Jahren. So herausragend in mancherlei Hinsicht die Einspielung wirkt, so sehr lässt sie doch hören, wie rasch der leichte, schlanke Ton zu Verflachung und Beliebigkeit führen kann.

Davon ist die neue Aufnahme aus dem Hause Harmonia mundi denkbar entfernt. Statt auf durchgehendes Legato, auf klangliche Homogenität und zurückhaltende Artikulation zu setzen, wird hier ohne Scheu aufs Ganze gegangen. Werden die Phrasen voll ausgespielt, werden die in ihnen angelegten Energien gezeigt und genutzt. Die verwendeten Instrumente bieten das Potential dafür: Der von Alexander Melnikov gespielte Wiener Hammerflügel aus dem frühen 19. Jahrhundert offenbart, so differenziert und mutig gespielt, den ganzen Reiz seiner in den einzelnen Registern sehr unterschiedlich wirkenden Farben, das ein Jahrhundert ältere Cappa-Cello von Jean-Guihen Queyras verbindet einen kernigen Bass mit obertonreicher Kantabilität in den hohen Lagen, während die «Sleeping Beauty», die 1704 erbaute Stradivari von Isabelle Faust, Lineaturen von leuchtender Klarheit besteuert.

Was auf dieser instrumentalen Basis und im Verein mit selbstverständlicher stilistischer Sicherheit möglich ist, tritt gleich in den ersten Takten zutage. Sehr leise und sehr tief klingt das Pianissimo, mit dem die Celli und die Bässe in den Kopfsatz einleiten. Und wenn dann die übrigen Streicher mit ihren Harmonien dazu treten und das Geschehen auf die Dominante hinführen, erfolgt das nicht nur mit einem auffallend expliziten, aber sogleich wieder zurückgenommenen Crescendo, sondern auch mit einem von oben her, von der dissonanten Nebennote her kommenden Triller – mit Pablo Heras-Casado am Pult gibt das Freiburger Barockorchester hier zu erkennen, mit welcher Vitalität es den oft etwas in den Hintergrund gerückten Orchesterpart wahrzunehmen gewillt ist. Das Beispiel dafür folgt gleich darauf, nämlich beim Einsatz des Hauptthemas, wo die repetierten Achtel in den Bässen federnde Energie versprühen.

In strahlender Festlichkeit wird die ausführliche Einleitung abgeschlossen, und dann hebt das Cello in singendem Dolce mit dem Spiel der musikalischen Wechselrede an, welches das Tripelkonzert ausmacht. Pointiert das Rhythmische, profiliert das Klangliche – in der Antwort der Geige setzt sich das fort. Wie schliesslich das Klavier die Szene betritt, greifen Sechzehntelketten Raum, deren Brillanz auf dem Hammerflügel ungeschmälert zur Geltung gebracht werden kann. Immer wieder wird deutlich, wie viel Gewürz das ausdrückliche Spiel in die Verläufe einbringt – sei es durch das bewusste Herzeigen von Dissonanzen, sei es durch Tempobewegungen wie jene, mit welcher der Cellist in die Durchführung überleitet. Und mit einem Mal nimmt man wahr, wie viel Enthusiasmus im Seitenthema steckt.

Genauigkeit im Detail verbindet sich da mit Phantasie und reiner Spiellust. Weil die sordinierten Streicher des Orchesters den kurzen Mittelsatz klanglich so charakteristisch eröffnen, tritt die Besonderheit seiner Tonart As-Dur deutlich heraus. Berührende Schlichtheit herrscht in den weiten Bögen dieses Satzes. Und kaum hat man sich eingelebt, kommt es schon zum Rondo alla Polacca des Finales, dessen Tempo grossartig getroffen ist. Auch hier herrschen rhythmische Griffigkeit, verspieltes Rubato und bewusste Arbeit mit Schwerpunkten. Herrlich ist das alles, das Tripelkonzert Beethovens erscheint in bisher unbekanntem Glanz. Unbekannt, da kaum je vorgetragen, ist auch das beigegebene Klaviertrio, ein wohl von Ferdinand Ries stammendes Arrangement von Beethovens zweiter Symphonie in D-Dur, in dem sich Isabelle Faust, Jean-Guihem Queyras und Alexander Melnikov vom Klaviertrio zum kleinen Orchester verwandeln.

Ludwig van Beethoven: Konzert für Violine, Violoncello, Klavier und Orchester in C-Dur, op. 56; Klaviertrio in D-Dur nach der Symphonie Nr. 2, op. 36. Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello), Alexander Melnikov (Klavier), Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi  902419 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).

Mit Véronique Gens im Pariser Salon

Lieder – nicht nur aus Frankreich, sondern auch mit ungewöhnlicher Begleitung

 

Von Peter Hagmann

 

So treten wir denn ein in diesen vornehmen Salon an der, sagen wir, Rue du Faubourg Saint-Honoré und schauen uns, das Glas Champagner in der Hand, etwas verlegen um zwischen den schweren Samtvorhängen, den prallvollen Bücherregalen, den Gemälden und dem Flügel von Erard. Eine musikalische Soirée werde es geben, ungewöhnlich im Repertoire wie in der Besetzung. Und eine Sängerin, die allen ein Begriff sei, werde auftreten – da ist sie schon, die grosse Véronique Gens. Sie ist auf der Suche nach ihren Kolleginnen und Kollegen vom Ensemble I Giardini, nach Shuichi Okada und Pablo Schatzman (Violinen), Léa Hennino (Viola), Pauline Buet (Violoncello) und David Violi (Klavier). Doch halt, es ist ja bloss ein Traum. Ein Traum, in den man unter dem Eindruck des Eröffnungsstücks auf dieser wunderbaren CD mit dem geheimnisvollen Titel «Nuits» versinken könnte.

Von der Nacht ist in dem Lied, das der 23-jährige Guillaume Lekeu 1893, ein Jahr vor seinem frühen Tod, auf einen eigenen Text geschrieben hat, tatsächlich die Rede – von einer Nacht der Erinnerung an liebevolle Begegnungen. Silberhelle Klänge liegen unter der Gesangsstimme; in ihren eigenartigen Mischungen, sie erinnern bisweilen an den Ton des Harmoniums, evozieren sie Bilder von klarer Kontur und eindringlicher Emotion. Das Lied ist kein Lied, jedenfalls keines im Sinne des deutschen Kunstlieds mit seiner Blüte in der Romantik, es ist vielmehr eine «mélodie», um diesen spezifisch französischen (und letztlich unübersetzbaren) Gattungsbegriff zu nennen. Und begleitet wird die Singstimme nicht von einem Klavier, sondern von einem Klavierquintett. Wie es sich in einem Pariser Salon der III. Republik hätte ergeben können.

Vier Stadien der Nacht werden auf dieser dramaturgisch konsequent gestalteten CD besungen. Und dies von Komponisten wie Hector Berlioz, Gabriel Fauré, Ernest Chausson, aber auch von Unbekannten wie eben Guillaume Lekeu oder Guy Ropartz. Jules Massenet steuert Hispanismus im Stil von Bizets «Carmen» bei, Camille Saint-Saëns erzeugt mit liegenden Quinten orientalisch angehauchte Stimmung. Zwischen die vokalen Beiträge eingestreut sind einige rein instrumentale Nummern, unter deren Komponisten der Organist Charles-Marie Widor erscheint. Und am Ende kommt es zum nahtlosen Übergang von der Mélodie zum Chanson – dann nämlich, wenn «La Vie en rose» erklingt, das herrlich kitschige Liebeslied des Filmkomponisten Louis Guglielmi, genannt Louiguy, auf einen Text von Edith Piaf, die damit aller Herzen eroberte.

Véronique Gens beherrscht auch dieses Idiom – obwohl natürlich auffällt, dass da eine perfekt ausgeformte, an barocker und klassischer Musik gewachsene Stimme zu hören und somit eine doch merkliche Differenz zur Welt von Edith Piaf zu erleben ist. Bedeutender sind hier jedoch die stimmliche Schönheit, die stille, aber wirkungsvolle Gestaltungskraft und, verbunden mit der erstklassigen Diktion, die Sorgfalt im Umgang mit den Texten, die Véronique Gens einbringt. Und I Giardini sorgen für ausgesuchteste Begleitung. Aufgenommen wurde die CD in dem schönen Konzertsaal von Lüttich, der dank dem Tonmeister Olivier Rosset seine eigene Rolle spielen darf. Und entwickelt wurde das Projekt von Bru-Zane, der in Venedig, ja dort, domizilierten Stiftung für die Erkundung und die Pflege der französischen Musik der Romantik. Dass diese einzigartige CD bei dem Label Alpha erschienen ist, erscheint geradezu als naheliegend.

Nuits. Lieder von Hector Berlioz, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré, Jules Massenet, Ernest Chausson u.a. Véronique Gens (Mezzosopran), I Giardini. Alpha 589 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).

Mit Klarheit, Einfall und Mut – das Chiaroscuro Quartet

Die zweite Folge der Streichquartette op. 76 von Joseph Haydn

 

Von Peter Hagmann

 

Die Streichquartette Joseph Haydns gehören zum innersten Kern des bildungsbürgerlichen und musikgeschichtlichen Kanons. Allein, so zeitlos sie sind, ist es doch genau diese Verortung, die ihrer heutigen Wirksamkeit im Wege steht. Ein reiferes Alter müsse man erreicht haben, bevor sich einem der Reichtum dieser Werke erschliesse, wurde bis vor noch nicht so langer Zeit gerne behauptet – eine Annahme, die auf unrichtigen Voraussetzungen beruht, wie gerade dieser Tage zu erleben ist. Dies dank dem Chiaroscuro Quartet, einer jungen Formation europäischen Zuschnitts, durch deren Interpretationen diese Musik farbiges Leben erhält, weshalb sie mit einem Mal ganz nah an uns heranrückt. Zu spüren ist das an den sechs späten Streichquartetten des Opus 76, wie sie Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion (Violoncello) verstehen und zum Klingen bringen.

Im vergangenen Sommer sind die ersten drei Quartette erschienen, unter ihnen das berühmte «Kaiser-Quartett», und was damals an dieser Stelle dazu geäussert wurde (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20) gilt ein zu eins für die zweite Folge mit den Nummern vier bis sechs. Die Aufnahme, die in den nächsten Tagen in den (derzeit leider geschlossenen) Läden und auf den Streaming-Diensten erscheinen wird, steht erneut für höchstes Niveau in Sachen Kammermusik. Das Geheimnis dahinter ist zunächst der Teamgeist. Im Chiaroscuro Quartet stehen nicht nur vier vernünftige Leute miteinander im Gespräch, hier herrscht auch der Geist der Gleichberechtigung. In den Quartetten des Opus 76 kommt es immer wieder zu Momenten, in denen die Erste Geige solistisch aus dem Ensemble heraustritt. Doch selbst dann bleiben die vier Mitglieder des Ensembles in gleicher Weise beteiligt, weil die Begleitung der solistischen Aufschwünge ihrerseits jederzeit klar strukturiert bleibt.

Zu diesem Teamgeist tritt, darin liegt beim Chiaroscuro Quartet die Besonderheit, eine genuine Verankerung in der historisch informierten Aufführungspraxis. Die vier Ensemblemitglieder verwenden Instrumente aus der Entstehungszeit der Kompositionen oder sogar deutlich ältere Exemplare; sie sind mit Darmsaiten bespannt und werden mit klassischen Bögen gespielt. Dazu kommt der Kammerton von wohl 430 Hertz, also ein etwas tieferer Stimmton als die heute üblichen 440 Hertz. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die im späten 18. Jahrhundert üblichen Spielweisen, also der sparsame Umgang mit dem Vibrato und damit die Schärfung von Konsonanz wie Dissonanz, die klare, bewusst getroffene Unterscheidung zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, die Respektierung der im Prinzip ganztaktigen, nicht auftaktigen Phrasierungen, ja überhaupt ein Gliedern der musikalischen Verläufe, das sich weniger am durchgehenden Legato als am Atmen des menschlichen Sprechens orientiert.

Auf diesen Prämissen basiert die merklich andere Klanglichkeit des Chiaroscuro Quaret. Die Musik Haydns gewinnt daraus entschieden Gewinn. Ausgezeichnet beobachten lässt es sich am Beginn des Streichquartetts in B-Dur, op. 76 Nr. 4. Über einem liegenden Akkord von Geige zwei, Bratsche und Cello erhebt sich eine sehr speziell gestaltete Linie der Ersten Geige, die von Alina Ibragimova mit aller solistischen Freiheit genommen wird. Bald wird aber deutlich, dass selbst ein liegender Akkord, wenn er denn ohne Vibrato gespielt wird, spezifische Färbungen erhält – Färbungen, die durch die geschärfte Beziehung der einzelnen Töne zueinander geprägt werden. Im weiteren Verlauf emanzipieren sich die unteren Stimmen und beginnen, sich ins Gespräch einzumischen, während umgekehrt die Primaria zusehends Teil des Ganzen wird. So erhalten die musikalischen Vorgänge jene lichte Transparenz, die sich denkbar radikal abhebt von dem eher orchestral determinierten Ansatz, den die berühmten Ensembles aus dem späten 20. Jahrhundert zeigen. Das Chiaroscuro Quartett denkt eben, das wird hier deutlich, pointiert in Stimmen – selbst bei homophonen Verläufen, wie auch der sehr innig gegebene zweite Satz dieses «Sonnenaufgang-Quartetts» hören lässt.

Mit dem Denken in Stimmen verbinden sich die reichen Farben der alten Instrumente und die Freiheit in der Tempogestaltung, selbst auf kleinem Raum. In solchen Aspekten ist denn auch zu erkennen, wie sehr sich die historische Praxis gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiterentwickelt hat; wer die vorbildliche Gesamtaufnahme der Streichquartette Haydns durch das ungarische Festetics Quartet von 1998 beizieht und sich vom warmen Ton dieses Ensembles begeistern lässt, kann das umstandslos nachvollziehen. Die Agilität, die Alina Ibragimova, Pablo Hernán Benedí, Emilie Hörnlund und Claire Thirion pflegen, erlaubt ihnen, die Reichhaltigkeit der Erfindung, das Komplexe im Einfachen und den immer wieder aufblitzenden Witz in der Musik Haydns in helles Licht zu stellen. Wenn der Cellist an einer Stelle im Kopfsatz des B-Dur-Quartetts op. 76 Nr. 4 mächtig Anlauf nimmt und sich auf der Stelle in einer Sackgasse findet, weil ihm die drei anderen davongezogen sind, macht das erheiternden Effekt. Staunen lässt dagegen, zu welcher Virtuosität das Chiaroscuro Quartet das eröffnende Allegretto im D-Dur-Quartett op. 76 Nr. 5 zu steigern vermag. Und wie das Ensemble im Finale des Es-Dur-Quartetts op. 76 Nr. 6 die taktgebundenen Schwerpunkte ganz und gar im Schwebezustand zu behalten versteht. Spannend und gegenwärtig ist das – jedenfalls denkbar fern einem wie auch immer gearteten Kanon.

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76, Nr. 4 bis 6. Chiaroscuro Quartet. BIS 2358 (CD, Aufnahme 2018, Produktion 2020).

Mozarts «Gran Partita» – prachtvoll philharmonisch

 

Von Peter Hagmann

 

Bisweilen, gerade in diesen nicht eben einfachen Zeiten, stellt sich das Bedürfnis nach Seelenbalsam ein. Da ist die neue Aufnahme der «Gran Partita» Wolfgang Amadeus Mozarts genau das Richtige. Zumal sich die zwölf Bläser des Amsterdamer Concertgebouw Orchestra rund um den Solo-Oboisten Alexei Ogrintchouk zusammen mit dem Kontrabassisten Olivier Thiery ihren Aufgaben mit einer Lust sondergleichen hingeben. Sie pflegen den philharmonischen Ton in voller Pracht (und nehmen die Tempi dementsprechend gemessen), lassen zugleich aber jede Faser in der subtilen Faktur dieser Musik aufleuchten. Das einleitende Allegro zeigt es in exemplarischer Weise; auf Anhieb zieht es einen in das musikalische Geschehen hinein, und es tut das so sehr, dass man die gut fünfzig Minuten währende Serenade nicht mehr verlässt. Weich und füllig, mit einem kleinen Bauch in der Mitte, betritt der eröffnende B-Dur-Akkord die Bühne. Er bildet den Einstieg in eine harmonische Folge, die einem Signal gleich die Aufmerksamkeit des Publikums bündelt – drei Mal, wie bei den «trois coups» im alten französischen Theater. Auf das Signal folgt jeweils ein kleines Klarinettensolo, das von Olivier Patey mit ausgeprägtem musikalischem Gespür ausgestaltet wird – und dann beginnen sich die Stimmen, angeführt von der ersten Oboe, vielfach zu verschlingen. Doch das ist nur der Anfang, denn auf die Einleitung folgt der eigentliche Kopfsatz – ein Molto allegro, das vom Ensemble frisch und knackig genommen wird. Wie sich Sorgfalt und Spontaneität in dieser Darbietung der «Gran Partita» verbinden, erweist das Menuett des zweiten Satzes, dessen Dreiertakt mitreissend geformt wird. Dann aber ist es soweit, dann erklingt das berührende Adagio, das durch «Amadeus», den Mozart-Film von Miloš Forman aus dem Jahre 1984, zu Weltruhm gekommen ist. Hier darf ruhig auf die Wiederholungstaste gedrückt werden, den Satz kann man gut und gerne mehrere Male hintereinander anhören. Der gerundete, herrlich ausbalancierte Ton, das ruhige, auf den Atem der Ensemblemitglieder abgestimmte Ausschwingen, die belebte Ausbildung der Phrasen, all das macht dieses Adagio zum frühen Höhepunkt des Werks. Nicht zu vergessen ist freilich das Thema mit seinen sechs Variationen, in denen die gestalterische Phantasie keine Grenzen zu kennen scheint. Das Ensemble um Alexei Ogrintchouk führt vor, dass das Concertgebouw-Orchester absolut am Leben ist, obwohl es seit der unglücklichen, durch einen abrupten Bruch beendeten Zeit mit Daniele Gatti, nämlich seit Mitte 2018, auf einen Chefdirigenten wartet.

Wolfgang Amadeus Mozart: Serenade Nr. 10 in B-Dur KV 361 («Gran Partita»). Mitglieder des Royal Concertgebouw Orchestra, Alexei Ogrintchouk (Oboe, Leitung). BIS 2463 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).

Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – rein medial

 

Von Peter Hagmann

 

Sogar die Wiener Philharmoniker mussten ihren Kotau vor Kaiserin Corona machen. Sie machten ihn agil, wie es ihre Art ist – und so konnte das Neujahrskonzert 2021 trotz allem stattfinden. Im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins wie stets, aber ohne Publikum, ohne Blumenschmuck, wenn auch nicht ohne Zuhörer, nicht ohne Beifall. Millionen von Menschen in über neunzig Ländern der Welt verfolgten die Direktübertragung durch Radio und Fernsehen des Österreichischen Rundfunks, weitere Hunderttausende werden den Anlass in den Streaming Diensten oder über CD und DVD wahrnehmen. Und wer wollte, konnte sogar interaktiv teilnehmen, konnte sich von überall her auf einer Internetseite anmelden, um seinen Beifall durch ein Grazer Unternehmen über sechs leistungsstarke Server und zwanzig hochqualitative Lautsprecher in den Saal übertragen lassen – als Seelenbalsam für das Orchester.

Dennoch: die Aufzeichnung des Konzerts, wie sie jetzt bei Sony greifbar ist, lässt die gedämpfte Atmosphäre deutlich spüren. Ebenso wie auf die Umstände mag das auf den Dirigenten Riccardo Muti zurückgehen, der am Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker seit bald zwanzig Jahren mitwirkt und es heuer, im Jahr seines achtzigsten Geburtstags, zum sechsten Male leitete. Muti hielt vor dem kollektiven Neujahrsgruss eine längere, pathosgesättigte, inhaltlich den sicheren Allgemeinplatz jedoch nicht verlassende Ansprache und sorgte für einen feierlichen, opulenten Grundton. Gut bekommt das vor allem den beiden grossen Walzern aus der Schatzkiste von Johann Strauss (Sohn). Im «Kaiserwalzer» steigert Muti den einleitenden Marsch in goldrichtig gemessenem, aber nicht stur durchgezogenem Tempo zu einem mächtigen, klanglich perfekt ausbalancierten Höhepunkt, der die Würde der durch die Pandemie besonders empfindlich getroffenen musikalischen Kunst kraftvoll ins Licht rückt. Der im Dreivierteltakt gehaltene Hauptteil dann schwankt bewegend zwischen nachdenklicher Melancholie und geradezu trotzigem Diesseitsvertrauen. Dass in einem Vierteljahr, spätestens einem halben Jahr alles wieder anders als jetzt sein mag, das lässt Muti im «Frühlingsstimmenwalzer» anklingen. Auch hier rauscht das Orchester in grossem Ton auf, es spielt jedoch so brillant mit der ihm eigenen rhythmischen Flexibilität, dass die frische Jugendlichkeit dieses ebenfalls von Johann Strauss (Sohn) stammenden Stücks ungeschmälert zur Geltung kommt. Auch wer der übersteigerten Kommerzialität des Neujahrskonzerts distanziert gegenübersteht, wird hier vorbehaltlos anerkennen können, dass kein Orchester der Welt diese Musik besser spielt als die Wiener Philharmoniker.

Zu diesen beiden Grosswerken und dem traditionellen Doppel mit dem «Donauwalzer» von Johann Strauss (Sohn) und dem abschliessenden «Radetzkymarsch» von Johann Strauss (Vater) kam in diesem Neujahrskonzert ein geistreich zusammengestelltes Programm, das in etwas entlegenere Gefilde der Walzerproduktion vorstiess. In der Ouvertüre zu seiner Bühnenmusik «Dichter und Bauer» lässt Franz von Suppé hören, dass auch bei sogenannt leichter Musik Handwerk und Inspiration gefordert sind – in der Auslegung durch die Wiener mit Muti zeigt sich jedenfalls mancher Reiz. Und im Walzer «Bad’ner Mad’ln» gibt Karl Komzák (Sohn), ein einflussreicher k.u.k Marschkomponist, tritt zutage, wie eng das, was wir heute unter dem Stichwort «Wiener Walzer» subsumieren, mit der Militärmusik verbunden ist.

Neujahrskonzert 2021. Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti. Sony 10350162 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2021).

Beethovens Bagatellen – Wunderwerke an Verdichtung und Originalität

Der Pianist Christoph Scheffelt legt die überraschungsreichen Miniaturen in einer vorbildlichen Aufnahme vor.

 

Von Peter Hagmann

 

Klein sind sie, aber fein. Kurz, doch voller Überraschungen. Sein Leben lang hat sich Ludwig van Beethoven auch mit Petitessen abgegeben. Nicht Versuche, nicht Entwürfe sind es, sondern abgeschlossene Werke kürzester Ausdehnung für Klavier – Aphorismen gleichsam, in denen sich Verdichtung unerhörter Art und frappante Originalität finden. Erste Beispiele dazu stammen von 1783, der Komponist war da knapp dreizehn Jahre alt. Etwas älter geworden, bezeichnete er diese Werke als Bagatellen; der Titel taucht 1795 erstmals auf – in jenem Jahr, da Beethoven auch das Rondo mit dem Titel «Die Wut über den verlorenen Groschen» schrieb. Wohl 1802, Beethoven hatte sich inzwischen in Wien niedergelassen, entstanden sieben Bagatellen, die dem Komponisten so wertvoll waren, dass er sie als Opus 33 in sein offizielles Werkverzeichnis aufnahm. Immer wieder wandte sich Beethoven diesen Kleinigkeiten zu – bis hin in die späte Zeit seines Schaffens, aus der die elf Bagatellen op. 119 und die sechs Bagatellen op. 126 stammen.

Im Konzert werden diese Miniaturen vergleichsweise selten gespielt, in Aufnahmen sind sie aber recht ordentlich vertreten. Im nun zu Ende gehenden Beethoven-Jahr haben hier einige Einspielungen von sich reden gemacht. Grigori Sokolov hat seine Sicht auf die Bagatellen op. 119 mitschneiden lassen, Paul Lewis und Tanguy de Williencourt haben alle drei mit Opuszahlen versehenen Gruppen eingespielt – und genau dieses hat auch der als Deutscher in Chile aufgewachsene, heute in der Schweiz lebende Pianist Christoph Scheffelt getan. Seine Aufnahme klingt ganz besonders gut, was die Begegnung mit den Bagatellen Beethovens besonders attraktiv macht. Für ein solches Klangerlebnis braucht es natürlich und in erster Linie einen begabten Pianisten; ebenso bedeutsam ist aber auch der Techniker, der die Mikrophone platziert, das Mischpult überwacht und schliesslich den Schnitt besorgt. In diesem Fall ist das Andreas Werner, der das Spiel Scheffelts im Frühling dieses Jahres in der Kirche Boswil gebannt hat.

Ganz unmittelbar klingt der Flügel in dieser Aufnahme, aber nicht so direkt, als ob man die Ohren ins Instrument hielte. Zugleich herrscht ein sinnlicher Raumklang, der die Musik einkleidet und das, was von der Zeitdauer her als klein erscheint, mit Grösse versieht – mit der Grösse des Einfalls eben. In seinen Auslegungen der Bagatellen arbeitet Christoph Scheffelt das in packender Eindeutigkeit heraus. Ohne die Grenze zum Manierierten zu überschreiten, spitzt er die charakteristischen Züge der Kompositionen zu, bringt sie auf den Punkt und lässt sie den Zuhörer ungeschmälert wahrnehmen. Beispielhaft zu erleben ist es in der g-Moll-Bagatelle, der zweiten aus dem Opus 126; der Pianist unterstreicht den dialogischen Charakter der Stücks und macht es zur Szene. Eine aufbrausende Geste, die er in einem feurigen, technisch blendenden Allegro nimmt, begegnet einer sehr lyrischen, kantablen Antwort, aus der heraus sich die Fortsetzung entwickelt – eine Fortsetzung, die allerdings zu insistenten Fragen führt. Ausgezeichnet getroffen ist das.

Die auch auf den Streaming-Diensten greifbare CD ist in Koproduktion mit Radio SRF 2 Kultur entstanden und bei Prospero Classical erschienen. Prospero? Ja, so nennt sich das neue Schweizer Label, das Martin Korn, lange Jahre bei Sony Music als Labelmanager für die Schweiz tätig, gegründet hat und mit Erfolg betreibt. Acht Alben hat Prospero im ersten Jahr des Bestehens herausgebracht, weitere Produktionen sind geplant – mit Christoph Scheffelt, aber auch mit Pianisten wie Oliver Schnyder, Ulrich Koella oder Alena Cherny. Das stilistische Spektrum ist weit, es reicht vom Solistischen über Kammermusik bis zu einzelnen Orchesteraufnahmen. Die Zeit der sogenannten Majors ist vorbei, die CD lebt aber weiter; das grosse Geschäft wartet hier nicht mehr, in den diversen Nischen blühen jedoch Pflanzen von ungeahntem Reichtum – in Form wie Farbe.

Ludwig van Beethoven: Bagatellen für Klavier opp. 33, 119, 126; Bagatelle in a-Moll «Für Elise». Christoph Scheffelt (Klavier). Prospero Classical 0008 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2020).

Zuzana Ferjenčíková, Aloys Mooser und Franz Liszt in Fribourg

Bös dreingeschaut habe der Orgelbauer, als Franz Liszt in Begleitung zweier Damen das neue Instrument Aloys Moosers in der Kathedrale von Fribourg habe ausprobieren wollen. Ja, Liszt war auch ein fantastischer Organist – wie Zuzana Ferjenčíková hören lässt.

 

Von Peter Hagmann

 

Man kann sich den Auftritt nicht lebhaft genug vorstellen. Am 15. September 1836 betrat Franz Liszt, 25 Jahre alt, ein Model von Mann und ein schon sehr berühmter Zauberer an den Klaviertasten, das Münster im schweizerischen Freiburg, um die dort zwei Jahre zuvor fertiggestellte Orgel von Aloys Mooser kennenzulernen. Das Instrument, eine neue Inkarnation deutsch-romantischer Orgelbaukunst, hatte Aufsehen erregt; Mendelssohn sollte es ebenfalls erkunden, genau gleich wie später Bruckner. Aber Liszt, der Starpianist, der die Frauen taumeln machte? Gewiss, als Organist war er damals noch nicht wirklich bekannt, als Orgelkomponist erst recht nicht. Aber das majestätische Instrument hatte es ihm längst angetan, und dass er dem Katholischen und den Düften des Weihrauchs nicht abgeneigt war, sollte sich im Verlauf seines späteren Lebens noch vielfach zeigen.

Natürlich hatte Franz Liszt, als er die Empore von Saint-Nicolas erklommen hatte, zwei Damen an seiner Seite: die Gräfin Marie d’Agoult, die ihm eben erst seine Tochter Blandine zur Welt gebracht hatte, und George Sand, eine enge Freundin des Paares. Die Schriftstellerin, die ihren späteren Gefährten Frédéric Chopin kurz nach der Freiburger Episode zusammen mit Liszt und seiner Marie bei einem Empfang in Paris erstmals zu Gesicht bekommen sollte, war es auch, die von der finsteren Miene des Orgelbauers bei der Begrüssung der Gäste schrieb. Sie dürfte sich bald erhellt haben, denn nach dem Freiburger Organisten Jacques Vogt setzte sich Liszt selbst an den Spieltisch, um eine gross angelegte Fantasie über das «Dies irae» zu extemporieren. Ob es tatsächlich, wie berichtet wird, das «Dies irae» aus dem Requiem Mozarts war, ist umstritten.

Über all das berichtet die junge, sehr ambitionierte, hochbegabte Organistin Zuzana Ferjenčíková aus der Slowakei. In Bratislava hat sie die Grundlagen des Orgelspiels erworben, beim Wiener Domorganisten Peter Planyavsky hat sie später weitergelernt, und schliesslich hat sie eng mit Jean Guillou an Saint-Eustache in Paris zusammengearbeitet. Zur Liszt-Spezialistin wurde sie in den sieben Jahren als Titularorganistin des Schottenstifts an der Wiener Freyung. Dort hat sie 2011, zweihundert Jahre nach der Geburt des Komponisten, die Orgelwerke Liszts in sechs Konzerten zur Aufführung gebracht. Jetzt ist sie zu einer Gesamtaufnahme dieses Korpus aufgebrochen – und dass sie den ersten Schritt an der Mooser-Orgel in Fribourg gemacht hat, hat seine eigene Richtigkeit.

Denn: was für ein Instrument. Betörend schön – und exzellent aufgenommen durch den Tonmeister Werner Dabringhaus von MDG, dem speziellen, für seine natürliche Akustik bekannten Label aus Deutschland. Anders als die historisch etwas später liegenden Instrumente der französischen Romantik, nämlich jene von Aristide Cavaillé-Coll, geht die Orgel Aloys Moosers fast ausschliesslich von Grundstimmen aus; in der vier Manuale und Pedal umfassenden Disposition dominieren die Achtfuss- und die eine Oktave höher als notiert klingenden Vierfuss-Register, während die Aliquoten, die für Glanz sorgen, weit im Hintergrund stehen. Runde Wärme bringt das auch schon bald zweihundert Jahre alte, ausgezeichnet erhaltene Instrument ein – mit einem unerhört vielgestaltigen Spektrum an Streicherfarben und einer ganz eigenen Fülle auf der Grundlage eines 32-Fuss-Registers im Pedal, also einer zwei Oktaven tiefer als notiert klingenden Basis. Blendend, wie Zuzana Ferjenčíková die Reize des Instruments zu nutzen versteht.

Und stupend die manuelle Fertigkeit wie die Pedaltechnik der Organistin. Ohne je an Grenzen zu stossen, macht sie hörbar, wie Liszt durch die Integration pianistischer Mittel das Orgelspiel revolutioniert hat. Wer mit Präludium und Fuge über das Thema B-A-C-H einsteigt, gerät nach einer guten Minute allerdings arg ins Stolpern. Denn dort, wo das berühmte Viertonmotiv vom Pedal zum zweiten Mal eingeführt wird, erklingt statt des erwarteten Halbtons doch tatsächlich ein veritabler Ganztonschritt. Ein Fehler? Eine Peinlichkeit? Alles andere, genau so steht es im Notentext – in der nie gespielten, sehr rhapsodischen, sehr pianistischen Erstfassung des Werks von 1855. Spektakulärer lässt sich die Eröffnung des grossen Projekts von Zuzana Ferjenčíková nicht denken; die üblicherweise vorgetragene Zweitfassung des Stücks, sie stammt von 1870, soll in eine der folgenden Ausgaben integriert werden.

Hier aber, in Vol. 1, folgen auf B-A-C-H Transkriptionen von Werken Johann Sebastian Bachs, die viel zum romantischen Bach-Bild und zur tiefen Verehrung Liszts für diesen Komponisten zu erkennen geben. Ausserdem finden sich kirchliche oder kirchlich gemeinte Stücke wie ein «Regina coeli» von Orlando di Lasso in einer Orgelfassung Liszt – und dies gleich zwei Mal, denn Zuzana Ferjenčíková spielt das Stück nicht nur an der Mooser-Orgel, sondern auch auf der Chororgel von Sebald Manderscheidt von 1657.

Den krönenden Abschluss bieten Einleitung, Fuge und Magnificat aus der Symphonie zu Dantes «Divina Commedia». Sperrig, ja spröd klingt diese Musik bisweilen. Auf dem Klavier sind die langsamen, weit gespannten einstimmigen Verläufe in den späteren Werken Liszts fast nicht zu bewältigen. Hier, auf der Orgel, auf dem herrlichen Freiburger Instrument und unter den Händen von Zuzana Ferjenčíková, der ebenso phantasievoll wie strukturbezogen registrierenden Interpretin, offenbart sich die radikale Modernität von Liszts Denken: in Form von Klangfarbenmelodien avant la lettre. Nicht zuletzt macht die sinnliche, geradezu trunkene Koloristik bewusst, dass die künstliche Realität der Aufnahme das alles aus einer Position heraus erfahren lässt, die in der Wirklichkeit des Konzerts niemand einnehmen könnte. Denn hier ergibt sich ein Hörerlebnis, das detaillierte Nähe und die Weite des Raumklangs kongenial miteinander verbindet.

Franz Liszt: Das Orgelwerk, Vol. 1. Zuzana Ferjenčíková (Orgel, Saint-Nicolas de Fribourg). MDG 9062140-6 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020).

Mit weitem Blick und ausgeprägter Kreativität

François-Xavier Roth ist der Dirigent der Stunde. Davon zeugt eine stolze Reihe neuer Aufnahmen – eine interessanter als die andere.

 

Von Peter Hagmann

 

Wie schafft er das nur? Sechs neue CD-Veröffentlichungen mit François-Xavier Roth sind in diesem Jahr auf dem Markt und in den Streaming-Diensten erschienen, und es ist nicht auszuschliessen, dass vor Weihnachten noch eine weitere dazukommt. Gewiss, vieles davon ist in Konzerten aufgezeichnet worden. Aber ein Stück wie Beethovens Fünfte verlangt doch Besonderes an Vorbereitung; da reicht es nicht, sich die Partitur zu eigen zu machen und sie in vier halben Proben mit dem Orchester einzustudieren – mit einem Orchester, das wie manch anderes vorgibt, ein Werk wie dieses zu kennen und es im Traum spielen zu können. François-Xavier Roth verfügt offenbar über eine schnelle Auffassungsgabe, er stellt sich und seinen Mitwirkenden rasch die richtigen Fragen und ist vor allem – hochmusikalisch.

Wer sich dem letzten Satz von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3 zuwendet, erkennt es auf Anhieb. Äusserst sorgfältig ist der Bogen über den Satz gespannt. Sehr zart hebt er an, mit Streichern, die ohne Vibrato spielen und die Zartheit überhaupt erst ermöglichen – das Vibrato kommt später dazu und macht dann ganz besonderen Effekt. Packend ist der Spannungsverlauf gezügelt. Es fehlt nicht an Emotion, wohl aber ist das Gefühlhafte, das in diesem Satz so leicht abrutschen kann, durch die Luzidität des Klangs gebändigt. Die instrumentalen Farben sind ungewöhnlich plastisch ausgeformt, sie treten prägnant in Erscheinung und verleihen dem musikalischen Geschehen vital bewegte Konturen. Der krönende Abschluss, der manchem Dirigenten entgleitet und darum im Bombast ertrinkt, kommt hier zu wahrer, um nicht zu sagen: wahrhafter Grösse.

Das Gürzenich-Orchester, dem François-Xavier Roth seit 2015 als Kölner Generalmusikdirektor vorsteht, zeigt in der Aufnahme von Mahlers Dritter, welch blendendes Niveau es erreicht hat. Roth macht in Köln nicht nur aufsehenerregende Programme, er sorgt nicht nur für Abende im Geist des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, das er von 2011 bis zu der unsäglichen Liquidation dieses geschichtsträchtigen Klangkörpers 2016 leitete. Nein, Roth leistet in Köln auch orchestrale Feinarbeit, er hat das Gürzenich-Orchester regelrecht verwandelt. Grossartig zu erleben ist das auf der im Sommer dieses Jahres erschienenen Aufnahme von Schumanns Sinfonien Nr. 1 und 4 mit den Kölnern. Hell ist der Grundton, und weil der Dirigent auf einen freilich alles andere als inhomogen wirkenden Spaltklang setzt, kann man tief in die Partituren hineinhören. Dazu kommt in der Ersten, der sogenannten Frühlingssinfonie, ein unerhört federnder Schwung, ein Drängen und Ziehen, dem sich niemand, der zuzuhören weiss, verschliessen kann.

Dass Roth der Ersten die Vierte in der wenig bekannten Urfassung an die Seite stellt, ist von eigener Plausibilität. Nicht nur, weil Johannes Brahms die viel später entstandene Zweitfassung der Sinfonie Schumanns, die heute üblicherweise auf den Programmen steht, abgelehnt hat. Sondern auch, weil die Vierte, unmittelbar nach dem Erfolg der Ersten ebenfalls 1841 entstanden, eigentlich die Zweite ist und die in der Ersten angelegten Vorstellungen von der Sinfonie als einem poetischen Ganzen konkret weiterentwickelt. Auch hier fällt das französische Temperament des 1971 in Neuilly bei Paris geborenen Dirigenten auf. Er geht von den Farben aus, die er sensibel ineinander fügt, und schafft damit eine Transparenz, die das lange gepflegte Klischee von den Ungeschicklichkeiten in Schumanns Instrumentation entschieden ausser Kraft setzt. Und als Kenner der alten Musik arbeitet er auch bei Schumann pointiert mit der Artikulation. Nimmt er in der Romanza des zweiten Satzes die Punktierten sehr weich und lässt er am Satzschluss die Stimmen förmlich ineinanderfliessen. Unterscheidet er im dritten Satz messerscharf zwischen Portato und Staccato. Und nimmt er das Allegro vivace im Finale sehr leichtfüssig, was ein virtuoses Tempo ermöglicht.

Ohne Zweifel profitiert die Arbeit von François-Xavier Roth mit einem Klangkörper wie jenem aus Köln in hohem Mass von den Erfahrungen, die der Dirigent mit dem 2003 von ihm gegründeten Orchester Les Siècles gesammelt hat. Die Besonderheit dieses Ensembles besteht darin, dass es die gesamte Breite des Repertoires abdeckt, also Boulez so gut wie Lully bewältigt, für seine Interpretationen aber durchwegs Instrumente und Spielweisen aus der Entstehungszeit der vorgetragenen Werke verwendet. Das führt zu unerwarteten Hörerlebnissen, wie etwa die Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns oder die erste Sinfonie Mahlers in der Urfassung mit dem Titel «Titan» erweisen. Bei der soeben aufgelegten Interpretation von Beethovens Fünfter wiederholt sich das. Wild, aber nicht massiv, zugespitzt und scharf kommt diese revolutionäre Musik hier daher – so wild wie bei Teodor Currentzis, aber wesentlich klarer strukturiert in der Aussage und gepflegter im Klang. Wie viel von der französischen Musik seiner Zeit Beethoven in die Fünfte einfliessen liess, zeigt auf dieser CD zudem eine Sinfonie des Franzosen François-Joseph Gossec. So instinkthaft musikalisch er wirkt – allein aus dem Bauch kommt bei François-Xavier Roth nichts.

Aufnahmen mit dem Dirigenten François-Xavier Roth:
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3. Gürzenich-Orchester Köln. Harmonia mundi 905314.15 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2019)
Robert Schumann: Sinfonien Nr. 1 und 4 (Urfassung). Gürzenich-Orchester Köln. Myrios 028 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020)
Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5. François-Joseph Gossec: Symphonie en dix-sept parties. Les Siècles. Harmonia mundi 902423 (CD, Aufnahme 2017, Publikation 2020)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 mit «Blumine». Les Siècles. Harmonia mundi  905299 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2019)
Camille Saint-Saëns: Sinfonie Nr. 3. Daniel Roth (Orgel), Les Siècles. Actes Sud ASM 04 (CD, Aufnahme 2010, Publikation 2010)