Lieder – nicht nur aus Frankreich, sondern auch mit ungewöhnlicher Begleitung
Von Peter Hagmann
So treten wir denn ein in diesen vornehmen Salon an der, sagen wir, Rue du Faubourg Saint-Honoré und schauen uns, das Glas Champagner in der Hand, etwas verlegen um zwischen den schweren Samtvorhängen, den prallvollen Bücherregalen, den Gemälden und dem Flügel von Erard. Eine musikalische Soirée werde es geben, ungewöhnlich im Repertoire wie in der Besetzung. Und eine Sängerin, die allen ein Begriff sei, werde auftreten – da ist sie schon, die grosse Véronique Gens. Sie ist auf der Suche nach ihren Kolleginnen und Kollegen vom Ensemble I Giardini, nach Shuichi Okada und Pablo Schatzman (Violinen), Léa Hennino (Viola), Pauline Buet (Violoncello) und David Violi (Klavier). Doch halt, es ist ja bloss ein Traum. Ein Traum, in den man unter dem Eindruck des Eröffnungsstücks auf dieser wunderbaren CD mit dem geheimnisvollen Titel «Nuits» versinken könnte.
Von der Nacht ist in dem Lied, das der 23-jährige Guillaume Lekeu 1893, ein Jahr vor seinem frühen Tod, auf einen eigenen Text geschrieben hat, tatsächlich die Rede – von einer Nacht der Erinnerung an liebevolle Begegnungen. Silberhelle Klänge liegen unter der Gesangsstimme; in ihren eigenartigen Mischungen, sie erinnern bisweilen an den Ton des Harmoniums, evozieren sie Bilder von klarer Kontur und eindringlicher Emotion. Das Lied ist kein Lied, jedenfalls keines im Sinne des deutschen Kunstlieds mit seiner Blüte in der Romantik, es ist vielmehr eine «mélodie», um diesen spezifisch französischen (und letztlich unübersetzbaren) Gattungsbegriff zu nennen. Und begleitet wird die Singstimme nicht von einem Klavier, sondern von einem Klavierquintett. Wie es sich in einem Pariser Salon der III. Republik hätte ergeben können.
Vier Stadien der Nacht werden auf dieser dramaturgisch konsequent gestalteten CD besungen. Und dies von Komponisten wie Hector Berlioz, Gabriel Fauré, Ernest Chausson, aber auch von Unbekannten wie eben Guillaume Lekeu oder Guy Ropartz. Jules Massenet steuert Hispanismus im Stil von Bizets «Carmen» bei, Camille Saint-Saëns erzeugt mit liegenden Quinten orientalisch angehauchte Stimmung. Zwischen die vokalen Beiträge eingestreut sind einige rein instrumentale Nummern, unter deren Komponisten der Organist Charles-Marie Widor erscheint. Und am Ende kommt es zum nahtlosen Übergang von der Mélodie zum Chanson – dann nämlich, wenn «La Vie en rose» erklingt, das herrlich kitschige Liebeslied des Filmkomponisten Louis Guglielmi, genannt Louiguy, auf einen Text von Edith Piaf, die damit aller Herzen eroberte.
Véronique Gens beherrscht auch dieses Idiom – obwohl natürlich auffällt, dass da eine perfekt ausgeformte, an barocker und klassischer Musik gewachsene Stimme zu hören und somit eine doch merkliche Differenz zur Welt von Edith Piaf zu erleben ist. Bedeutender sind hier jedoch die stimmliche Schönheit, die stille, aber wirkungsvolle Gestaltungskraft und, verbunden mit der erstklassigen Diktion, die Sorgfalt im Umgang mit den Texten, die Véronique Gens einbringt. Und I Giardini sorgen für ausgesuchteste Begleitung. Aufgenommen wurde die CD in dem schönen Konzertsaal von Lüttich, der dank dem Tonmeister Olivier Rosset seine eigene Rolle spielen darf. Und entwickelt wurde das Projekt von Bru-Zane, der in Venedig, ja dort, domizilierten Stiftung für die Erkundung und die Pflege der französischen Musik der Romantik. Dass diese einzigartige CD bei dem Label Alpha erschienen ist, erscheint geradezu als naheliegend.
Nuits. Lieder von Hector Berlioz, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré, Jules Massenet, Ernest Chausson u.a. Véronique Gens (Mezzosopran), I Giardini. Alpha 589 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).