Schuberts Oktett mit Isabelle Faust und ihren Freunden
Von Peter Hagmann
Eine CD wie diese macht echt glücklich. Das Oktett Franz Schuberts in F-dur für Streichquintett und drei Bläser zu erarbeiten war der Wunsch der Geigerin Isabelle Faust. Und erfüllen wollte sie sich ihn im neuen Geist der alten Musik: mit Instrumenten grosso modo aus der Entstehungszeit der Komposition, mit den ihnen angemessenen Spieltechniken und den dazu gehörigen interpretationsästhetischen Maximen. Auf dieser Basis gelang der Musikerin gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Dunstkreis des Freiburger Barockorchesters eine künstlerisch wie atmosphärisch unerhört treffende Auslegung dieses grossen, grossartigen Stücks von 1824 – eines Werks, das nicht mehr nur Kammermusik und noch nicht ganz Orchestermusik ist.
Isabelle Faust selbst spielt ihre Stradivari «Sleeping Beauty» von 1704, auf der sie ein wunderbar zartes Pianissimo zu erzielen vermag. Sie eröffnet damit eine Welt des Leisen, des intimen Gesprächs, an welcher der Klarinettist Lorenzo Coppola mit seinen gehauchten Passagen hochstehend Anteil nimmt. Sehr präsent sind die Mittelstimmen, die Anne Katharina Schreiber an der Zweiten Geige, der Bratscherin Danusha Waskiewicz und dem oft in brillanter solistischer Fügung heraustretenden Cello von Kristin von der Goltz, aber auch dem agilen Fagottisten Javier Zafra anvertraut sind, während James Munro am Kontrabass mit seinem federnden Ton für elegante Fundamentbildung sorgt. Aufsehen erregt auch der Hornist, der an seinem ventillosen Instrument von 1802 eine ganz erstaunliche klangliche Konstanz erreicht – hochgradig virtuos ist das.
Ja, bei aller Intimität des musikalischen Dialogs, welche die Schönheiten dieses Stücks atemberaubend zur Geltung bringt, kommt es immer wieder zu Momenten des spritzigen Zugriffs und des gewagten Drahtseilstanzes. Das Scherzo des dritten Satzes wird spitz und leicht genommen, das Horn schmettert dazu frisch-fröhlich ins Geschehen. Und wenn im Finale die Primgeigerin und der Klarinettist mit ihren halsbrecherischen Triolen wetteifern, hält man für Augenblicke den Atem an. Besonders auffallend ist jedoch der Umgang mit den Tempi, die immer wieder gleichsam aus dem Moment heraus nuanciert werden – um einzelne Gesten auszuzeichnen, den Bogen zu sichern oder eine dynamische Steigerung zu unterstützen.
Dies alles jederzeit im Dienst am Werk – an einer Partitur, die in der Charakteristik ihrer Gesten und der Inspiration ihrer Ausformung zum Allerbesten in Schuberts Schaffen gehört. Sehr langsam hebt bei Isabelle Faust und ihren Freunden der Kopfsatz an, in unendlicher Sorgfalt wird dieses Adagio ausgelegt – bis hin zum Triller der Klarinette, der nicht einfach klingelt, sondern sich subtil beschleunigt. Und dann das Allegro, das in der Tempobeziehung logisch herbeigeführt, durch die Energie im Inneren getragen und durch die explizite Genauigkeit in der Phrasierung geprägt wird. Im zweiten Satz lässt sich der Reichtum an Klangfarben bewundern, den die alten Instrumente hervorzaubern – besonders dann, wenn die Primgeigerin mit den schönsten geraden Tönen dazu tritt, das Vibrato also sehr sorgfältig und sparsam einsetzt. Der Besonderheiten sind kein Ende, zumal im vierten Satz mit seinen Variationen, in denen die einzelnen Instrumente zu Personen mit sehr eigenen Physiognomien werden.
Nur ein Wunsch muss naturgemäss offenbleiben. Der nämlich, dieses Wunderstück in dieser Wunderinterpretation im Konzert hören zu können.
Franz Schubert: Oktett in F-dur, D 803. Isabelle Faust (Violine), Anne Katharina Schreiber (Violine), Danusha Waskiewicz (Viola), Kristin von der Goltz (Violoncello), James Munro (Kontrabass), Lorenzo Coppola (Klarinette), Teunis van der Zwart (Horn), Javier Zafra (Fagott). Harmonia mundi 902263 (Aufnahme 2018).
Bach, Beethoven und Mendelssohn mit dem Chiaroscuro-Quartett in Zürich
Von Peter Hagmann
Selbst für eingefleischte Liebhaber des Streichquartetts dürfte dieser Abend im Rahmen der Neuen Konzertreihe Zürich zu einem Schlüsselerlebnis geworden sein. Mit dem Auftritt des Chiaroscuro-Quartetts in der Kirche St. Peter öffnete sich eine Tür zu einer ganz und gar neuen Vorstellung davon, was das Streichquartett sei, wie es klingen könne und welche Hörerlebnisse es biete. Schon gleich zu Beginn, wie Pablo Hernán Benedí an der zweite Geige das Thema aus Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge» anklingen liess, stand im Raum, dass hier aufgrund ganz anderer Prämissen gearbeitet wird als in Streichquartetten herkömmlicher Art. Wie dann die Primgeigerin Alina Ibragimova antwortete, wie wenig später die Cellistin Claire Thirion und endlich die Bratscherin Emilie Hörnlund dazu traten und nach 78 Takten der Contrapunctus 1 aus dem gewaltigen Fugen-Kompendium des Thomaskantors zu seinem Ende fand, hatte man schon erheblich gereinigte, geöffnete und sensibilisierte Ohren.
Einzigartig am Chiaroscuro-Quartett ist nicht die Tatsache, dass die vier Ensemblemitglieder allesamt wertvolle alte Streichinstrumente spielen; das taten und tun auch andere Quartette, berühmtere wie weniger berühmte. Die Besonderheit besteht vielmehr darin, dass diese alten Instrumente nicht, wie es sonst der Fall ist, auf die heutigen Erfordernisse hin umgebaut, also mit Verstärkungen und modernen Saiten versehen sind, sondern dass sie ihren ursprünglichen Zustand bewahrt haben. Sie sind mit Darmsaiten bespannt, werden etwas tiefer gestimmt und mit jenen Bögen bespielt, die der Entstehungszeit der jeweiligen Stücke entsprechen. Das allein ergibt schon einen stark veränderten Klang – allerdings nicht das etwas stumpfe Näseln, durch welches das Spiel so eminenter Vorkämpfer wie Alice Harnoncourt oder Jaap Schroeder noch beeinträchtigt war. Der Umgang mit den alten Instrumenten hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren derart entwickelt, dass auf ihnen heute eine ganz eigene, klanglich brillante Virtuosität möglich, ja selbstverständlich ist. In krassem Gegensatz zu Erscheinungen wie der Geigerin Anne-Sophie Mutter oder dem Cellisten Mischa Maisky dominiert hier ein heller, fast silberner Klang, der in der Leichtigkeit der Tongebung und im Leisen verankert ist, der ausserdem von einer unerhörten Vielfalt an Farben lebt.
Die Instrumente sind das eine, das andere und ebenso wichtig ist die Spielweise. Grundlage bilden beim Chiaroscuro-Quartett nicht der satte, in jedem Moment von Vibrato getragene Ton, sondern sein Gegenteil: das gerade, reine Klingen, das durch Obertöne geformt und durch ein differenziertes, oftmals kaum bemerkbares Vibrato bereichert wird – jene Sonorität also, die von den im Klangbild der sechziger Jahre sozialisierten Besserwissern besonders acharniert bekämpft wurde, inzwischen aber selbst im sogenannt herkömmliche Musizieren ihre Wirksamkeit entfaltet. Wo das Vibrato und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten des Kaschierens fehlen, erhöhen sich allerdings die Anforderungen an die Reinheit der Intonation – und da erwiesen die drei Stücke aus der «Kunst der Fuge», wozu das Chiaroscuro-Quartett in der Lage ist. Nicht nur entfalteten die einzelnen Töne im Gehörgang eine Intensität sondergleichen, auch das Zusammenklingen erreichte ein Miteinander und Ineinander exzeptioneller Güte; es war von einer Leuchtkraft, die einen geradezu von den Kirchenstühlen abheben liess. So war dieser Einstieg für die Ausführenden wie die Rezipierenden gleichermassen von Nutzen.
Mit solcherart gespitzten Ohren betrat man den Garten der Nummer 2 aus Ludwig van Beethovens Opus 18, des Streichquartetts in G-dur von 1800. Um sogleich zu bemerken, dass in diesem Fall der hallige Kirchenraum, eine Übergangslösung für die Zeit der Bauarbeiten an der Tonhalle, seine Einschränkungen bemerkbar machte: Die kleinen Notenwerte, gerade wenn sie wie im Kopfsatz als Auftakte eingesetzt sind, gingen unter. Davon abgesehen herrschte aber vielgestaltige Munterkeit, die sich vitaler Phrasierung und expliziter Artikulation verdankte. Im Adagio cantabile ging Alina Ibragimova mit ihren agilen Diminutionen entschieden voran – wobei zugleich auffiel, wie gleichberechtigt die vier Stimmen in Erscheinung traten, wie klar darum die einzelnen Lineaturen und ihr Zusammenwirken in der vom Ensemble gepflegten Transparenz zur Geltung kamen. Das mag auch darauf zurückgehen, dass mit Pablo Hernán Benedí, dem ganz in sich ruhenden Sekundgeiger, der spürbar solistisch agierenden Primgeigerin ein ebenbürtiger Partner gegenüber stand, dass ausserdem die Cellistin Claire Thirion mit ihrem kernigen, aber nie bohrenden Klang, ihrer flinken Beweglichkeit und ihrem weiten Ausdrucksspektrum das Geschehen diskret, aber erfolgreich steuerte – wie sich im Finale erweisen sollte. Zuvor gab es aber noch das Scherzo, in dessen flüsterndem Ton zutage trat, mit welch hoch entwickelter die Piano-Kultur das Quartett zu Werk geht. Da war denn die ganze Kunst dieses aussergewöhnlichen Ensembles ausgelegt: Kunst im Zeichen von historisch informierter Aufführungspraxis 2.0. Das Ergebnis wird man nicht so rasch zu den Akten legen.
Zumal es im Streichquartett Nr. 1 in Es-dur, op. 12, von Felix Mendelssohn Bartholdy, einem Meisterwerk aus der Feder eines Frühvollendeten, zu einer Potenzierung dieser Kunst kam. Mit ihren ziehenden Tönen setzte die langsame Einleitung die Latte schon hoch, mit dem lebhaften Gespräch zwischen den vier vernünftigen Leuten nahm das Allegro non tardante die Herausforderung brillant auf. Eine Überraschung bot die Canzonetta des zweiten Satzes, deren Allegretto in Tempo und Artikulation grossartig getroffen war. Wie herrlich sich auf den alten Instrumenten, so sie wirklich alt sind, singen, welch spritzige Agilität sich auf ihnen aber auch erzielen lässt, gaben das Andante espressivo und das Finale in Molto allegro e vivace zu verstehen. Am Ende durfte man – zunächst einmal Atem holen und dann feststellen, dass dieses enorm heikle und darum nicht besonders oft gespielte Stück so vielleicht noch nie erklungen ist.
Einmal mehr hat der Abend erwiesen, welch ungemein weites Feld hier zu beackern wäre. «Wäre», denn was sich im Bereich der Oper, des Chorwesens, der Orchestermusik längst etabliert hat, bildet im Bereich der Kammermusik noch immer eine Ausnahme. Mit aller Deutlichkeit hat das Chiaroscuro-Quartett gezeigt, welches Potential hier wartet – und wie es dieses Potential zu nutzen weiss. 2005 von Alina Ibragimowa als reines Frauen-Quartett im Umkreis der Londoner Musikhochschulen gegründet, steht es heute an der Spitze jener Gruppe von rund einem Dutzend Streichquartetten, die sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben haben; 2010 trat Pablo Hernán Benedí an die Stelle von Sara Deborah Struntz. Besonders fällt auf, dass die vier Ensemblemitglieder noch weitere Tätigkeitsfelder bearbeiten, sei es in Orchestern, in anderen Ensembles oder solistisch – und das durchaus jenseits des Spiels auf Darmsaiten. Alina Ibragimova, die zusammen mit dem Pianisten Cédric Thibergien eine hochkarätige Einspielung der Geigensonaten Mozarts vorgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 26.04.17), spielt neben dem Wirken im Quartett auch neue Musik; in einem Vierteljahr wird sie in Bergen (und mit dem Dirigenten Edward Gardner) ein Violinkonzert des norwegischen Komponisten Rolf Wallin zur Uraufführung bringen. Das ist eine Gegenwart, die spannender nicht sein könnte. Sie hat fraglos Zukunft.
Das Kuss-Quartett und die Sopranistin Mojca Erdmann in Zürich
Von Peter Hagmann
Etwas lang war der Abend mit seinen knapp zweieinhalb Stunden Dauer, aber er war so schlüssig gebaut, dass die Zeit im Flug verging. Herzstück des Programms bildeten zwei Streichquartette Ludwig van Beethovens: Das C-dur-Quartett aus op. 59, das dritte der Rasumowsky-Quartette, liess erleben, mit welcher Entschiedenheit der Komponist in seiner mittleren Schaffensphase neue Ufer in den Blick nahm, während das letzte Quartett, jenes in F-dur, op. 135, mit seiner heftigen sprachlichen Geste vor Ohren führte, zu welchem Ziel Beethoven schliesslich gelangte. Eingerahmt wurde das Herzstück durch zwei Gruppen von Liedern auf Gedichte Heinrich Heines – Klavierlieder von Theodor Kirchner und Felix Mendelssohn Bartholdy, die Aribert Reimann für Singstimme und Streichquartett gesetzt und durch neu komponierte Zwischenspiele miteinander verbunden hat. Obwohl das Klavier mit seinem perkussiven Moment spannungsvolle Kontraste zur Linearität der Singstimme einbringt und damit in eigener Weise Energien freizusetzen vermag, hat die Einrichtung für vier Streicher ihren Reiz; das Kontrapunktische tritt in dieser Konfiguration doch deutlicher heraus.
Genau darin lag die Besonderheit an diesem Abend in der vom Tonhalle-Orchester Zürich veranstalteten Kammermusikreihe. Anders als man es vielleicht annehmen mag, erwies sich der Saal in der Tonhalle Maag für eine heikle Besetzung wie Streichquartett als ausnehmend geeignet; der Nachhall war so eingestellt, dass sich nicht nur ein opulentes Klangbild ergab, sondern auch die Transparenz im Zusammenwirken der einzelnen Stimmen gewahrt blieb. Mit dem sinnlichen Obertonreichtum, der warme Rundung und der klaren Zeichnung in ihrem Timbre fügte sich Mojca Erdmann ausgezeichnet in das Geflecht der vier Stimmen ein. Die deutsche Sopranistin liess dem Text sein Gewicht, formte die Bögen aber ganz aus den musikalischen Gegebenheiten heraus, was zu lebendiger Interaktion zwischen Sprache und Musik führte. Interaktion aber auch zwischen Mendelssohn und Reimann. Die sechs Intermezzi, die Reimann 1997 unter dem Titel «…oder soll es Tod bedeuten?» in die Folge von insgesamt neun Liedern Mendelssohns einfügte, sprechen ganz unmittelbar an. Sie entwickeln sich aus dem soeben Verklungenen, denken es weiter in eigener Sprache und lassen das Bevorstehende anklingen – und sie tun das so charakteristisch und anregend wie die Paraphrasen, die Wolfgang Rihm den vier Sinfonien von Johannes Brahms beifügte.
Nicht weniger Anteil an der Wirkung des Abends hatte das von der Primaria Jana Kuss begründete Quartett, das ihren Namen trägt. Das Ensemble steht für die unverkrampfte Integration neuer Musik und überdies für eine überaus gehaltvolle Spielkultur. Der später hinzugefügte vierte Satz in Beethovens Opus 135 trägt den vom Komponisten beigefügten Kommentar: «Muss es sein? Es muss sein.» Mit welch packender Kraft das Kuss-Quartett die beiden vom Komponisten ganz unmittelbar in Musik gefassten Sätze in Klang brachte, machte hinreissend Effekt. Vielversprechend hatte es schon begonnen. Im dritten Rasumowsky-Quartett lebte die langsame Einleitung zum Kopfsatz von sparsam eingesetztem, sorgsam gestaltetem Vibrato. Das Andante des zweiten Satzes wurde getragen von den volltönenden, bisweilen aber auch wunderbar leisen Pizzicati des Cellisten Mikayel Haknazaryan, während im Menuett der Sekundgeiger Oliver Wille und der sehr zu Recht nicht hinten, sondern vorne sitzende Bratscher William Coleman mit ihrer energiegeladen federnden Tongebung das Geschehen bestimmten. Dem wirbelnden Finale schliesslich blieb das Kuss-Quartett nicht das Geringste schuldig.
Es geht also weiter. Fast 45 Jahre lang hat Klaus Lauer die von ihm 1973 ins Leben gerufenen Badenweiler Musiktage geleitet. Letzten Herbst har er sich von dieser Aufgabe zurückgezogen und die Leitung des zwei Mal im Jahr durchgeführten, hochstehenden Kammermusik-Festivals im südlichen Schwarzwald seiner Nachfolgerin Lotte Thaler übergeben (vgl. Mittwochs um zwölf vom 15.11.17). Sehr zu Recht hat die Musikologin und Journalistin Kontinuität in Aussicht gestellt; zugleich hat sie jetzt, in ihrer ersten Ausgabe, erkennen lassen, in welcher Weise sie eigene Akzente zu setzen vermag. «Heut’ und ewig» hiess das Motto, das in seiner poetischen Formulierung ein Gefühl für das Vergehen der Zeit und, auf der anderen Seite, für das Bestehenbleiben, zum Beispiel singulärer Leistungen, evoziert. Es entstammt einem Gedicht Goethes, dessen Vertonung Wolfgang Rihm 2007 abgeschlossen hat – und Rihm, einer der bedeutendsten Komponisten unserer Tage und regelmässiger Gast bei den Badenweiler Musiktagen, durfte hier nicht fehlen. «Heut und ewig» schien nämlich auch zu bedeuten, dass es auch mit der komponierten Musik weitergeht, jedenfalls sprachen die Programme mit ihren kreativen Verbindungen von Alt und Neu in aller Deutlichkeit davon.
Zum Beispiel an jenem unerhört eindrucksvollen Liederabend, an dem sich nicht nur der Bariton Hans Christoph Begemann und der Pianist Thomas Seyboldt trafen, sondern auch Wolfgang Rihm und Franz Schubert. Und dies in zwei Werkgruppen: mit Gedichten von Goethe einerseits, mit solchen von Heine andererseits. Der Komponist von heute, der Texte aus dem 19. Jahrhundert vertont, wie es sein gut 150 Jahre zuvor geborener Kollege tat, das mag einen bildungsbürgerlichen Zug tragen. Bei Rihm fällt das aber nicht ins Gewicht. Rihm sah sich immer in einem grossen Traditionsstrom und leugnete bei aller Eigenheit seiner Handschrift nie seine innige Verbindung mit Altvorderen. Er kann sich das erlauben, weil sein Vorrat an musikalischen Ideen unerschöpflich scheint und weil, auch wenn er sich aktiv der Tradition nähert, stets so viel Neues auf Tapet kommt, dass kein Déjà-vu entsteht. Vor allem aber sind die von Rihm ausgewählten Texte so besonders, dass sich die kompositorische Beschäftigung mit ihnen geradezu aufdrängt. Die im Vokalen ausserordentlich textgenaue und im Instrumentalen hochgradig farbenreiche Präsentation durch Begemann und Seyboldt liess an all dem keinen Zweifel.
Bei den Goethe-Liedern wurde der Block mit den Vertonungen Schuberts eingerahmt von «Sehnsucht und Nachtgesang» (2014), «Heut’ und ewig» sowie am Ende der äusserst speziellen «Harzreise im Winter» von 2012. Im Falle Heines folgten die sechs einzigen Lieder, die Schubert auf Texte dieses Dichters komponiert hat, sie stammen alle aus dem «Schwanengesang», dem Zyklus «dort wie hier» (2015), bei dem Wolfgang Rihm, die Idee muss man erst haben, ein Gedicht Heines sieben Mal in unterschiedlicher Weise vertont hat. Da kam es zum Höhepunkt des Abends, denn Begemann wie Seyboldt, ein durch langjährige Übung bestens aufeinander eingespieltes Duo, sind Virtuosen im Umgang mit dem Leisen – und «dort wie hier» soll ja als eine Meditation im Pianissimo aufgeführt und gehört werden. Bei Schubert dagegen konnte es vital, ja dramatisch werden, etwa in dem drängenden Zug, den «Rastlose Liebe» entwickelte, oder im Grauen des «Doppelgängers», dessen Nachspiel radikale Konturen annahm. Überhaupt beeindruckten hier die enorme Diversität der Ausdrucksformen und die Einlässlichkeit, mit der sowohl der Sänger als auch der Pianist den Stücken auf den Grund gingen. Dass es dabei bisweilen, zumal in den Schlussmomenten der Lieder, zu einer Art Zelebrieren kam, musste und konnte mit etwas Nachsicht hingenommen werden.
Nicht weniger anregend waren die Verzahnungen in einem Programm, das an den hundertsten Geburtstag Bernd Alois Zimmermanns erinnerte. Die drei Solosonaten für Geige, Bratsche und Cello, die Zimmermann zwischen 1951 und 1960 komponiert hat, erscheinen selten im Konzertsaal – was wenig erstaunt, sind sie doch von kaum zu bewältigender Schwierigkeit. Grossartig, wie Ilya Gringolts die Virtuosität der Geigensonate blitzen liess und wie James Boyd die schwarze Depression der Bratschensonate zur Geltung brachte; die Cellosonate mit David Eggert, der kurzfristig für den erkrankten Thomas Demenga eingesprungen war, musste für uns leider einer unumgänglichen Reisedisposition weichen. Der Moment geriet ohne Zweifel nicht weniger hochstehend, denn der aus Kanada stammende Cellist trug massgeblich zur Wirkung des Trios in B-dur, D 471, von Schubert bei – einem Fragment, das ganz im Geiste Mozarts geschrieben ist. Mozart selbst war mit seinem grossen Duo in G-dur, KV 423, vertreten, in dem Gringolts und Boyd impulsiv mit dem Tempo arbeiteten und sorgsam artikulierten – mithin zu äusserst lebendigem Dialogisieren fanden. Zum Schluss gab es Ludwig van Beethovens Streichtrio in D-dur, op. 9, Nr. 2. Zimmermann und schönste Musik im Tonfall der Klassik, das machte den Reiz dieser blendend komponierten und grandios interpretierten Werkfolge aus.
Starke Gegensätze prägten auch das Eröffnungskonzert; es stand im Zeichen der Verbindung zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Kulturraum, die Klaus Lauer zu einer wichtigen Schiene in seinen Programmen ausgebaut hatte und die Lotte Thaler nun fortführt. Mit dem Diotima-Quartett aus Paris war eines der führenden Ensembles im Bereich der neuen Musik verpflichtet, und dass dieser Ruf gerechtfertigt ist, erwies das Streichquartett in g-moll (1893) von Claude Debussy, das Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Franck Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello) in einer Sinnlichkeit sondergleichen aufblühen liessen. Ganz anders das zwölf Jahre später entstandene Streichquartett Nr. 1 in d-moll, op. 7, von Arnold Schönberg, das die Chromatik bis kurz vor die Atonalität hochtreibt, das in mancher Hinsicht aber an die späten Streichquartette Beethovens anschliesst und nicht ohne Druck auskommt. Geriet dieses Stück dem Diotima-Quartett klanglich und dynamisch etwas pauschal, so fesselte das Ensemble in der Mitte des Programms mit «sogni, ombre e fumi», einem 2016 entstandenen Streichquartett von Tristan Murail. In einen fast tonlos gehauchten Beginn wirft die Bratsche Pizzicati und weiche Akkorde ein, die übrigen Instrumente reagieren mit kurzatmigen Bewegungen, dazu kommen bald mikrotonal verfärbte Klänge, bis sich alles in einem Unisono der beiden Geigen beruhigt – so haptisch gestaltet Murail eine Folge von Verläufen, die von klaren Konturen leben und den Zuhörer auf Anhieb gefangen nehmen. Auch das gibt es: neue Musik, die sich verständlich macht, ohne auf Anbiederung zu setzen. In Badenweiler ist sie zu hören.
«Echos – Ferne Erinnerungen» – so ist die Herbstausgabe der Badenweiler Musiktage überschrieben. Sie findet vom 8. bis zum 11. November statt. Und bringt etwa das Streichquartett op. 1 von Glenn Gould mit dem Minguet-Quartett, einen Auftritt des Arditti-Quartetts mit dem Countertenor Jake Arditti sowie die «Monologe» von Bernd Alois Zimmermann und Ferruccio Busonis «Fantasia contrappuntistica» mit dem Klavierduo Grau-Schumacher.
Ein Abend mit Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud in La Chaux-de-Fonds
Von Peter Hagmann
«Quelle salle, mais quelle salle», rief der Cellist Jean-Guihen Queyras seinen Zuhörern zu, bevor er ihnen eine erste Zugabe ankündigte. Dem kann man sich vorbehaltlos anschliessen: Die Salle de musique von La Chaux-de-Fonds gehört zu den besten Konzertorten dieses Landes und weit darüber hinaus – zumal jetzt auch das im Haus gelegene Restaurant wieder offen ist und niemand mit knurrendem Magen auffallen muss. Schon das Entrée, Moderne im Geist der 1950er Jahre, erregt Aufmerksamkeit und erzeugt Wohlgefallen. Wer in den ersten Stock gelangt, wird ins Foyer eingeladen – das nun allerdings nicht Teil des Musiksaals bildet, sondern zu dem gleich daneben gelegenen Theater von 1837 gehört, das ebenso renoviert und im Originalzustand erhalten ist wie die Salle de musique. Dieser Konzertsaal – mit seinen 1200 Plätzen etwas kleiner als der Musiksaal im Basler Stadtcasino und der Grosse Saal in der Tonhalle Zürich, für eine Stadt wie La Chaux-de-Fonds mit ihren knapp 40’000 Einwohnern aber sehr gross – ist ganz in einem dunklen, nirgends vernagelten, nur geleimten Holz gehalten und bietet eine Akustik, die in ihrer Weite und gleichzeitig ihrer Präsenz tatsächlich ihresgleichen sucht.
Kein Wunder, trafen sich in La Chaux-de-Fonds die Besten der Besten. Sie taten es in den Konzerten der Société de musique, die 1893 gegründet wurde, in diesem Jahr also auf 125 Jahre des Bestehens zurückblicken kann und das mit einer kleinen, edlen Festschrift getan hat. Camille Saint-Saëns, Eugène Ysaïe, Pablo Casals, Fritz Kreisler, Ferruccio Busoni, Artur Rubinstein, Wilhelm Backhaus, Dinu Lipatti, Elisabeth Schwarzkopf waren unter jenen, die schon vor der Eröffnung der Salle de musique 1955 nach La Chaux-de-Fonds gekommen sind. Ihnen schlossen sich Mstislav Rostropowitsch, Arturo Benedetti Michelangeli, Yvonne Loriod und Olivier Messiaen, später Radu Lupu, Emmanuel Pahud, die Gebrüder Capuçon oder Grigory Sokolov an. Nicht zu vergessen, dass die Salle de musique Ort legendärer Schallplattenaufnahmen war. Claudio Abbado hat an diesem Ort mit Viktoria Mullova zusammengearbeitet, der Pianist Andreas Haefliger hat viele seiner Beethoven-Aufnahmen hier gemacht. Und wenn sich die sogenannten Majors inzwischen aus dem Markt verabschiedet haben, sind es heute die kleineren Labels, die trotz angeblicher Krise des CD-Marktes munter Einspielungen erstellen und dafür nach wie vor gern die Salle de musique in der jurassische Uhrenmetropole aufsuchen.
Jetzt war die Reihe an dem jungen französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras und seinem Landsmann Alexandre Tharaud am Klavier. Sie spielten die beiden Sonaten für Klavier und Violoncello von Johannes Brahms – und fingen einigermassen schwach an mit Johann Sebastian Bachs Gambensonate in D-dur BWV 1028. Queyras artikulierte lebendig und vielgestaltig, aber Tharaud blieb ein Schatten seiner selbst. In der edlen Absicht, den Cellisten nicht zu bedrängen, verzog er sich in ein gehauchtes Pianissimo, was dazu führte, dass der Bass nicht zum Fundament werden konnte und das Konzertieren der Oberstimme unterbelichtet blieb – dass in dieser Sonate ein Trio mit Solostimme, Bass und rechter Hand entsteht, war nicht zu hören. Überdies offenbarte der Pianist einen Hang zum Nähmaschinen-Barock, der doch wohl endgültig überwunden ist. Wesentlich besser geriet die zweite Ergänzung mit den vier Stücken für Klarinette und Klavier (in der Version für Violoncello und Klavier) op. 5 von Alban Berg. Der lyrische Grundzug des ersten Stücks, der depressive Charakter des zweiten, die Webern-Nähe des vorbeihuschenden dritten und die explosive Expressivität des vierten mit seinem gewaltigen Schluss-Cluster – all das klang grossartig und in vollendeter Balance, dies bei ganz geöffnetem Flügel.
Auch bei Brahms blieb das Klavier merklich unterbelichtet, wenigstens bei der zweiten der beiden Sonaten, die Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud als erste präsentierten. Es widersprach dem von Brahms formulierten Titel, in dem die Sonaten als Werke für Klavier und Violoncello benannt werden; um Cellostücke mit Klavierbegleitung – das suggerierte leider auch der Programmzettel der Société de musique – handelt es sich hier gerade nicht, die beiden Partner sollen jederzeit auf Augenhöhe agieren. Indes wird das klangliche Ungleichgewicht auf die abendliche Performance zurückzuführen sein, denn bei der inzwischen von Erato/Warner publizierten CD-Aufnahme tritt das Problem nicht auf; und selbst wenn da der Tonmeister nachgeholfen hat, kann man davon ausgehen, dass die beiden Musiker das Resultat abgesegnet haben, mit dem Klangbild also einverstanden waren.
Wichtiger als das Problem der Balance – das sich später bei der Wiedergabe der ersten Sonate deutlich relativiert hat – erscheint indessen der Umstand, dass sich in den Auftritten der beiden Musiker aus Frankreich jenes neue Brahms-Bild offenbart, das sich zunehmend verbreitet. Wer in Aufnahmen aus früheren Zeiten hineinhört, mit Grössen wie Jacqueline du Pré, Mstislav Rostropowitsch oder Mischa Maisky, wird sogleich feststellen, dass der fleischige, von heftigem (und durchgehendem) Vibrato getragene Brahms-Ton bei Jean-Guihen Queyras abgelöst ist durch eine Bogenführung ohne Druck, durch Vielfalt der Artikulation und effektvolle Differenzierung des Vibratos, während Tharaud das kontrapunktische Moment in seinem Part mit aller Sorgfalt, auch aller Lust herausstellt. Es herrscht hier jener eher helle, transparente Ton, den Brahms selbst geschätzt hat, wie ein lobender Satz des Komponisten an die Adresse des Dirigenten Felix Weingartner überliefert. Zu hören war es in La Chaux-de-Fonds, hart an der Schweizer Landesgrenze. Die Reise dorthin lohnt sich allemal.
Johannes Brahms: Sonaten für Klavier und Violoncello Nr. 1 in e-moll op. 38 und Nr. 2 in F-dur op. 99, Ungarische Tänze. Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexandre Tharaud (Klavier). Erato 019029573934 (1 CD, aufgenommen 2017).
Wer glaubt, das Streichquartett sei zu elitär, um zu überleben, dürfte sich täuschen. Wohl noch nie in der gut zweihundertjährigen Geschichte dieser Gattung hat es so viele so herausragende Streichquartette gegeben, wie es heute der Fall ist. Dafür kann mancher Grund genannt werden. Der erste betrifft die Ausbildung an den Musikhochschulen, die in der jüngeren Vergangenheit bedeutend an Qualität gewonnen hat. Die jungen Musikerinnen und Musiker werden sodann nicht nur gut, sondern auch in grosser Zahl ausgebildet, während auf der anderen Seite, bei den Orchestern beispielsweise, in vielen Gegenden Europas gespart und abgebaut wird – weshalb die Gründung eines Ensembles oder der Beitritt zu einem solchen trotz prekärer Einkommenslage zu einer wichtigen professionellen Perspektive geworden ist. Nicht zu vergessen ist schliesslich, dass all diese Ensembles nicht existierten, wenn es für sie kein Publikum gäbe. Und dieses Publikum gibt es – in dem hochstehenden und anregenden Streichquartettzyklus, den die Neue Konzertreihe Jürg Hochulis in der Kirche St. Peter in Zürich durchführt, war es eben wieder zu erleben.
Versammelt sind hier Zuhörer, die wissen, worauf sie sich einlassen – sonst wäre das Schumann-Quartett aus Deutschland nicht so emphatisch gefeiert worden. Die Brüder Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello) sowie die aus Estland stammende, aber in Deutschland aufgewachsene Bratscherin Liisa Randalu hatten ja auch eine ausgesprochene Rarität im Gepäck. Von Peter Tschaikowsky kennt man die Ballette und die Sinfonien, vielleicht noch das erste Klavierkonzert und das Violinkonzert; dass er aber auch drei Streichquartette komponiert hat, ist so gut wie unbekannt – in den Konzertprogrammen erscheinen diese Werke kaum je. Dabei hinterlässt gerade das dritte Quartett in der seltenen Tonart es-moll tiefe Eindrücke, zumal in einer emotional so aufgeladenen Interpretation, wie sie das Schumann-Quartett geboten hat. Den Kopfsatz mit seiner harmonisch eigenartigen Einleitung gingen sie in aller Intensität, doch ohne jedes Zuviel an Vibrato oder Glissando an. Im scherzoartigen zweiten Satz brachten sie die rhythmischen Formungen zu beinah körperlicher Gegenwärtigkeit, während sie im Trauermarsch des dritten Satzes, für den sie stark wirkende Dämpfer aufsetzten und einen ganz dunklen Ton anschlugen, zu unglaublicher Bildhaftigkeit fanden – man sah förmlich die Mönche vorbeiziehen, welche die leeren Quinten hier andeuten. Um so befreiender dann das Finale mit seiner orchestralen Extraversion.
Zuvor hatte es einen Klassiker des Repertoires gegeben, das meisterliche Streichquartett in B-dur Hob. III:78, die Nummer 4 aus den sechs Erdödy-Quartetten op. 76, die den Titel «Sonnenaufgang» trägt. Und auch dieses Werk erklang in pointierter Interpretation. Zum einen darum, weil das Schumann-Quartett eine etwas spezielle Aufstellung kennt, sitzt dem Primgeiger doch nicht der Cellist gegenüber, sondern vielmehr die Bratscherin, während der Cellist dort seinen Platz hat, wo in anderen Quartetten der Meister an der Bratsche wirkt. Das hat den entschiedenen Vorteil, dass die gern unterbelichtete Mittelstimme deutliches Relief bekommt, was dem Sonnenaufgangs-Quartett Haydns besonders zugute kommt. Schärfungen erfuhr aber nicht nur die Polyphonie, sondern auch das Klangbild. Das Schumann-Quartett gehört zu jenen Ensembles jüngerer Generation, denen der differenzierte Umgang mit dem Vibrato selbstverständlich ist. Der gerade oder mit bloss kleinem Vibrato versehene Ton hat hier auch seinen Platz, was etwa dem Anfang des Stücks seinen ganz eigenen Reiz sicherte. Musikalische Interpretation als Vergegenwärtigung, mithin als Übertragung eines mehr als zweihundert Jahre alten Kunstwerks in die Jetztzeit, war hier auf blendendem Niveau verwirklicht.
Nicolas Altstaedt und Alexander Lonquich spielen die Cellosonaten Beethovens
Von Peter Hagmann
Wie es wohl klingen würde? Ein Streichquartett im Grossen Saal der Tonhalle Zürich mit seinen 1500 Plätzen, ein Klaviertrio im Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern vor 1800 Besuchern – das waren problematische Erfahrungen. Kammermusik, die Bezeichnung sagt es, ist nun einmal nicht für philharmonische Säle geschrieben, sie verlangt intimere Räume. Nun aber, als Veranstaltung der Neuen Konzertreihe Zürich, die fünf Sonaten für Klavier und Violoncello Ludwig van Beethovens in der Tonhalle Maag, in dem hölzernen Konzertsaal mit seinen 1200 Sitzen, den sich das Tonhalle-Orchester Zürich für die drei Jahre der Bauarbeiten in der Tonhalle am Bürkliplatz errichtet hat.
Die Überraschung zunächst: sehr gut besetzt war der Saal – obwohl die Beschilderung, die den Konzertbesucher vom Bahnhof Hardbrücke in die Tonhalle Maag locken sollte, noch immer auf sich warten lässt. Ausserdem wirkte das Auditorium frisch, auch mit jungen Menschen durchsetzt, wo doch im Bereich der klassischen Musik so gerne vom Silbersee der älteren Generation die Rede ist und vom lautlosen Sterben des Konzerts, insbesondere des kammermusikalischen Konzerts. Dann aber, und vor allem, die akustische Entdeckung: ausgezeichnet klang der Saal, hell und transparent, zugleich aber auch vollmundig, da es reichlich (künstlich erzeugten?) Nachhall gibt. Freude herrscht: auch Kammermusik funktioniert in dem Provisorium, das sich so gar nicht wie ein Provisorium ausnimmt.
Das Fazit kann gezogen werden, obwohl der Cellist Nicolas Altstaedt gerade nicht zu den Dröhnern gehört und obwohl Alexander Lonquich am Steinway diesem Ansatz mit wahren Wundern aus der Welt des Leisen antwortete. Wie manche seiner Generationsgenossen setzt Altstaedt nicht auf Druck, er geht auch mit dem Vibrato äusserst sparsam um – der Prunk des Tons an sich ist seine Sache nicht. Das Cello steht bei ihm in Verwandtschaft mit der Gambe; es singt im Prinzip fein und zart, auch wenn es seine Stimme bisweilen ernsthaft zu erheben weiss. Wie es in diesem Leisen singt, wie ausdrücklich und wie vielgestaltig, das war absolut hinreissend.
Mit seinem ganz geöffneten, wie für einen solistischen Auftritt eingerichteten Flügel zeigte Lonquich wiederum an, dass er sich nicht in der Funktion des Begleiters, sondern in jener des gleichberechtigten, auch gleichermassen verantwortliche Partners versteht. Damit hat es allerdings seine Richtigkeit, sind diese Sonaten doch nicht für Violoncello und Klavier, sondern, umgekehrt, für Klavier und Violoncello geschrieben. Nicht dass das Klavier die Hauptsache wäre wie in manchen der frühen Violinsonaten, es ist aber auch nicht jene Nebensache, zu der es Cellisten früherer Zeiten gemacht haben – die beiden Instrumente begegnen sich in dieser Musik ganz einfach auf Augenhöhe.
Was das heissen kann, war gleich in den ersten Takten der F-dur-Sonate op. 5, Nr. 1, von 1796 zu hören – in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz etwa, die sich abgesehen von einigen Akzenten durchwegs im Leisen abspielt. Spannend, wie hier zur Harmonie der geglückten Balance der motivische Diskurs trat, das Austauschen musikalischer Gesten zwischen den beiden Instrumenten. Noch deutlicher kam das Spannungsverhältnis im Allegro, das den Hauptteil des ersten Satzes ausmacht, zur Geltung. Es hebt mit dem ersten Thema an – das freilich vom Klavier vorgetragen wird, während das Cello die begleitenden Quinten der linken Klavierhand aufnimmt und sie zum Dreiklang erweitert. Vorzüglich war das gemacht. Und nicht zuletzt in einer Perfektion, die vor zwei, drei Jahrzehnten noch nicht selbstverständlich war – man muss nur kurz an grosse Cellisten wie Mstislaw Rostropowitsch oder Heinrich Schiff denken.
Dabei herrschten zwar leise Töne, aber vibrierende Energie – so sehr, dass in der zweiten Sonate aus dem frühen Opus 5, jener in g-moll, eine Saite riss, was Nicolas Altstaedt jedoch keineswegs aus der Fassung brachte. Er spielte sich nach der Reparatur vielmehr richtig warm, denn in der A-dur-Sonate op. 69 (1807) wird das Violoncello kurz zur Diva. Ganz allein trägt es im eröffnenden Allegro ma non tanto das Thema vor, worauf es sich auf einem tiefen E niederlässt und den Platz freigibt fürs Klavier, das nach einer kleinen Assonanz und einem gewaltig niederstürzenden Lauf das Thema in Doppeloktaven ans Licht stellt. Altstaedt hauchte, während Lonquich für einen Augenblick den Tiger aus dem Tank liess – genau aus solcher Art, Musik in Klang zu bringen, war an diesem (leider wieder völlig verdunkelten) Abend so unendlich viel zu erleben.
Im langsamen Satz dieser Sonate, einem Adagio cantabile, in dem Alexander Lonquich die Melodie bisweilen nach alter Manier asynchron klingen liess, deutete sich an, was nach der Pause in den beiden relativ späten Sonaten des Opus 102 aus dem Jahre 1815 zum zentralen Moment der Interpretation werden sollte. Es ist eine nicht in Worte zu fassende Innigkeit. Sie zeigte sich im langsamen Satz der C-dur-Sonate, ganz besonders aber jenem der D-dur-Sonate. Die beiden Musiker nahmen sich in diesem Adagio con molto sentimento d’affetto alle Zeit der Welt, und dies ohne jeden Hang zum Kitsch. Ganz leicht spielten sie die Diminutionen aus, so dass sich der Eindruck eines ruhig liegenden Sees ergab. Und sie erzeugten eine Atmosphäre der Versenkung, wie sie in dieser Intensität nur live, nur im Konzert entstehen kann.
Die Streichquartette Beethovens und ein Epochenwechsel bei den Badenweiler Musiktagen
Von Peter Hagmann
Besonders, nämlich fordernd und anregend, waren die Badenweiler Musiktage jederzeit. Als ich zum ersten Mal in die liebliche Gegend etwas nördlich von Basel kam, vor knapp dreissig Jahren, fanden sie noch im Hotel Römerbad statt und hiessen darum «Römerbad-Musiktage». Klaus Lauer, ihr Erfinder und spiritus rector, wirkte von Berufs wegen als Geschäftsführer des hochkarätigen Hauses in Badenweiler, hatte zugleich aber eine ausgeprägte Schwäche für klassische Musik. Weil dem Hotelier missfiel, dass in den trüben Novembertagen die Gäste ausblieben, trat der Melomane auf den Plan. 1973 gründete Lauer die Römerbad-Musiktage als ein kleines, aber eben besonderes Festival von wenigen Tagen eines verlängerten Wochenendes; es sollte die Auslastung des Hauses fördern und gleichzeitig eine ungewöhnliche Art Begegnung mit der Musik bieten. Bis 2007 leitete er das über die Jahre hin vielfach erweiterte Festival, dann zog es ihn weg: aus dem Hotel wie aus dem Schwarzwaldstädtchen. 2008 ging er für vier Jahre nach Bad Reichenhall, wo er die künstlerische Leitung des Festivals Alpenklassik besorgte; 2013 kehrte er nach Badenweiler zurück, um die Intendanz der neu gegründeten Badenweiler Musiktage zu übernehmen.
Bild Badenweiler Musiktage
In der Grundidee ging es den damaligen Römerbad-Musiktagen darum, das Erlebnis der gehobenen Hotellerie mit einem hochstehenden musikalischen Angebot zu verbinden. Da die von Lauer eingeladenen Künstler ebenfalls im Hotel wohnten, geschah diese Verbindung in intimem Rahmen. Wer sich auf einen Spaziergang aufmachte, konnte im Vorbeigehen mit dem (inzwischen verstorbenen) Pianisten Zoltan Kocsis ein Wort wechseln. Wer spät am Abend noch auf ein Glas in die Bar ging, konnte dort auf Mitsuko Uchida stossen, die am Flügel nicht genug bekommen konnte von Schubert. Die ungewohnte Nähe zwischen dem Künstler und seinen Zuhörern, sie beförderte im Publikum die Intensität der Auseinandersetzung wie den Mut, sich auf Neues einzulassen. So bildete sich hier eine Stammklientel, die sich ganz und gar dem Geist des Festivals verschrieb – die spezielle Konstellation und ihre anhaltend geglückte Konkretisierung ermöglichten es.
Zu dem in Badenweiler gelebten Geist gehörte nicht nur die Offenheit in ästhetischer Hinsicht, sondern auch intellektuelle Regsamkeit. Einführungen genossen alle Aufmerksamkeit, bisweilen waren auch Proben offen, und die kritische Anteilnahme fand auf hohem Niveau statt. Nicht zu unterschätzen war aber auch die ganz eigene Sinnlichkeit der Veranstaltung. Mag sein, dass die südbadischen Weine ihre Rolle spielten. Ebenso von Bedeutung war die im «Römerbad» gepflegte Kulinarik; nicht von ungefähr erinnere ich mich mit einigem Wohlgefallen daran, wie in den letzten Momenten der Konzerte die Düfte des anschliessenden Abendessens verbreiteten. Und kein Wunder, hat sich Heinz Josef Herbort, der damalige Musikkritiker der «Zeit», in einem Herbst nicht seinem Metier hingegeben, sondern sich als Hilfskraft in der Hotelküche verdingt – und dafür in einer kleinen Zeremonie ein Diplom sowie die vereinbarte Gage in der Höhe von einer Deutschen Mark überreicht bekommen.
Das Zentrum des Geists von Badenweiler bildete indessen eine im positiven Sinne elitäre Grundhaltung. Nur das Beste, nur das Interessanteste sollte gut genug sein. Erstklassige Vertreter ihrer Kunst waren zugegen. 1989, die Berliner Mauer war eben gefallen, konnte man Kontakt aufnehmen mit dem Komponisten György Kurtág und seiner Gattin Márta, der Pianistin, beide im Westen noch so gut wie unbekannt. Im Jahr zuvor war Elliott Carter zu Gast gewesen, der damals schon achtzigjährige Komponist aus den USA, der hierzulande selten gehörte Musik im Geist der europäischen Avantgarde schrieb. Zentralfiguren waren Wolfgang Rihm und Pierre Boulez. Als er den berühmten Komponisten und Dirigenten für einen Auftritt in Badenweiler angefragt habe, so Klaus Lauer, sei die Antwort ein glattes Nein gewesen; für ein einzelnes Konzert komme er nicht, es müsse schon eine ganze Woche sein. So kam es 1990 zu jener denkwürdigen Ausgabe der Musiktage, bei der Boulez mit dem damals noch von ihm selbst geleiteten Pariser Ensemble Intercontemporain einen denkbar breiten Horizont moderner Musik ausschritt.
Mit dem Abschied Klaus Lauers von seinem Hotel und, wenigstens vorläufig, von seinem Festival war das dahin. Allerdings nicht ein für alle Mal, wie inzwischen feststeht. 2013 wurden das Festival wiederbelebt, nun unter der Bezeichnung «Badenweiler Musiktage» und durchgeführt von der örtlichen Therme zusammen mit der Gemeinde und einer Gruppe von Sponsoren, aber nach wie vor mit zwei Ausgaben, einer im Frühjahr, einer im Herbst. Die Atmosphäre des grossbürgerlichen Hotels ist Vergangenheit, nicht aber der Geist. Einführungen gibt es weiterhin. Und am Ende der Konzerte wird jeweils ein Glas badischen Weissweins gereicht, was der Kontaktnahme förderlich ist – zum Beispiel jener mit den Musikern, die sich bald unters Publikum mischen. Und was die Programmgestaltung betrifft, ist bei den Badenweiler Musiktagen auch heute manches möglich, was andernorts ausgeschlossen wäre.
Wer wäre schon in der Lage, eine integrale Aufführung der sechzehn Streichquartette Ludwig van Beethovens an sechs Abenden aufs Programm zu setzen, die Grosse Fuge op. 133 eingeschlossen, und das dargeboten von einem einzigen Streichquartett? Bei Klaus Lauer ist so etwas möglich; er hat es seinem Publikum, aber auch sich selbst geschenkt – zum Abschluss, zum Abschied, denn mit dieser Herbst-Ausgabe des Festivals zieht sich Lauer von der Leitung der Badenweiler Musiktage zurück. Mitgetragen hat das wagemutige Projekt das Danel-Quartett, das französisch geprägte Ensemble mit Sitz in Brüssel, das schon seit 1991 besteht, im deutschsprachigen Kulturkreis aber viel zu wenig bekannt ist.
Das ist zu bedauern, handelt es sich hier doch um eine sehr spezielle, weil sehr persönlich wirkende Gruppierung. Seine Mitglieder unterscheiden sich erheblich voneinander. Der Cellist Yovan Markovich, seit 2013 mit dabei, bleibt jederzeit, auch in heikelsten Momenten, souverän und makellos, bringt zugleich aber ungeheure musikalische Energie ins Ensemble ein. Ihm zur Seite der Bratscher Vlad Bogdanas, der, wenn er denn heraustreten darf, eine Innigkeit eigenen Zuschnitts hören lässt. Noch mehr gilt das für Gilles Millet, der an der zweiten Geige den ruhenden Pol bildet, dabei aber keineswegs im Schatten bleibt, weil er so viel unaufgeregte Genauigkeit beisteuert. Das braucht es, denn Marc Danel als Primarius ist ein Feuerteufel erster Güte. Er legt sich unheimlich in den Klang und seine Verläufe hinein, und dabei zieht es ihm bisweilen vor lauter Spannung die Beine hoch – wann hat man Derartiges schon gesehen, ja gehört? Die Vielfarbigkeit der vier Musikerpersönlichkeiten findet nun aber zu einer Übereinstimmung, die nur staunen lassen kann; so eng sind sie miteinander verbunden, dass alles wie aus einem Guss, wie aus einer Geste heraus klingt.
Ein geradezu orchestraler Zugriff bestimmt die Auslegung der drei Quartette op. 59, die Beethoven für den Fürsten Rasumowsky geschrieben hat. Das heisst freilich nicht, dass die verrückten Zuspitzungen, die der Komponist hier gesucht hat, in der Fülle des Wohlklangs untergingen – nein, sie kommen erst recht als solche zur Geltung. Viele Einzelheiten bleiben dabei in Erinnerung, etwa die rhythmische Prägnanz, die, vom Primarius mit seiner fast perkussiven Bogenführung ausgelöst, das F-dur-Quartett op. 59, Nr. 1 kennzeichnet, oder das sensationell stimmende Tempo im Scherzo und im Trio des C-dur-Quartetts op. 59, Nr. 3. Im Vergleich zur Extravaganz von Opus 59 boten die drei nächsten Quartette, F-dur op. 74, f-moll op. 95 und Es-dur op. 127, spielfreudige Entspannung. Mit historisch informierter Aufführungspraxis hat das Danel-Quartett nichts am Hut. Dennoch wurde in der Maestoso-Einleitung zum Kopfsatz von Opus 127 ebenso sorgfältig wie phantasievoll mit dem Einsatz des Vibratos gearbeitet. Während sich in dem unglaublich ausladenden Adagio dieses Quartetts wieder Wunder an Tempogestaltung ereigneten.
Bild Badenweiler Musiktage
Der gewaltige Schlusspunkt war ein Abschied ganz nach dem Geschmack von Klaus Lauer. Im kommenden Frühjahr geht es jedoch mit neuer Energie weiter. In der Musikologin Lotte Thaler, noch für kurze Zeit als Musikredaktorin beim SWR tätig und als langjährige Besucherin, bisweilen Mitwirkende, mit den Badenweiler Musiktagen vertraut, ist genau die richtige Nachfolgerin gefunden worden. Auch wenn sie ihre eigenen Akzente setzt, bleibt sie dem Geist von Badenweiler treu. «Heut’ und ewig» lautet das Motto ihrer ersten Ausgabe – was heisst, dass das Kernrepertoire seine Bedeutung bewahrt, dem Hergebrachten aber Neues beigesellt wird. Indem sie an den hundertsten Todestag von Claude Debussy und den hundertsten Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann erinnern, führen die Badenweiler Musiktage im Frühjahr 2018 die traditionelle Verbindung zwischen dem Deutschen und dem Französischen weiter. Das Pariser Quatuor Diotima wird Tristan Murail spielen und das Streichquartett Debussys, aber auch das erste Quartett Arnold Schönbergs. Der Bariton Hans Christoph Begemann wird Lieder von Franz Schubert mit solchen von Wolfgang Rihm kombinieren. Ilya Gringolts wird mit James Boyd und Thomas Demenga unter anderem die drei für ihre Instrumente geschriebenen Solosonaten vorstellen, während Alexander Melnikov auf nicht weniger aus drei Instrumenten Klaviermusik zwischen Schubert und Strawinsky einbringt. Nicht wenig, was dieser Auftakt verspricht.
Die nächsten Badenweiler Musiktage, die ersten unter der Leitung von Lotte Thaler, finden vom 28. April bis zum 1. Mai 2018 statt. Informationen unter www.badenweiler-musiktage.de.
Mandelring, schon gehört? Nicht der Komponist ist gemeint, nicht der Schriftsteller, nicht der Philosoph – die gibt es nämlich alle nicht. Mandelring ist bloss eine Strasse, sie liegt in Neustadt im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz. Und weil die drei Geschwister Sebastian Schmidt (Violine), Nanette Schmidt (Violine) und Bernhard Schmidt (Violoncello) am Mandelring nicht nur aufgewachsen sind, sondern bis heute arbeiten, nennen sie das Streichquartett, das sie zusammen mit dem Bratscher Andreas Willwohl bilden, eben «Mandelring Quartett». Auf den Bindestrich, der nach deutscher Regel fällig wäre, verzichten sie, denn in Manila, Singapur, Hongkong oder Peking, wohin sie diesen Herbst unterwegs waren, wäre er bloss lästig.
Ja, sie sind gut im Geschäft – kein Wunder, sie sind ja auch schon seit dreissig Jahren dabei. In Berlin und München führen sie eigene Zyklen, wie sie seinerzeit das Alban-Berg-Quartett pflegte, und regelmässig treten sie auf den kammermusikalischen Podien Europas in Erscheinung. Nur in der Schweiz lässt die Präsenz zu wünschen übrig. 2010 waren sie bei der Kammermusik Basel, diesen Frühsommer hat sie Mirella Weingarten zur Schlossmediale Werdenberg eingeladen, wo sie die Uraufführung eines neuen Stücks von Michael Wertmüller besorgten, ansonsten: Funkstille. Aber das kann sich ja noch ändern.
Das muss sich ändern, denn die Aufnahmen, mit denen das Mandelring-Quartett auf dem nach wie vor bestehenden und funktionierenden CD-Markt in Erscheinung tritt, haben es in sich. Die Formation liebt den enzyklopädischen Ansatz. Schubert, Mendelssohn und Janáček, vor allem aber Schostakowitsch haben sich die Mandelrings zugewandt, auch eher peripheren Erscheinungen wie George Onslow und Berthold Goldschmidt, der dem Ensemble sein viertes Streichquartett widmete, galt ihre Aufmerksamkeit. Und inzwischen hat ihre Brahms-Serie Zuwachs erhalten. Nach drei Editionen, in denen den Streichquartetten von Brahms Werke von Zeitgenossen des Komponisten gegenüberstehen, legen sie jetzt auf zwei CD die Streichquintette und die Streichsextette vor. Die Aufnahmen zeugen von der einzigartigen Qualität des Quartetts und bestätigen seinen singulären Ruf.
Was auch hier als erstes auffällt, ist die opulente Sonorität. Sie ist als Markenzeichen jederzeit erkennbar, legt sich aber nicht wie eine immergleiche Farbe über die Interpretationen. Vollmundig dunkel ist der Ton des Ensembles, und das erhält in den beiden Sextetten einen zusätzlichen Akzent, weil die tiefen Stimmen verdoppelt sind. An den beiden Geigen setzen Sebastian und Nanette Schmidt aber Glanzpunkte von leuchtender Helligkeit, im langsamen Satz des B-dur-Sextetts op. 18 von 1860 kommt es sogar zu lichten, zarten, ja irisierenden Klangwirkungen. Sehr überzeugend auch, wie hier der orchestrale Duktus herausgearbeitet wird, während im G-dur-Sextett op. 36 von 1865 die eher kammermusikalisch und kontrapunktisch gedachte Faktur zur Geltung kommt.
Bestechend am Brahms-Bild des Mandelring-Quartetts ist die Verbindung von struktureller Klarheit und Sinnlichkeit der Klanggebung. Im Kopfsatz des B-dur-Sextetts erhält der Dreivierteltakt sprechende Kraft und ruhiges Fliessen zugleich. Im Andante findet die Spannung zwischen dem weiten Ambitus des Themas und seiner klanglichen Auffüllung vorzügliche Wirkung, während die Variationen äusserst phantasievoll ausgestaltet sind. Sehr schön das Tempo im Scherzo, dessen Allegro molto auffallend gezügelt ist, während im pointiert schneller genommenen Trio das feurige Temperament des Ensembles durchbricht. Es zeigt sich da eine Ausdrücklichkeit, die sich im G-dur-Sextett noch zuspitzt. Die Durchführung im Kopfsatz dieses zweiten Sextetts birst beinahe vor Spannung, während der Primgeiger den absteigenden Verläufen kurz vor Schluss des Satzes geradezu existentielle Dimension verleiht. Und dass der rhythmisch komplexe Anfang des langsamen Satzes verständlich wird, darf als Verdienst der Interpreten keinesfalls geringgeschätzt werden.
Die klangliche Homogenität, in dieser Ausprägung ungewöhnlich, geht auf langjährige Übung, aber auch die Tatsache zurück, dass für die Quintette wie die Sextette mit Roland Glassl ein zweiter Bratscher ins Spiel tritt, der ab 1999 bis 2015 festes Mitglied des Ensembles war (bei den Sextetten kommt als zweiter Cellist Wolfgang Emanuel Schmidt dazu). Mit seinem Nachfolger Andreas Willwohl scheint er sich ausgezeichnet zu verstehen, wie die nicht seltenen Momente erweisen, da die Führung von den Bratschen ausgeht. Überhaupt verleiht die klangliche Signatur des Ensembles den beiden deutlich später als die Sextette entstandenen Quintetten – jenes in F-dur, op. 88, von 1882 und jenes in G-dur, op. 111, von 1890 – eine geradezu körperliche Fasslichkeit. Der Einstieg ins G-dur-Quintett lässt hochfliegenden Enthusiasmus anklingen, weil die Begleitfiguren über der Melodie des Cellos nicht in vornehmer Zurückhaltung, sondern lustvoll präsent in den Raum gestellt werden – und dabei zeigt sich auch, dass die Zweite Geige der Ersten absolut ebenbürtig ist. Ungeheuer, welche Intensität hier durch Akzentsetzung und das Ziehen der Töne erzielt wird und wie stark die Farben ausgespielt werden – weshalb sich genau verfolgen lässt, wie in der Durchführung die Gesten durch die Stimmen wandern. Für mein Gefühl störend fallen hier (und auch in den Sätzen drei und vier) jedoch die Schleifer auf, mit denen der Primgeiger, und eben nur er, operiert.
Radikal wird dieser Satz auf die Spitze getrieben. Die Fortsetzung lebt dann aber von der ausgebauten Unterschiedlichkeit der Tonfälle, die dem Mandelring-Quartett zur Verfügung stehen. Der zweite Satz lebt von einem berührenden, gern auch ohne Vibrato gestalteten Pianissimo; die Energie kommt hier zum Beispiel aus den Triolen, die spannungsreich ins gerade Metrum eingefügt werden, und aus der Genauigkeit der Artikulation – ob über Noten Punkte stehen oder Punkte unter einem Bogen, ist nun einmal nicht dasselbe. Hinreissend dann wiederum das spritzige Finale, in dem die fünf Streicher orchestrale Färbungen erreichen, die denen in den Sextetten nicht nachstehen. Hier sind eben, frei nach Goethe, fünf vernünftige Leute im Gespräch.
Johannes Brahms: Die beiden Streichquintette. Mandelring-Quartett. Audite 97724. – Johannes Brahms: Die beiden Streichsextette. Mandelring-Quartett. Audite 97715.