Wenn vier Instrumente zu einem werden

Das Rolston String Quartet in der Neuen Konzertreihe Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Sehr vernünftig, die vier Leute, die sich hier über Debussy und Brahms unterhielten. Rolston String Quartet nennen sie sich, eben erst sind sie in der Quartett-Serie der Neuen Konzertreihe Zürich aufgetreten. Warum Rolston? Im kanadischen Banff Centre for Arts liegt der Grund. Dort hat sich das Quartett mit Luri Lee und Emily Kruspe (Violinen), Hezekiah Leung (Viola) und Jonathan Lo (Violoncello) zusammengetan. Und dort wirkte der Geiger und Dirigent Thomas Rolston, dessen Tochter Shauna Rolston Shaw der Primgeigerin eine Violine von Carlo Annibale Tononi aus dem frühen 18. Jahrhundert zur Verfügung stellt.

Vernünftig sind die vier jungen Leute so, wie es sich Goethe in seiner Umschreibung des Streichquartetts gedacht haben mag. Es herrscht uneingeschränkte Gleichberechtigung. Beim Rolston String Quartet gibt es keine Primgeigerin, die als Solistin brilliert und drei Knappen zur Seite hat. Es gibt auch keinen Cellisten, der nach der Art eines Haudegens vorangeht und den Ton angibt. Die klanglichen Gewichte sind vollkommen austariert. Damit man ihn gut hört – das tut man, und zwar gerne – sitzt der Bratscher zwar rechts, wie gewohnt, doch vorne, während der temperamentvoll agierende Cellist seinen Platz auf derselben Seite, aber hinten findet. Wenig Mühe, sich vernehmen zu lassen, zeigt die Zweite Geigerin; sie vermag so viel Energie ins Ensemble zu geben, dass sich ihr Part wie von selber aufwertet. Die Primgeigerin wiederum bringt einen im Kern zarten, aber gleichwohl leuchtenden Ton ins Spiel – und dass sie, während sie den Bogen führt, gerne nach oben blickt, unterstreicht diesen Eindruck.

Jedenfalls überraschten gleich zu Beginn des Streichquartetts in g-Moll von Claude Debussy die klangliche Homogenität des jungen Quartetts, die Wärme seines Tons und dessen Verankerung in den tieferen Instrumenten. Mag sein, dass die Saiten von Jargar aus Kopenhagen, die ein wenig wie Darmsaiten klingen wollen, es aber nicht sind, entscheidend dazu beigetragen haben. Von Bedeutung war aber wohl auch die mit viel Nachhall ausgestattete Akustik in der Zürcher Peterskirche, die da und dort ein Detail untergehen lässt, dafür aber den Klang der Ensembles mit einer reichen Aura versieht. Jedenfalls entwickelte sich der erste Satz des Quartetts von Debussy in angeregtester Atmosphäre – dies auch darum, weil an diesem Abend so sorgsam wie effektvoll mit dem Vibrato umgegangen wurde. In den Pizzicato-Ketten des zweiten Satzes erwies sich die Formation als rhythmisch absolut sattelfest, während das Andantino mit exquisiten Klangmischungen, aber leider auch einigen unschönen Glissandi aufwartete. Spannend von Anfang bis Schluss wirkte das Quartett Debussys – so wie es nicht eben häufig zu erleben ist.

Und dann das zwanzig Jahre zuvor entstandene Streichquartett in a-Moll, op. 51.2, von Johannes Brahms. Auch hier – und in diesem Fall naheliegender als bei Debussy – dominierte ein üppiger, aus der Tiefe aufsteigender Klang. Dies mit besonderem Gewinn im Andante moderato des zweiten Satzes, das zu schönster Kantabilität fand. Der Kopfsatz lebte ausgeprägt von der Präsenz der mittleren Stimmen – es schien, als ob die Zweite Geige und die Bratsche das musikalische Geschehen vom Inneren her zusammenhielten. In grossartigem Temperament und feuriger Virtuosität schliesslich das Finale. Nicht nur sehr vernünftig, die vier Leute aus Kanada. Sondern auch sehr gut.

Die CD lebt – und mit ihr die Musik

Französisches mit Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien

 

Von Peter Hagmann

 

Frisch aus der Presse liegt sie da, die jüngste CD mit Alina Ibragimova, der in London lebenden Geigerin aus Russland, und ihres französischen Klavierpartners Cédric Tiberghien – und auch diese Aufnahme bietet wieder kammermusikalische Erlebnisse vom Allerfeinsten. Mit dabei sind aber auch, um dies vorweg zu nehmen, zwei grossartige Instrumente: eine aus dem späten 18. Jahrhundert stammende Geige aus der Werkstatt von Anselmo Bellosio und ein ganz und gar heutiger, vom Klaviertechniker Robert Padgham ausgezeichnet eingestellter Flügel von Steinway mit einem herrlichen Spektrum an Obertönen und sonoren Bässen.

Beides weiss Cédric Tiberghien brillant zu nutzen. Bekanntlich sind die Violinsonaten von Mozart, Beethoven oder Brahms Werke für Klavier und Violine, nicht solche für Violine mit Klavierbegleitung. Dass dies erst recht in der spätromantischen Musik aus dem französischsprachigen Kulturkreis gilt, dass dort die beiden Instrument absolut gleichberechtigt sind, daran lässt Tiberghien nicht den mindesten Zweifel. Wobei er allerdings jederzeit kontrolliert bleibt und keinen Moment lang zu dominieren sucht. Mit orchestraler Klangfülle trägt er die Geigensonate von César Franck, nachdem er schon in Eugène Ysaÿes «Poème élégiaque» den Binnenteil zu dramatischer Steigerung geführt hat. Dass hier auch die Aufnahmetechnik ihre Rolle spielt, dass Simon Eadon am Mischpult das Seine zu der beglückenden Balance zwischen den beiden Partnern beigetragen hat, versteht sich. Ebenso klar ist aber auch, dass mit Cédric Tiberghien ein Pianist am Werk ist, der über einen ausserordentlich weiten Horizont im Dynamischen wie im Farblichen verfügt. Von seinen manuellen Fähigkeiten ganz zu schweigen.

Für Alina Ibragimova ist er jedenfalls der genau richtige Partner, das haben schon ihre Aufnahmen der Sonaten Mozarts und Beethovens gezeigt. Denn auch die Geigerin liebt es, ihre Sache auf den Punkt zu bringen – sie kann nicht anders. Sie gehört zu jenen ganz seltenen Musikerinnen und Musikern, die sich agil durch die Epochen bewegen und überall ihr Eigenes hervorzaubern. Spielt Alina Ibragimova mit dem von ihr gegründeten Chiaroscuro Quartet Musik der Klassik und der früheren Romantik, werden Darmsaiten aufgezogen und gelten die Prinzipien einer historisch informierten Aufführungspraxis mit tiefer Stimmung, sparsam eingesetzten Vibrato und sprechender Artikulation. Sie tut das so selbstverständlich und auf derart hohem Niveau des Wissens und des Könnens, dass man nur so staunt.

Sie kann aber auch ganz anders, davon spricht ihre neue CD aus dem Hause Hyperion. Bei Ysaÿes «Poème», einem alles andere als akrobatischen, vielmehr tiefsinnigen Stück, greift sie äusserst beherzt in die Saiten und tritt ihrem Pianisten mit unglaublich leuchtkräftigem Ton gegenüber. Einem Ton freilich, der in entscheidendem Mass von den Erfahrungen im Umgang mit älterer Musik profitiert. Das steht diesem Repertoire sehr wohl an. Ohne Spur jener Geschmacklosigkeiten, die sich hier eingebürgert haben, ohne Schleifer und Drücker nähert sie sich dieser Musik. Wirkungsvoll setzt sie das Vibrato ein – oder besser: das Non-Vibrato. Den lange liegenden, auf zwei Saiten gespielten Schlusston am Übergang zum Mittelteil in Ysaÿes «Poème» spielt sie ganz gerade. Er geht genauso durch Mark und Bein, wie es die darauf folgende Passage auf der tiefsten Saite ihres Instruments in ihrer plastischen Ausformung tut. Was für ein noch immer neues, von den Geigern jedenfalls noch viel zu wenig genutztes Feld an Ausdrücklichkeit öffnet sich da.

In der Sonate Francks erzeugt Alina Ibragimova eine Intensität sondergleichen und einen enorm vorwärtsdrängenden Zug, der sich im Finale in jubelndem Enthusiasmus erfüllt. Das rührt daher, dass sie die Phrasen, in die auch die Musik geteilt ist, als solche erkennt und sie lustvoll herausstellt – was zu einem vitalen erzählerischen Fluss führt. Und Bögen kann diese Geigerin spannen, es ist kaum zu fassen. Das lässt auch die Geigensonate spüren, die der berühmte französische Organist Louis Vierne für Eugène Ysaÿe schrieb. Sie lässt verfolgen, wie sich die französische Kammermusik von Wagner, der bei Franck noch allgegenwärtig ist, befreit hat. Auch wenn die Sonate in ihrer kompositorischen Schlüssigkeit nicht an die Orgelwerke Viernes herankommt, überrascht sie doch mit manchem Reiz im Einzelnen – das Duo stellt das mit liebevoller Hinwendung ans Licht. Und dass das Programm der CD mit einem kleinen Nocturne von Lili Boulanger schliesst, setzt dem i das passende Pünktchen auf.

Rein kommerziell betrachtet mag die CD tatsächlich ein Auslaufmodell sein. Aufnahmeprojekte wie dieses plausibel zusammengestellte und formidabel umgesetzte Programm mit Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien lassen allerdings erkennen, dass das Album auf CD noch längst nicht am Ende ist.

Eugène Ysaÿe: Poème élégiaque. César Franck: Violinsonate in A-Dur. Louis Vierne: Violinsonate in g-Moll op. 23. Lili Boulanger: Nocturne für Violine und Klavier. Alina Ibragimova (Violine), Cédric Tiberghien (Klavier). Hyperion 68204 (Aufnahme 2018).

Neue Musik – älter und neuer

Eindrücke von den Tagen für neue Musik Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ungewohnter Anblick in der Tonhalle Maag. Hinter einem Vorhang, der sich zu Beginn langsam öffnete und am Ende ebenso langsam wieder schloss, waren die Streicher des Tonhalle-Orchesters Zürich zu sehen, allerdings aufgereiht auf einem ansteigenden Podest und mit Blick ins Publikum, zudem in violett schimmerndes Licht getaucht. Wie die Blasmusik auf dem Dorf hatten sie ein Notenblättchen am Instrument befestigt, und alle machten sie dieselben stereotypen Bewegungen, was zu einer Klangfläche à la Ligeti führte. Das eine oder andere Mal traten Störungen ein, erschien zum Beispiel ein Trommler vor dem Stimmführer der Bratschen und löste in ihm einen ekstatischen, heftig gezackten Soloauftritt aus – bevor er wieder ins Kollektiv versank.

Zu hören war während der gut zwanzig Minuten allerdings nicht nur ein Streicher-Cluster, das wäre vielleicht doch etwas einfach gewesen. Zu vernehmen war auch eine sehr bewegte, offenkundig komplex geformte Musik von Bläsern und Schlagzeugern – nur kamen diese Klänge aus dem Hintergrund und aus Lautsprechern. Tatsächlich war der Rest des Orchesters zusammen mit dem Dirigenten Pierre-André Valade hinter dem Podium für die Streicher plaziert, im Verborgenen also, und dies bis auf einen kurzen Auftrit eines Trompeters, der wie ein Turmbläser früherer Zeiten sein Ding aus der Höhe zum Besten gab. Der statische Vordergrund und der bewegte Hintergrund durchdrangen sich in vielfältigster Weise zu einem Geschehen, das man mit anhaltendem Interesse und nicht geringer Erheiterung verfolgte.

«Trans» nennt sich die Komposition, von der die Rede ist. Sie stammt von Karlheinz Stockhausen, der sie im Dezember 1970 geträumt haben will und sie 1971 niederschrieb, auf dass sie bei den Donaueschinger Musiktagen jenes Jahres zur Uraufführung komme. Das waren noch Zeiten. Für Stockhausen neigte sich die Phase der Raumkomposition ihrem Ende zu, das Szenische drang mehr und mehr in seine künstlerischen Visionen ein, und die spirituellen Ansätze begannen das Denken des Komponisten zu prägen. Davon (und nicht nur von den Bläsern, die duch die Streicher hindurchklingen) zeugt «Trans». Dass die Komposition Eingang gefunden hat in das Programm der Tage für neue Musik Zürich, ist äusserst verdienstvoll. Hat das kleine, aber weitherum beachtete Festival, das von der Stadt Zürich getragen und jedes Jahr von einem anderen Kurator gestaltet wird, nicht auch diese Aufgabe: hörbar zu machen, dass selbst die neue Musik eine Geschichte hat?

Im Programm, das heuer von Jens Schubbe, dem künstlerischen Leiter des Collegium novum Zürich, unter Beizug von Peter Revai zusammengestellt worden ist, erwies das auch das Eröffnungskonzert mit dem Zürcher Kammerorchester. Aus jüngerer Zeit stammten an diesem Abend das klangfarblich vielgestaltige Stück «Stellen» des Schweizers Dieter Ammann und «Lebensbaum III», ein melodiöses, sinnliches Werk der seit langem in Europa lebenden Koreanerin Younghi Pagh-Paan. Etwas älter, aber in seinen wilden, wüsten Reibungen äusserst vital «Voile» von Iannis Xenakis. Zwei Werke, nämlich «Cantio, Moteti und Interventiones» von Klaus Huber sowie die Musik für 22 Solostreicher von Jacques Wildberger, standen für den (gelungenen? gescheiterten?) Versuch, dem Materialdenken der sechziger Jahre doch etwas von der damals noch geächteten Expressivität abzugewinnen. Unter der Leitung von Roland Kluttig trat das ZKO allein mit Streichern auf; nicht zuletzt ihnen ist zu verdanken, dass der Abend belebt und belebend wirkte.

Durchmischte Eindrücke hinterliessen Stücke aus jüngerer Zeit. «Un despertar» von Matthias Pintscher zum Beispiel, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Das Werk beeindruckte weniger durch kompositorische Fasslichkeit als durch die hochvirtuose Leistung des Cellisten Sasha Neustroev, der von seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Orchester und dem wie stets souveränen Dirigenten Pierre-André Valade zuverlässig begleitet wurde. Anregenderes brachte das Quatuor Diotima für seinen spätabendlichen, nicht eben günstig platzierten und darum wenig beachteten Auftritt mit. Das Ensemble mit Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Frank Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello), welches das Neuste vom Tage ebenso selbstverständlich meistert wie Schubert, hatte ein Stück des Deutschen Enno Poppe von 2016 dabei.

«Buch» nennt es sich, und es stellt, wie der Komponist schreibt, eine Verneigung vor dem «Livre pour quatuor» von Pierre Boulez dar. Was hätte der 2016 verstorbene Altmeister gesagt zu einem Kopfsatz, in dem so ziemlich alles schräg klingt, was schräg klingen kann? In dem Tonhöhen schwanken, Rhythmen aus dem Takt geraten und unablässig hinaufgeschraubt wird? Noch verrückter der zweite Satz, der phantasievoll und verspielt mit wenig anderem als jammernden Glissandi aufwartet – fast musste man fürchten, Poppe wolle partout Salvatore Sciarrino auf die Schippe nehmen. Dann freilich war die Luft draussen, fanden die Ideen des Komponisten nicht mehr dieselbe Fasslichkeit, weshalb sich die Sätze drei bis fünf etwas in die Länge zogen. Für seinen Anfang wenigstens lässt sich dieses «Buch» aber durchaus noch einmal in die Hand nehmen.

Grenzüberschreitungen

Die Badenweiler Musiktage im Herbst 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Badenweiler ist und bleibt die Reise wert. Im lieblichen Markgräflerland gelegen, einer südlich anmutenden Gegend mit herrlichen Weinen, nutzt der Kurort das Heilwasser, das auf den Anhöhen eines kleinen Seitentals zur Oberrheinischen Tiefebene entspringt. Vom Ortszentrum aus blickt man hinunter zum Rhein und hinüber ins Elsass, bei Föhn bis nach Mulhouse und Colmar. Da und dort stösst man im Ort auf den Namen des Schriftstellers René Schickele, eines deutschsprachigen Elsässers aus der ersten Hafte des 20. Jahrhunderts, der sich mit Weitblick jener kulturellen Schnittstelle zuwandte, von der die Gegend bestimmt wird. Und gleich denkt man an Colmar, wo bis heute Jean-Jacques Waltz dominiert, der zur gleichen Zeit wie Schickele unter dem Künstlernamen Hansi fürs Elsass stritt – allerdings für die französische Sache. Womit wir mittendrin wären in den Badenweiler Musiktagen.

Nämlich bei der Osmose zwischen dem Deutschen und dem Französischen, die seit jeher einen Grundpfeiler des kleinen, aber äusserst feinen Festivals für alte und neue Kammermusik bildet. Es war so bei Klaus Lauer, seinem Gründer und langjährigen Leiter. Und es bleibt so bei Lotte Thaler, die seit diesem Jahr die künstlerische Verantwortung für die inzwischen von der Thermenverwaltung der Stadt getragene, durch zahlreiche Sponsoren unterstützte Einrichtung trägt – dabei aber sehr persönlichen Akzente setzt. Diesen Herbst verwirklichte sich der Dialog zwischen den beiden Kulturkreisen in der Begegnung von Claude Debussy, der vor hundert Jahren gestorben ist, mit Bernd Alois Zimmermann, der ebenfalls vor einem Jahrhundert zur Welt gekommen ist.

Mit Jean-Efflam Bavouzet, einem ganz aussergewöhnlichen, hierzulande freilich wenig bekannten Pianisten aus Frankreich, erarbeitete Lotte Thaler ein überaus spannendes Programm, das neben dem zweiten Band der «Préludes» von Claude Debussy zwei Klaviersonaten von Joseph Haydn und dazu Debussys «Hommage à Haydn» sowie drei Stücke aus dessen späten Etüden enthielt. Gerade diese horribel schweren Stücke sind im Konzert so gut wie nie zu hören, Bavouzet bewältigte sie in bewundernswerter Bravour. Nicht weniger brillant meisterte er den zweiten Band der «Préludes», der ebenfalls weniger häufig auf den Programmen steht als der erste. Schon die technische Seite seines Spiels löste ungläubiges Staunen aus, erst recht gilt das für das von ihm erzeugte Farbenspektrum, das einen Klangrausch sondergleichen auslöste, und sein erzählerisches Temperament, das die bisweilen etwas distanziert wirkende Musik Debussys ganz nah an den Zuhörer heranbrachte.

Bernd Alois Zimmermann wiederum kam mit seinen «Monologen» für zwei Klaviere zu Wort, die das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher auf dem Programm hatten – einem Programm übrigens, das so beziehungsreich gestaltet war, wie es in Badenweiler Sitte ist. Gleichsam persönlich trat Zimmermann ins Licht bei einer Gesprächsveranstaltung zu dem dieses Jahr erschienenen Band «Con tutta forza», in dem Bettina Zimmermann ihren Vater porträtiert. So vielgestaltig wie das Buch, das mit Schilderungen der Autorin, mit Bildern aus dem Familienarchiv, Briefen und Erinnerungen von Weggefährten durch das Leben des Komponisten führt, so bewegt und bewegend war die Gesprächsrunde, bei der Lotte Thaler mit Bettina Zimmermann sprach und Rainer Peters zusammen mit der Autorin aus dem Buch vorlas. Dass über Musik kundig gesprochen, dass dieser Kunst durchaus aktiv verstehend begegnet werden kann, das hat diese Matinee in aller Eindringlichkeit fassbar gemacht.

Überhaupt nimmt – darin liegt eines der Kennzeichen des Festivals – das Nachdenken und Sprechen über die erklingende Musik in Badenweiler einen bedeutenden Stellenwert ein. Diesen Herbst zum Beispiel war Stefan Litwin zu Gast, der deutsche Pianist, der sich mit seinen Lecture Recitals einen Namen gemacht hat. Litwin hatte den Variationenzyklus «The People United Will Never Be Defeated» von Frederic Rzewski mitgebracht, den er im zweiten Teil seiner Matinee so souverän und so sprechend darbot, dass der Spannungsbogen über der knappen Stunde Musik in voller Kraft zur Geltung kam. Davor aber sprach Litwin über das, was er danach vorzutragen gewillt war – und er tat das in freier Rede, packend von A bis Z. Er ging auf die Entstehung des Zyklus ein, wies auf das politische Statement hin, das seine Uraufführung 1976 im Kontext der 200-Jahr-Feiern der USA abgab, und führte dann mit Hörbeispielen durch die 36 Variationen, die das chilenische Revolutionslied «El pueblo unido jamás será vencido» in postmoderner Vielfalt beleuchten. Kein Blatt nahm Litwin vor den Mund, als er die Umstände schilderte, deretwegen Sergio Ortega das von Rzewski verarbeitete Lied komponiert hat: die Wahl Salvador Allendes zum Staatspräsidenten Chiles 1970 und dessen von den USA betriebenen Sturz durch den in der Folge zum Diktator beförderten General Augusto Pinochet drei Jahre später. Mit Schaudern konnte man dabei an die heutigen Verhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent denken.

Debussy, Zimmermann, Rzewski – das ist kein Zufall. Bei den Badenweiler Musiktagen hört die Musik nicht 1914 auf, sie geht in ungebrochener Kontinuität und aller Selbstverständlichkeit weiter bis in unsere Tage. Davon zeugte diesen Herbst der Abend mit dem Arditti String Quartet. Kompromisslos wiesen Irvine Arditti und Ashot Sarkissjan (Violinen), Ralf Ehlers auf seiner eigenhändig gebauten Viola und der Cellist Lucas Fels darauf hin, wie unbändig modern das frühe Streichquartett op. 3 (1910) von Alban Berg klingen kann. Im fünften Streichquartett Hans Werner Henzes fand sich dann auch die Quelle für das Motto dieses Badenweiler Herbstes; «Echos, Erinnerungen, ganz von fern» nennt sich der fünfte Satz dieses immer wieder erstaunlichen Werks. Ein Glanzlicht ergab sich jedoch durch familiäre Verbindungen, denn mit dem ganz ausgezeichneten Countertenor Jake Arditti gesellte sich der Sohn des Primarius zum Quartett. Und sang dort mit den «Canciones lunáticas» (2008/09) der Mexikanerin Hilda Paredes ein attraktives Werk seiner offenkundig herzlich geliebten Stiefmutter. Den Schluss machte «Cosa resta» für Streichquartett und Countertenor – bitte beachten Sie die Reihenfolge – von Salvatore Sciarrino, eine witzige, in die charakteristische Handschrift des Italieners gefasste Aufzählung der Gegenstände, die der Renaissance-Maler Andrea del Sarto bei seinem Tod hinterlassen haben soll.

War nicht Richard Strauss der Meinung, ein zünftiger Komponist müsse auch das Telephonbuch vertonen können? Wie auch immer, danach schritt man frohgemut zum weissen Wein, denn nach allen Abendkonzerten des Festivals schenkt einer der Winzer aus der Gegend eine Spezialität aus seinem Keller aus. Auch das gehört, natürlich, zu den Badenweiler Musiktagen.

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Die nächste Ausgabe der Badenweiler Musiktage findet vom 1. bis zum 4. Mai 2019 statt. «Frühling. Erwachen» heisst das Thema. Zur Eröffnung gibt es einen Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Pianisten Gerold Huber. Das Béla-Quartett aus Lyon interpretiert unter anderem ein Streichquartett des Kölners Robert HP Platz, während der junge deutsche Pianist Frank Dupree etwa Werke von George Antheil spielt und sich das Boulanger-Trio zusammen mit dem Klarinettisten Kilian Herold einem rein französischen Programm widmet.

Bettina Zimmermann: «Con tutta forza». Bernd Alois Zimmermann – ein persönliches Portrait. Unter Mitwirkung von Rainer Peters. Wolke-Verlag, Hofheim 2018. 464 S., 34 Euro / 52 Franken.

Die Impressionisten und die Natur

Ein Abend bei «klangundszene» Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Überragend die musikalische Seite im jüngsten Projekt des von Rachel Eisenhut geleiteten Zürcher Unternehmens «klangundszene». Auf dem Programm des Abends im Theater Rigiblick hoch über Zürich standen Lieder und Klavierwerke von Claude Debussy und Maurice Ravel – darunter manches Stück, das im Konzert selten zu hören ist. Zum Beispiel die «Histoires naturelles» von Ravel oder die «Chansons de Bilitis» von Debussy, aber auch die «Fêtes» aus Debussys Orchesterzyklus «Nocturnes», die Ravel für zwei Klaviere gesetzt hat. Was Edward Rushton und Maki Wiederkehr auf den beiden obertonreichen Flügeln von Steinway an manueller Agilität, an Geschmeidigkeit der Phrasierung und an Farbensinn ausbreiteten, war hinreissend. Nicht weniger packend, wie sich Clara Meloni auf die Lieder von Ravel und Debussy einliess. Klar zeichnete sie die Lineaturen, zurückhaltend und doch emphatisch, ausserdem brillierte sie mit einer wunderbaren Diktion.

So weit, so gut – sehr gut sogar. Allein, bei «klangundszene» steht die Musik nicht allein wie im Konzert, sie ist vielmehr eingebettet in eine Idee hinter dem Programm und synästhetische Vermittlung. Zum Klang treten hier das Wort, das Bild, die Aktion. Und da beginnen die Probleme. «Histoire naturelle oder Le Rêve d’Emilie» war der Abend übertitelt. Es ging darum, so das Programmheft, «die klangsinnliche, durch die Natur inspirierte Musik von Debussy und Ravel mit einer Zeitreise von den Anfängen der modernen Naturwissenschaften bis heute» zu verbinden, und das fokussiert auf die Person der Marquise Emilie du Châtelet, die Muse Voltaires, der die finnische Komponistin Kaija Saariaho 2010 eine Oper gewidmet hat. Die Debatten der Aufklärung beherrschten den ersten Teil des Abends, einer imaginären Transposition Emilies ins 20. Jahrhundert zu Begegnungen mit Texten von Erwin Schrödinger und Friedrich Dürrenmatt galt der zweite. Ging da nicht alles ein wenig rasch? Blieb da nicht manches etwas an der Oberfläche? Überdeckt durch geschäftiges Tun auf der schönen Bühne von Eugen Eisenhut? Warum kein Wort von Pariser Weltausstellungen, deren exotische Klänge Debussy bis ins Strukturelle hinein beeinflusst haben? Weil es nicht ins Konzept gepasst hätte?

Tatsache ist, dass die beiden Schauspieler Andres Esteban und Stefan Kollmuss sehr anständig, aber vielleicht doch nicht gut genug Französisch sprachen, um die komplexen Texte des Drehbuchs über die Rampe zu bringen. Dass die Klanginstallation von Daniel Bisig und Florian Bogner, eine an der Decke befestigte Erinnerung an Tinguely, nach ihrem kurzen Einsatz zu Beginn an den Rand geriet. Dass die zerplatzenden Ballone von Roman Signer, wie sie in Videos gezeigt wurden, so rätselhaft blieben wie manches in den philosophischen Diskursen des Abends. Und, vor allem, dass die Produktion viel zu lang geraten war – straffende Eingriffe von Seiten der Dramaturgie hätten hier gewiss Abhilfe gebracht. Die von «klangundszene» verfolgte Idee verspricht Anregung, bei der Konkretisierung an diesem Abend blieb noch Potential.

Intimität der Stille, Glanz der Virtuosität

Schuberts Oktett mit Isabelle Faust und ihren Freunden

 

Von Peter Hagmann

 

Eine CD wie diese macht echt glücklich. Das Oktett Franz Schuberts in F-dur für Streichquintett und drei Bläser zu erarbeiten war der Wunsch der Geigerin Isabelle Faust. Und erfüllen wollte sie sich ihn im neuen Geist der alten Musik: mit Instrumenten grosso modo aus der Entstehungszeit der Komposition, mit den ihnen angemessenen Spieltechniken und den dazu gehörigen interpretationsästhetischen Maximen. Auf dieser Basis gelang der Musikerin gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Dunstkreis des Freiburger Barockorchesters eine künstlerisch wie atmosphärisch unerhört treffende Auslegung dieses grossen, grossartigen Stücks von 1824 – eines Werks, das nicht mehr nur Kammermusik und noch nicht ganz Orchestermusik ist.

Isabelle Faust selbst spielt ihre Stradivari «Sleeping Beauty» von 1704, auf der sie ein wunderbar zartes Pianissimo zu erzielen vermag. Sie eröffnet damit eine Welt des Leisen, des intimen Gesprächs, an welcher der Klarinettist Lorenzo Coppola mit seinen gehauchten Passagen hochstehend Anteil nimmt. Sehr präsent sind die Mittelstimmen, die Anne Katharina Schreiber an der Zweiten Geige, der Bratscherin Danusha Waskiewicz und dem oft in brillanter solistischer Fügung heraustretenden Cello von Kristin von der Goltz, aber auch dem agilen Fagottisten Javier Zafra anvertraut sind, während James Munro am Kontrabass mit seinem federnden Ton für elegante Fundamentbildung sorgt. Aufsehen erregt auch der Hornist, der an seinem ventillosen Instrument von 1802 eine ganz erstaunliche klangliche Konstanz erreicht – hochgradig virtuos ist das.

Ja, bei aller Intimität des musikalischen Dialogs, welche die Schönheiten dieses Stücks atemberaubend zur Geltung bringt, kommt es immer wieder zu Momenten des spritzigen Zugriffs und des gewagten Drahtseilstanzes. Das Scherzo des dritten Satzes wird spitz und leicht genommen, das Horn schmettert dazu frisch-fröhlich ins Geschehen. Und wenn im Finale die Primgeigerin und der Klarinettist mit ihren halsbrecherischen Triolen wetteifern, hält man für Augenblicke den Atem an. Besonders auffallend ist jedoch der Umgang mit den Tempi, die immer wieder gleichsam aus dem Moment heraus nuanciert werden – um einzelne Gesten auszuzeichnen, den Bogen zu sichern oder eine dynamische Steigerung zu unterstützen.

Dies alles jederzeit im Dienst am Werk – an einer Partitur, die in der Charakteristik ihrer Gesten und der Inspiration ihrer Ausformung zum Allerbesten in Schuberts Schaffen gehört. Sehr langsam hebt bei Isabelle Faust und ihren Freunden der Kopfsatz an, in unendlicher Sorgfalt wird dieses Adagio ausgelegt – bis hin zum Triller der Klarinette, der nicht einfach klingelt, sondern sich subtil beschleunigt. Und dann das Allegro, das in der Tempobeziehung logisch herbeigeführt, durch die Energie im Inneren getragen und durch die explizite Genauigkeit in der Phrasierung geprägt wird. Im zweiten Satz lässt sich der Reichtum an Klangfarben bewundern, den die alten Instrumente hervorzaubern – besonders dann, wenn die Primgeigerin mit den schönsten geraden Tönen dazu tritt, das Vibrato also sehr sorgfältig und sparsam einsetzt. Der Besonderheiten sind kein Ende, zumal im vierten Satz mit seinen Variationen, in denen die einzelnen Instrumente zu Personen mit sehr eigenen Physiognomien werden.

Nur ein Wunsch muss naturgemäss offenbleiben. Der nämlich, dieses Wunderstück in dieser Wunderinterpretation im Konzert hören zu können.

Franz Schubert: Oktett in F-dur, D 803. Isabelle Faust (Violine), Anne Katharina Schreiber (Violine), Danusha Waskiewicz (Viola), Kristin von der Goltz (Violoncello), James Munro (Kontrabass), Lorenzo Coppola (Klarinette), Teunis van der Zwart (Horn), Javier Zafra (Fagott). Harmonia mundi 902263 (Aufnahme 2018).

Ein Streichquartett hebt die Welt aus den Angeln

Bach, Beethoven und Mendelssohn mit dem Chiaroscuro-Quartett in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Selbst für eingefleischte Liebhaber des Streichquartetts dürfte dieser Abend im Rahmen der Neuen Konzertreihe Zürich zu einem Schlüsselerlebnis geworden sein. Mit dem Auftritt des Chiaroscuro-Quartetts in der Kirche St. Peter öffnete sich eine Tür zu einer ganz und gar neuen Vorstellung davon, was das Streichquartett sei, wie es klingen könne und welche Hörerlebnisse es biete. Schon gleich zu Beginn, wie Pablo Hernán Benedí an der zweite Geige das Thema aus Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge» anklingen liess, stand im Raum, dass hier aufgrund ganz anderer Prämissen gearbeitet wird als in Streichquartetten herkömmlicher Art. Wie dann die Primgeigerin Alina Ibragimova antwortete, wie wenig später die Cellistin Claire Thirion und endlich die Bratscherin Emilie Hörnlund dazu traten und nach 78 Takten der Contrapunctus 1 aus dem gewaltigen Fugen-Kompendium des Thomaskantors zu seinem Ende fand, hatte man schon erheblich gereinigte, geöffnete und sensibilisierte Ohren.

Einzigartig am Chiaroscuro-Quartett ist nicht die Tatsache, dass die vier Ensemblemitglieder allesamt wertvolle alte Streichinstrumente spielen; das taten und tun auch andere Quartette, berühmtere wie weniger berühmte. Die Besonderheit besteht vielmehr darin, dass diese alten Instrumente nicht, wie es sonst der Fall ist, auf die heutigen Erfordernisse hin umgebaut, also mit Verstärkungen und modernen Saiten versehen sind, sondern dass sie ihren ursprünglichen Zustand bewahrt haben. Sie sind mit Darmsaiten bespannt, werden etwas tiefer gestimmt und mit jenen Bögen bespielt, die der Entstehungszeit der jeweiligen Stücke entsprechen. Das allein ergibt schon einen stark veränderten Klang – allerdings nicht das etwas stumpfe Näseln, durch welches das Spiel so eminenter Vorkämpfer wie Alice Harnoncourt oder Jaap Schroeder noch beeinträchtigt war. Der Umgang mit den alten Instrumenten hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren derart entwickelt, dass auf ihnen heute eine ganz eigene, klanglich brillante Virtuosität möglich, ja selbstverständlich ist. In krassem Gegensatz zu Erscheinungen wie der Geigerin Anne-Sophie Mutter oder dem Cellisten Mischa Maisky dominiert hier ein heller, fast silberner Klang, der in der Leichtigkeit der Tongebung und im Leisen verankert ist, der ausserdem von einer unerhörten Vielfalt an Farben lebt.

Die Instrumente sind das eine, das andere und ebenso wichtig ist die Spielweise. Grundlage bilden beim Chiaroscuro-Quartett nicht der satte, in jedem Moment von Vibrato getragene Ton, sondern sein Gegenteil: das gerade, reine Klingen, das durch Obertöne geformt und durch ein differenziertes, oftmals kaum bemerkbares Vibrato bereichert wird – jene Sonorität also, die von den im Klangbild der sechziger Jahre sozialisierten Besserwissern besonders acharniert bekämpft wurde, inzwischen aber selbst im sogenannt herkömmliche Musizieren ihre Wirksamkeit entfaltet. Wo das Vibrato und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten des Kaschierens fehlen, erhöhen sich allerdings die Anforderungen an die Reinheit der Intonation – und da erwiesen die drei Stücke aus der «Kunst der Fuge», wozu das Chiaroscuro-Quartett in der Lage ist. Nicht nur entfalteten die einzelnen Töne im Gehörgang eine Intensität sondergleichen, auch das Zusammenklingen erreichte ein Miteinander und Ineinander exzeptioneller Güte; es war von einer Leuchtkraft, die einen geradezu von den Kirchenstühlen abheben liess. So war dieser Einstieg für die Ausführenden wie die Rezipierenden gleichermassen von Nutzen.

Mit solcherart gespitzten Ohren betrat man den Garten der Nummer 2 aus Ludwig van Beethovens Opus 18, des Streichquartetts in G-dur von 1800. Um sogleich zu bemerken, dass in diesem Fall der hallige Kirchenraum, eine Übergangslösung für die Zeit der Bauarbeiten an der Tonhalle, seine Einschränkungen bemerkbar machte: Die kleinen Notenwerte, gerade wenn sie wie im Kopfsatz als Auftakte eingesetzt sind, gingen unter. Davon abgesehen herrschte aber vielgestaltige Munterkeit, die sich vitaler Phrasierung und expliziter Artikulation verdankte. Im Adagio cantabile ging Alina Ibragimova mit ihren agilen Diminutionen entschieden voran – wobei zugleich auffiel, wie gleichberechtigt die vier Stimmen in Erscheinung traten, wie klar darum die einzelnen Lineaturen und ihr Zusammenwirken in der vom Ensemble gepflegten Transparenz zur Geltung kamen. Das mag auch darauf zurückgehen, dass mit Pablo Hernán Benedí, dem ganz in sich ruhenden Sekundgeiger, der spürbar solistisch agierenden Primgeigerin ein ebenbürtiger Partner gegenüber stand, dass ausserdem die Cellistin Claire Thirion mit ihrem kernigen, aber nie bohrenden Klang, ihrer flinken Beweglichkeit und ihrem weiten Ausdrucksspektrum das Geschehen diskret, aber erfolgreich steuerte – wie sich im Finale erweisen sollte. Zuvor gab es aber noch das Scherzo, in dessen flüsterndem Ton zutage trat, mit welch hoch entwickelter die Piano-Kultur das Quartett zu Werk geht. Da war denn die ganze Kunst dieses aussergewöhnlichen Ensembles ausgelegt: Kunst im Zeichen von historisch informierter Aufführungspraxis 2.0. Das Ergebnis wird man nicht so rasch zu den Akten legen.

Zumal es im Streichquartett Nr. 1 in Es-dur, op. 12, von Felix Mendelssohn Bartholdy, einem Meisterwerk aus der Feder eines Frühvollendeten, zu einer Potenzierung dieser Kunst kam. Mit ihren ziehenden Tönen setzte die langsame Einleitung die Latte schon hoch, mit dem lebhaften Gespräch zwischen den vier vernünftigen Leuten nahm das Allegro non tardante die Herausforderung brillant auf. Eine Überraschung bot die Canzonetta des zweiten Satzes, deren Allegretto in Tempo und Artikulation grossartig getroffen war. Wie herrlich sich auf den alten Instrumenten, so sie wirklich alt sind, singen, welch spritzige Agilität sich auf ihnen aber auch erzielen lässt, gaben das Andante espressivo und das Finale in Molto allegro e vivace zu verstehen. Am Ende durfte man – zunächst einmal Atem holen und dann feststellen, dass dieses enorm heikle und darum nicht besonders oft gespielte Stück so vielleicht noch nie erklungen ist.

Einmal mehr hat der Abend erwiesen, welch ungemein weites Feld hier zu beackern wäre. «Wäre», denn was sich im Bereich der Oper, des Chorwesens, der Orchestermusik längst etabliert hat, bildet im Bereich der Kammermusik noch immer eine Ausnahme. Mit aller Deutlichkeit hat das Chiaroscuro-Quartett gezeigt, welches Potential hier wartet – und wie es dieses Potential zu nutzen weiss. 2005 von Alina Ibragimowa als reines Frauen-Quartett im Umkreis der Londoner Musikhochschulen gegründet, steht es heute an der Spitze jener Gruppe von rund einem Dutzend Streichquartetten, die sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben haben; 2010 trat Pablo Hernán Benedí an die Stelle von Sara Deborah Struntz. Besonders fällt auf, dass die vier Ensemblemitglieder noch weitere Tätigkeitsfelder bearbeiten, sei es in Orchestern, in anderen Ensembles oder solistisch – und das durchaus jenseits des Spiels auf Darmsaiten. Alina Ibragimova, die zusammen mit dem Pianisten Cédric Thibergien eine hochkarätige Einspielung der Geigensonaten Mozarts vorgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 26.04.17), spielt neben dem Wirken im Quartett auch neue Musik; in einem Vierteljahr wird sie in Bergen (und mit dem Dirigenten Edward Gardner) ein Violinkonzert des norwegischen Komponisten Rolf Wallin zur Uraufführung bringen. Das ist eine Gegenwart, die spannender nicht sein könnte. Sie hat fraglos Zukunft.

Kontraste und Übergänge

Das Kuss-Quartett und die Sopranistin Mojca Erdmann in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Etwas lang war der Abend mit seinen knapp zweieinhalb Stunden Dauer, aber er war so schlüssig gebaut, dass die Zeit im Flug verging. Herzstück des Programms bildeten zwei Streichquartette Ludwig van Beethovens: Das C-dur-Quartett aus op. 59, das dritte der Rasumowsky-Quartette, liess erleben, mit welcher Entschiedenheit der Komponist in seiner mittleren Schaffensphase neue Ufer in den Blick nahm, während das letzte Quartett, jenes in F-dur, op. 135, mit seiner heftigen sprachlichen Geste vor Ohren führte, zu welchem Ziel Beethoven schliesslich gelangte. Eingerahmt wurde das Herzstück durch zwei Gruppen von Liedern auf Gedichte Heinrich Heines – Klavierlieder von Theodor Kirchner und Felix Mendelssohn Bartholdy, die Aribert Reimann für Singstimme und Streichquartett gesetzt und durch neu komponierte Zwischenspiele miteinander verbunden hat. Obwohl das Klavier mit seinem perkussiven Moment spannungsvolle Kontraste zur Linearität der Singstimme einbringt und damit in eigener Weise Energien freizusetzen vermag, hat die Einrichtung für vier Streicher ihren Reiz; das Kontrapunktische tritt in dieser Konfiguration doch deutlicher heraus.

Genau darin lag die Besonderheit an diesem Abend in der vom Tonhalle-Orchester Zürich veranstalteten Kammermusikreihe. Anders als man es vielleicht annehmen mag, erwies sich der Saal in der Tonhalle Maag für eine heikle Besetzung wie Streichquartett als ausnehmend geeignet; der Nachhall war so eingestellt, dass sich nicht nur ein opulentes Klangbild ergab, sondern auch die Transparenz im Zusammenwirken der einzelnen Stimmen gewahrt blieb. Mit dem sinnlichen Obertonreichtum, der warme Rundung und der klaren Zeichnung in ihrem Timbre fügte sich Mojca Erdmann ausgezeichnet in das Geflecht der vier Stimmen ein. Die deutsche Sopranistin liess dem Text sein Gewicht, formte die Bögen aber ganz aus den musikalischen Gegebenheiten heraus, was zu lebendiger Interaktion zwischen Sprache und Musik führte. Interaktion aber auch zwischen Mendelssohn und Reimann. Die sechs Intermezzi, die Reimann 1997 unter dem Titel «…oder soll es Tod bedeuten?» in die Folge von insgesamt neun Liedern Mendelssohns einfügte, sprechen ganz unmittelbar an. Sie entwickeln sich aus dem soeben Verklungenen, denken es weiter in eigener Sprache und lassen das Bevorstehende anklingen – und sie tun das so charakteristisch und anregend wie die Paraphrasen, die Wolfgang Rihm den vier Sinfonien von Johannes Brahms beifügte.

Nicht weniger Anteil an der Wirkung des Abends hatte das von der Primaria Jana Kuss begründete Quartett, das ihren Namen trägt. Das Ensemble steht für die unverkrampfte Integration neuer Musik und überdies für eine überaus gehaltvolle Spielkultur. Der später hinzugefügte vierte Satz in Beethovens Opus 135 trägt den vom Komponisten beigefügten Kommentar: «Muss es sein? Es muss sein.» Mit welch packender Kraft das Kuss-Quartett die beiden vom Komponisten ganz unmittelbar in Musik gefassten Sätze in Klang brachte, machte hinreissend Effekt. Vielversprechend hatte es schon begonnen. Im dritten Rasumowsky-Quartett lebte die langsame Einleitung zum Kopfsatz von sparsam eingesetztem, sorgsam gestaltetem Vibrato. Das Andante des zweiten Satzes wurde getragen von den volltönenden, bisweilen aber auch wunderbar leisen Pizzicati des Cellisten Mikayel Haknazaryan, während im Menuett der Sekundgeiger Oliver Wille und der sehr zu Recht nicht hinten, sondern vorne sitzende Bratscher William Coleman mit ihrer energiegeladen federnden Tongebung das Geschehen bestimmten. Dem wirbelnden Finale schliesslich blieb das Kuss-Quartett nicht das Geringste schuldig.

Alt und Neu gesellt sich gern

Badenweiler Musiktage im Frühling 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Es geht also weiter. Fast 45 Jahre lang hat Klaus Lauer die von ihm 1973 ins Leben gerufenen Badenweiler Musiktage geleitet. Letzten Herbst har er sich von dieser Aufgabe zurückgezogen und die Leitung des zwei Mal im Jahr durchgeführten, hochstehenden Kammermusik-Festivals im südlichen Schwarzwald seiner Nachfolgerin Lotte Thaler übergeben (vgl. Mittwochs um zwölf vom 15.11.17). Sehr zu Recht hat die Musikologin und Journalistin Kontinuität in Aussicht gestellt; zugleich hat sie jetzt, in ihrer ersten Ausgabe, erkennen lassen, in welcher Weise sie eigene Akzente zu setzen vermag. «Heut’ und ewig» hiess das Motto, das in seiner poetischen Formulierung ein Gefühl für das Vergehen der Zeit und, auf der anderen Seite, für das Bestehenbleiben, zum Beispiel singulärer Leistungen, evoziert. Es entstammt einem Gedicht Goethes, dessen Vertonung Wolfgang Rihm 2007 abgeschlossen hat – und Rihm, einer der bedeutendsten Komponisten unserer Tage und regelmässiger Gast bei den Badenweiler Musiktagen, durfte hier nicht fehlen. «Heut und ewig» schien nämlich auch zu bedeuten, dass es auch mit der komponierten Musik weitergeht, jedenfalls sprachen die Programme mit ihren kreativen Verbindungen von Alt und Neu in aller Deutlichkeit davon.

Zum Beispiel an jenem unerhört eindrucksvollen Liederabend, an dem sich nicht nur der Bariton Hans Christoph Begemann und der Pianist Thomas Seyboldt trafen, sondern auch Wolfgang Rihm und Franz Schubert. Und dies in zwei Werkgruppen: mit Gedichten von Goethe einerseits, mit solchen von Heine andererseits. Der Komponist von heute, der Texte aus dem 19. Jahrhundert vertont, wie es sein gut 150 Jahre zuvor geborener Kollege tat, das mag einen bildungsbürgerlichen Zug tragen. Bei Rihm fällt das aber nicht ins Gewicht. Rihm sah sich immer in einem grossen Traditionsstrom und leugnete bei aller Eigenheit seiner Handschrift nie seine innige Verbindung mit Altvorderen. Er kann sich das erlauben, weil sein Vorrat an musikalischen Ideen unerschöpflich scheint und weil, auch wenn er sich aktiv der Tradition nähert, stets so viel Neues auf Tapet kommt, dass kein Déjà-vu entsteht. Vor allem aber sind die von Rihm ausgewählten Texte so besonders, dass sich die kompositorische Beschäftigung mit ihnen geradezu aufdrängt. Die im Vokalen ausserordentlich textgenaue und im Instrumentalen hochgradig farbenreiche Präsentation durch Begemann und Seyboldt liess an all dem keinen Zweifel.

Bei den Goethe-Liedern wurde der Block mit den Vertonungen Schuberts eingerahmt von «Sehnsucht und Nachtgesang» (2014), «Heut’ und ewig» sowie am Ende der äusserst speziellen «Harzreise im Winter» von 2012. Im Falle Heines folgten die sechs einzigen Lieder, die Schubert auf Texte dieses Dichters komponiert hat, sie stammen alle aus dem «Schwanengesang», dem Zyklus «dort wie hier» (2015), bei dem Wolfgang Rihm, die Idee muss man erst haben, ein Gedicht Heines sieben Mal in unterschiedlicher Weise vertont hat. Da kam es zum Höhepunkt des Abends, denn Begemann wie Seyboldt, ein durch langjährige Übung bestens aufeinander eingespieltes Duo, sind Virtuosen im Umgang mit dem Leisen – und «dort wie hier» soll ja als eine Meditation im Pianissimo aufgeführt und gehört werden. Bei Schubert dagegen konnte es vital, ja dramatisch werden, etwa in dem drängenden Zug, den «Rastlose Liebe» entwickelte, oder im Grauen des «Doppelgängers», dessen Nachspiel radikale Konturen annahm. Überhaupt beeindruckten hier die enorme Diversität der Ausdrucksformen und die Einlässlichkeit, mit der sowohl der Sänger als auch der Pianist den Stücken auf den Grund gingen. Dass es dabei bisweilen, zumal in den Schlussmomenten der Lieder, zu einer Art Zelebrieren kam, musste und konnte mit etwas Nachsicht hingenommen werden.

Nicht weniger anregend waren die Verzahnungen in einem Programm, das an den hundertsten Geburtstag Bernd Alois Zimmermanns erinnerte. Die drei Solosonaten für Geige, Bratsche und Cello, die Zimmermann zwischen 1951 und 1960 komponiert hat, erscheinen selten im Konzertsaal – was wenig erstaunt, sind sie doch von kaum zu bewältigender Schwierigkeit. Grossartig, wie Ilya Gringolts die Virtuosität der Geigensonate blitzen liess und wie James Boyd die schwarze Depression der Bratschensonate zur Geltung brachte; die Cellosonate mit David Eggert, der kurzfristig für den erkrankten Thomas Demenga eingesprungen war, musste für uns leider einer unumgänglichen Reisedisposition weichen. Der Moment geriet ohne Zweifel nicht weniger hochstehend, denn der aus Kanada stammende Cellist trug massgeblich zur Wirkung des Trios in B-dur, D 471, von Schubert bei – einem Fragment, das ganz im Geiste Mozarts geschrieben ist. Mozart selbst war mit seinem grossen Duo in G-dur, KV 423, vertreten, in dem Gringolts und Boyd impulsiv mit dem Tempo arbeiteten und sorgsam artikulierten – mithin zu äusserst lebendigem Dialogisieren fanden. Zum Schluss gab es Ludwig van Beethovens Streichtrio in D-dur, op. 9, Nr. 2. Zimmermann und schönste Musik im Tonfall der Klassik, das machte den Reiz dieser blendend komponierten und grandios interpretierten Werkfolge aus.

Starke Gegensätze prägten auch das Eröffnungskonzert; es stand im Zeichen der Verbindung zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Kulturraum, die Klaus Lauer zu einer wichtigen Schiene in seinen Programmen ausgebaut hatte und die Lotte Thaler nun fortführt. Mit dem Diotima-Quartett aus Paris war eines der führenden Ensembles im Bereich der neuen Musik verpflichtet, und dass dieser Ruf gerechtfertigt ist, erwies das Streichquartett in g-moll (1893) von Claude Debussy, das Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Franck Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello) in einer Sinnlichkeit sondergleichen aufblühen liessen. Ganz anders das zwölf Jahre später entstandene Streichquartett Nr. 1 in d-moll, op. 7, von Arnold Schönberg, das die Chromatik bis kurz vor die Atonalität hochtreibt, das in mancher Hinsicht aber an die späten Streichquartette Beethovens anschliesst und nicht ohne Druck auskommt. Geriet dieses Stück dem Diotima-Quartett klanglich und dynamisch etwas pauschal, so fesselte das Ensemble in der Mitte des Programms mit «sogni, ombre e fumi», einem 2016 entstandenen Streichquartett von Tristan Murail. In einen fast tonlos gehauchten Beginn wirft die Bratsche Pizzicati und weiche Akkorde ein, die übrigen Instrumente reagieren mit kurzatmigen Bewegungen, dazu kommen bald mikrotonal verfärbte Klänge, bis sich alles in einem Unisono der beiden Geigen beruhigt – so haptisch gestaltet Murail eine Folge von Verläufen, die von klaren Konturen leben und den Zuhörer auf Anhieb gefangen nehmen. Auch das gibt es: neue Musik, die sich verständlich macht, ohne auf Anbiederung zu setzen. In Badenweiler ist sie zu hören.

«Echos – Ferne Erinnerungen» – so ist die Herbstausgabe der Badenweiler Musiktage überschrieben. Sie findet vom 8. bis zum 11. November statt. Und bringt etwa das Streichquartett op. 1 von Glenn Gould mit dem Minguet-Quartett, einen Auftritt des Arditti-Quartetts mit dem Countertenor Jake Arditti sowie die «Monologe» von Bernd Alois Zimmermann und Ferruccio Busonis «Fantasia contrappuntistica» mit dem Klavierduo Grau-Schumacher.