Peter Hagmann
Grenzerfahrungen
Neue Musik zwischen Zentrum und Peripherie
Nicht nur beim Lucerne Festival Orchestra, auch bei der Lucerne Festival Academy stand ein Neubeginn an. Wobei der Wechsel von Pierre Boulez, dem Anfang dieses Jahres verstorbenen Mitbegründer und Künstlerischen Leiter der Academy, zu dem Komponisten Wolfgang Rihm und seinem dirigierenden Alter ego Matthias Pintscher wesentlich weniger geräuschvoll verlief als beim Orchester. Natürlich wäre auch Heinz Holliger für die Nachfolge denkbar gewesen; er hätte die Doppelfunktion des Komponisten und Dirigenten wahrnehmen können, mit der Boulez der Academy ihre Spezialität geschaffen hat, und als «Schüler» von Boulez hätte er ohne Zweifel auch die in den vergangenen zehn Jahren etablierten Paradigmen weiterverfolgt. Das gilt angewandt auch für Wolfgang Rihm, der nun aber doch als die Galionsfigur des zeitgenössischen musikalischen Schaffens gelten darf und ausserdem gut zehn Jahre jünger ist als Holliger. Und dass die Lucerne Festival Academy einen Meister als Leiter braucht, nicht einen in jüngeren Jahren stehenden Revolutionär, scheint sich von Geist und Zweckbestimmung der Akademie her von selbst zu verstehen.
Wenn sich Stars engagieren
Zu dieser Zweckbestimmung gehört, dass die Lucerne Festival Academy zum einen den Stipendiaten neue Horizonte eröffnet, zum anderen aber auch dem Festival etwas bringt. Die verschiedenen kleineren Formationen, von Mitgliedern des Pariser Ensemble Intercontemporain betreut, vor allem aber auch das gross besetzte Orchester ermöglichen es, Dinge ins Programm aufzunehmen, welche die in Luzern gastierenden Orchester nicht im Reisegepäck führen. Neue Musik eben – und sei sie auch schon etwas älter als hundert Jahre. Vor den Werken aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule zum Beispiel schrecken viele Konzertgänger zurück, vor Stücken neueren Datums erst recht; in Tourneeprogrammen nehmen sie bestenfalls die Funktion des Feigenblatts wahr. Wird diese Musik jedoch von einem bekannten Interpreten aufgeführt, wird sie angenommen. So haben Maurizio Pollini in seinen Rezitals und Pierre Boulez, in Luzern verehrt und geliebt, am Pult des Lucerne Festival Academy Orchestra manches möglich gemacht und zahlreiche Türen aufgestossen. In diesem Jahr, dem Jahr der PrimaDonna, kam die Funktion der Türöffnerin Anne-Sophie Mutter zu.
Die weltbekannte Geigerin gab zusammen mit ihrem langjährigen Duopartner Lambert Orkis am Klavier ein Rezital, mit dem sie daran erinnerte, dass sie vor vierzig Jahren zum ersten Mal beim Luzerner Festival aufgetreten ist, sie war sich aber auch nicht zu schade, mit den Stipendiaten des Luzerner Sommers zusammenzuwirken. Mit Alan Gilbert, dem Chefdirigenten des New York Philharmonic, der ans Pult des Akademieorchesters getreten war, erarbeitete sie ein ausgesprochen stimmiges Programm mit Alban Bergs Violinkonzert, mit «En rêve», einem zu Unrecht vergessenen Violinkonzert des Welschschweizers Norbert Moret von 1988 und mit der riesigen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg. Nicht nur, dass dieses Programm im Rahmen eines ausverkauften Sinfoniekonzerts mit denkbar grossem Erfolg gegeben wurde, Anne-Sophie Mutter stellte sich zusammen mit Alan Gilbert auch für das Format «40min» zur Verfügung, in dessen Rahmen bei freiem Eintritt eine gute halbe Stunde Musik vorgestellt wird. Der Erfolg war immens, die Schlange der wartenden Zuhörer reichte vom Haupteingang des KKL rund ums Haus bis hin zum Treppenabgang zum Bahnhof. Noch feiner wäre es gewesen, wenn es eine Gesprächsführung gegeben hätte, und noch schöner, wenn in der Ansage zur Veranstaltung Schönbergs Tondichtung nicht mit der Oper Claude Debussys verwechselt, sondern in der korrekten, deutschsprachigen Formulierung des Titels vorgestellt worden wäre.
Sehr berührend, wie Anne-Sophie Mutter Bergs Violinkonzert heute spielt: schlank im Ton, zurückhaltend im Einsatz des Vibratos, sorgsam in der Emphase. So spricht diese eminent biographisch geprägte Musik ganz direkt. Bei Morets Geigenkonzert wiederum sparte sie nicht mit klangsinnlichem Reiz – was das nur mit Streichern und etwas Schlagwerk besetzte Orchester glänzend aufnahm. Sehr respektabel gelang auch «Pelleas und Melisande». Gewiss kann man sich fragen, wie sinnvoll es ist, das Lucerne Festival Academy Orchestra, das in seiner grossen Formation vergleichsweise selten zusammenkommt, der Konkurrenz durch die auf Hochglanz polierten reisenden Orchester auszusetzen – zumal Schönbergs Tondichtung ein ganz und gar spätromantisches Idiom spricht, die jungen Musikerinnen und Musiker also auf heikles Gelände führt. Andererseits bot ihnen die Aufführung eine Begegnung mit den Wurzeln der Avantgarde und zudem eine Gelegenheit, die sich für die wenigsten von ihnen so rasch wieder ergeben wird. Schönbergs unglaublich opulent besetztes Werk wird ja nicht allzu häufig gespielt; die Veranstalter scheuen es, weil es hohe Kosten verursacht und tiefe Einnahmen in Aussicht stellt, denn nur wenig bekannt ist, dass es sich bei «Pelleas und Melisande» nicht um ein Werk in Zwölftontechnik handelt. Genau darauf spielte Alan Gilbert in seiner ebenso sympathischen wie nützlichen Einführung an, mit der er das Stück vor der Aufführung kurz vorstellte. Die Interpretation selbst lebte von des Dirigenten Erfahrung und seiner dezidierten Hand; die Kräfte blieben kontrolliert, die farblichen Reize der Partitur wurden gleichwohl in aller Pracht ausgebreitet.
Eine Literaruroper
Begab sich hier die Lucerne Festival Academy in vormoderne Gefilde, so kommt die neue Musik, das hat sich noch nicht überall herumgesprochen, im Programm des Lucerne Festival insgesamt zu erheblicher, inzwischen selbstverständlicher Präsenz – dafür sorgt nicht zuletzt Mark Sattler als der für diesen Sektor zuständige Dramaturg. Dieses Jahr ergab sich eine zusätzliche Akzentuierung durch den Umstand, dass der Schweizerische Tonkünstlerverein seine Jahresversammlung und das mit ihr verbundene Tonkünstlerfest im Rahmen des Festivals abhielt. So ergab sich die Gelegenheit, zahlreiche neue Werke kennenzulernen, unter ihnen, als Uraufführung im Südpol, eine Oper von Michel Roth. Der Innerschweizer Komponist des Jahrgangs 1976, der an der Musikhochschule Basel unterrichtet, packte den Stier bei den Hörnern – und das ist in diesem Fall «Die Künstliche Mutter», Hermann Burgers zweiter Roman aus dem Jahre 1982: eine ausladende, in Dauer-Fortissimo gehaltene Schelte des Autors auf die Schweiz im allgemeinen und seine Mutter im speziellen, ein Wiedergänger des Zürcher Skandal-Buchs «Mars» von Fritz Zorn.
Eine Literaturoper also – und genau daran ist Michel Roth gescheitert. Die Umwandlung des Romans, die der Komponist zusammen mit Nils Torpus, dem Regisseur der Uraufführung, vorgenommen hat, muss notgedrungen verkürzen und setzt eigenwillige Gewichte. In den Vordergrund geraten, auch in der Inszenierung, die militärischen Aspekte: der Mythos der Alpenfestung, das Denken in Hierarchien und die militärischen Alltäglichkeiten, die jedem braven Schweizer Mann vertraut sind. Aber eben nur dem. Dass der Untergebene eine Uniform mit höheren Gradabzeichen trägt als der Vorgesetzte, dass das Porträt von General Guisan auf den Kopf gestellt wird und der nahrhafte Spatz aus der Gamelle zu Ehren kommt, mag für einen Zuschauer ohne spezifischen lokalen Bezug weder verständlich noch reizvoll sein. Dazu kommt die merkliche Sprachlastigkeit. Gegenüber der donnernden Gewalt des Textes bleibt die Musik insgesamt im zweiten Glied. In ihrer fragmentarischen, illustrierenden, jedenfalls wenig konstitutiven Anlage bleibt sie Beiwerk, bisweilen verstummt sie gar und wird die Oper zum Schauspiel – als hätte der Komponist nicht mehr weitergewusst.
Dabei wirkte «Die Künstliche Mutter» vom Konzept wie der szenischen Umsetzung her durchaus originell. Der erste Teil ereignete sich im Foyer, einem länglichen Raum, der in der Einrichtung von Renato Grob den Wänden entlang drei Spielorte bot und das von Jürg Henneberger geleitete Ensemble Phoenix in der Mitte plazierte. Interaktion war angesagt. Wer wollte, konnte sich an Holztischen unter die Darsteller mischen, Schauspielerinnen wirkten neben Sängerinnen und Sängern, Instrumentalisten eroberten die Bühne, während einer der Sänger dem Dirigenten den Taktstock entriss. Für den zweiten Teil des Abends begab man sich in den Hauptsaal – und dort konnte man etwa ein fulminantes Solo des grunzenden, jaulenden, stöhnenden Kontrabassisten Alexander Gabryś erleben, der als personifizierter Gletscher zum Protagonisten sprach. Eigenartig, wie in der Anlage der Guckkastenbühne das Ensemble greifbarer wurde, wie viel deutlicher das Engagement von Robert Koller (Bariton), Christoph Waltle (Tenor), Ann-May Krüger (Mezzosopran) und Jeannine Hirzel (Sopran) sowie der beiden Schauspielerinnen Rachel Braunschweig und Miriam Japp spürbar wurde. Es war die Einlässlichkeit der Interpreten, die den Abend trug.