Notfallsternstunde

Lucerne Festival (1):
Riccardo Chailly und Jakub Hrůša beim
Lucerne Festival Orchestra

 

Von Peter Hagmann

 

Diversität hin, Putin her – die Hauptsache am Lucerne Festival sind noch immer die Abende mit den bedeutenden Orchestern der Welt. Zum Beispiel mit dem Lucerne Festival Orchestra – das am vierten seiner fünf Konzerte eine Sternstunde erlebte, die sich geradewegs ins Geschichtsbuch eingetragen hat. Und das kam so.

Als Chefdirigent des Orchesters hatte sich Riccardo Chailly für ein Programm mit Musik von Gustav Mahler entschieden, mit den «Liedern eines fahrenden Gesellen» und der Sinfonie Nr. 1 in D-dur. Das war eine Herausforderung eigener Art, denn die Musik Mahlers bildete den zentralen Nervenstrang im Wirken Claudio Abbados als Initiant des Lucerne Festival Orchestra. Die Probenarbeit muss in der für Chailly charakteristischen Sorgfalt abgelaufen, die Generalprobe am Abend vor dem Konzert soll zu einem Moment des Glücks geworden sein – und dann, am Morgen darauf, die Hiobsbotschaft: Riccardo Chaillly musste sich krankmelden und den abendlichen Auftritt absagen. Da war guter Rat teuer, sehr teuer.

Bereits in Luzern angekommen war an jenem Tag Jakub Hrůša, der Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, der für das fünfte Konzert des Lucerne Festival Orchestra verpflichtet war. Es geschah, was niemand zu träumen gewagt hätte: Hrůša übernahm das Konzert, er dirigierte den Abend als Einspringer in denkbar wörtlichem Sinn, nämlich ohne jede Probe, wenn auch mit den Partituren Chaillys auf dem Pult. Das Orchester stand dem Dirigenten in jeder Sekunde in beispielhafter Solidarität bei, die Musikerinnen und Musiker gaben allesamt ihr Letztes an Können und Achtsamkeit – und so kam es zu einer Aufführung von Mahlers Erster, die das Publikum förmlich von den Sitzen riss. Das war wieder einmal das Lucerne Festival. Und das Lucerne Festival Orchestra.

Mit gutem Recht kann man Mahlers Erstling (inklusive seines mehr oder weniger geheimen Programms unter dem ironischen Titel «Titan») als ein Gebilde im Zeichen des Jugendstils sehen, als eine äusserst fein ziselierte Zeichnung, wie sie der Beginn des Kopfsatzes vorgibt. Man kann, muss aber nicht, wie Jakub Hrůša auf der von Riccardo Chailly gelegten Grundlage gezeigt hat. Mit dem Tschechen am Pult erschien das Werk als ein stürmisch jugendlicher Geniestreich, als ein Gebilde mit griffiger Kontur und pointierten Kontrasten. Nach dem «Naturlaut» mit seinen wunderbar von Ferne herklingenden Trompetenfanfaren kam er erste Satz weniger gemächlich als burschikos in Gang, die Steigerung der Temperatur gelang darum ebenso heftig wie zwingend. Während der zweite Satz logisch anschloss und durchführte, was der erste angelegt hatte – die Agilität des Orchesters und seine klangliche Wandelbarkeit ermöglichten es beispielhaft. Besonders ausgeprägt der Trauermarsch des dritten Satzes mit dem tadellos gelungenen Kontrabass-Solo zu Beginn. Er führte im Finale zu einem Ausbruch sondergleichen, und hier kam die Körperlichkeit des Klangs, die Hrůša zu erzielen weiss und die er mit fulminanter Zeichengebung beförderte, zu herrlichster Wirkung. Die Aufführung lebte von starker atmosphärischer Wirkung, und vor allem liess sie wieder einmal hören und fühlen, was das ist: ein schönes Fortissimo.

Vorab hatte es die vier «Lieder eines fahrenden Gesellen» gegeben – den Zyklus Mahlers, der aus der gleichen Lebensphase des Komponisten stammt und in enger Verbindung mit der ersten Sinfonie steht. Der junge, enorm aufstrebende Bariton Andrè Schuen setzte mit allem Gewinn auf sein warm leuchtendes, samtenes Timbre und brachte die vier so unterschiedlich schimmernden Lieder zu bester Geltung. Insgesamt blieb er im Ausdruck vielleicht ein wenig zu verhalten, doch mochte das der Aufregung der Situation geschuldet sein.

In seinem zweiten Konzert, einige Tage zuvor, waren das Lucerne Festival Orchestra und Riccardo Chailly weitergegangen in ihrem Zyklus zum genius loci, zu Sergej Rachmaninow, seinen Klavierkonzerten und seinen Sinfonien. Dieses Jahr hatte das seine besondere Sinnfälligkeit, wird doch das Haus, das sich der Komponist nächst Luzern erbauen liess, strukturell neu aufgestellt und unter der Leitung der Flötistin und Kulturmanagerin Andrea Loetscher mit Leben erfüllt. Zwei Mal die Nummer zwei bot der Rachmaninow-Abend im Luzerner KKL. Zuerst das Klavierkonzert Nr. 2 in c-moll op. 18 von 1901 – das hier leider zu einem Konzert für Orchester mit Klavierbegleitung wurde. Der junge Japaner Mao Fujita mag für die Klaviersonaten Wolfgang Amadeus Mozarts, die er demnächst bei Sony herausbringen wird, der Richtige sein, im Konzert Rachmaninows erschien er als wenig geeignete Besetzung.

Schon die Einleitung zum Kopfsatz, dem Klavier allein überlassen, liess die Begrenzungen seiner Kraftreserven deutlich werden – und Kraft, ja Metall, vor allem auch Obertöne braucht es für dieses Stück allemal. Gewiss liesse sich darüber nachdenken, ob sich das c-moll-Konzert Rachmaninows auch in etwas lyrischerem Licht darstellen liesse, nur müsste dann das Orchester dabei mitmachen. Riccardo Chailly, der als Dirigent direkt hinter dem Flügel steht und die akustische Wirkung im Saal vielleicht zu wenig in Rechnung stellte, liess das Lucerne Festival Orchestra aber prächtig aufrauschen, so dass dem Solisten nur mehr die Rolle des murmelnden Kommentators blieb. Die erfüllte er freilich tadellos: mit aktivem Konzertieren, mit geschmeidigem Rubato, mit perlender Geläufigkeit.

Klangrausch, weit ausschwingend, dann auch bei der 1907 abgeschlossenen Sinfonie Nr. 2 in e-moll op. 27 – aber, und das macht die Besonderheit aus, jederzeit sorgfältig kontrollierter Klangrausch. Kontrolle im Hinblick auf die Ausstrahlung des Orchesters, das hier tatsächlich seine ganze, nach wie vor einzigartige Farbenpalette erstrahlen liess. Kontrolle aber auch mit dem Zweck, die formalen Verläufe fassbar zu machen. Ein Leichtes ist es, sich den stetig wiederholten Klangwellen Rachmaninows hinzugeben und sich mit ihnen aufschaukeln zu lassen, nur ist das nicht alles. Das Stück an die Kandare zu nehmen, seine Redseligkeit zu bändigen und erlebbar zu machen, dass auch diese Musik ihren Plan hat, das ist weitaus schwieriger. Nicht zuletzt darum, weil neben der Einlässlichkeit, ohne die eine packende Interpretation nicht gelingen kann, ein hohes Mass an Distanz und Übersicht gefordert ist. Die Verbindung zwischen diesen beiden Polen ist Riccardo Chailly hervorragend gelungen. Mit seinen dunklen Violinen, den satten Hörnern und dem tragenden Bassfundament hatte das Lucerne Festival nicht wenig Anteil daran.

Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Entdeckungen, Überraschungen

In den Schweizer Konzertsälen herrscht Leben

Von Peter Hagmann

 

Biel – und Joseph Lauber

Sechs Sinfonien hat er geschrieben, keine einzige ist bekannt, keine wird gespielt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich jetzt allerdings nachprüfen – und vielleicht hat das Folgen. Denn das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und sein Chefdirigent Kaspar Zehnder haben es sich zusammen mit dem von Graziella Contratto geleiteten Label Schweizer Fonogramm zur Aufgabe gemacht, Joseph Lauber der musikalisch interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lauber? Nie gehört, noch vergessener als Joachim Raff oder Hans Huber. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Als Sohn eines Schneidermeisters im Luzerner Hinterland geboren und bei Neuchâtel aufgewachsen, konnte Joseph Lauber (1864-1952) dank einem von den Chocolatiers Suchard gewährten Stipendium in Zürich bei Friedrich Hegar, in München bei Josef Gabriel Rheinberger und in Paris bei Jules Massenet studieren. Bald zog es ihn nach Genf, wo er am Theater als Kapellmeister wirkte und am Konservatorium Komposition unterrichtete – zu seinen Schülern, allerdings auf privater Ebene, zählte auch Frank Martin. In der Schweizer Musikszene wurde seine Stimme gehört, die grosse Karriere suchte er jedoch nicht. Dafür schrieb er über zweihundert Werke, die in der Universitätsbibliothek Lausanne aufbewahrt werden.

Mit Hans Huber, dessen Name immerhin noch einen Basler Konzertsaal ziert und dessen Sinfonien in den 1990-er Jahren von dem schwedischen Label Sterling vorgelegt wurden, teilt Joseph Lauber die Verankerung in der deutschen Spätromantik und die Nähe zu Johannes Brahms – wobei Laubers Musik durchaus auch französische Farben kennt. Seine sechs Sinfonien, zwischen 1895 und 1918 mit einem Nachzügler 1949 entstanden, gehören zum Anregendsten aus dem Bereich der Schweizer Musikgeschichte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. In ihnen verbindet sich ästhetische Weltläufigkeit mit dem Duft der Heimat – eigenartig schweizerisch, jedoch ohne eine Spur ohne Enge klingt diese Musik. Und leicht geht sie ins Ohr, denn das Material ist geschickt erfunden und ebenso geschmeidig wie vielschichtig verarbeitet.

Auf den drei Compact Discs von Schweizer Fonogramm lässt sich das ausgezeichnet nachvollziehen. Nicht zuletzt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik von Frédéric Angleraux. Schweizer Fonogramm sieht sich als «ein Label von Musikern für Musiker». Im Vordergrund stehen Sachbezogenheit und Qualitätsanspruch, wovon auch die informativen Booklets zeugen. Ausserdem wird konsequent an der Studioaufnahme und an der CD als netzunabhängigem Tonträger festgehalten, obwohl die Aufnahmen, wenigstens zum Teil, auch im Internet greifbar sind. Zentral bleibt jedoch die interpretatorische Qualität. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn zeigt sich von allerbester Seite, es legt Zeugnis ab von dem erfolgreichen Weg, den es mit Kaspar Zehnder in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt hat. Jetzt strebt der Chefdirigent nach neuen Ufern. Unter seiner Leitung hat das Orchester einen deutlichen Qualitätssprung vollzogen, das war in vielen der unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel in engen räumlichen Verhältnissen entstandenen Opernproduktionen zu erfahren, das war auch im Abschiedskonzert Kaspar Zehnders zu hören (hier vermerkt als Abend in dem wunderschönen Konzertsaal von Solothurn). Sehr bildhaft die Rumänische Rhapsodie Nr. 2 von George Enescu, farbenreich und brillant die «Nächte in spanischen Gärten» von Manuel de Falla mit der virtuosen Pianistin Judith Jáuregui, vital und klangschön die Achte Sinfonie Antonín Dvořáks. Der Leistungsausweis darf gezeigt werden.

 

Zürich – Streichquartett im sakralen Raum

;on wegen «Konzertsaal»: In Zürich wird für manches Konzert, für Kammermusik zumal, nicht die Kleine Tonhalle gemietet, sondern in die Kirche St. Peter ausgewichen. Der barocke Raum verfügt über eine reiche, füllige Akustik, die gerade das Streichquartett herrlich umhüllt, ohne die Transparenz zu erschweren. Eben erst bestätigte es sich wieder in einem der vier Quartettprogramme, welche die von Jürg Hochuli betreute Neue Konzertreihe Zürich von Frühsommer bis Frühherbst in St. Peter anbietet. Angesagt war das Schumann-Quartett, eines der berühmtesten unter den Ensembles jüngerer Generation. Es hat einen neuen Bratscher; Veit Herstenstein heisst er, und er passt haargenau zu den drei Brüdern Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello). Hertenstein passt darum so gut, weil er als Kammermusiker äusserst aktiv mitwirkt. Mit seinem kernigen Ton und seiner pointierten Artikulation verhilft er zusammen mit dem ohnehin aussergewöhnlich präsenten Sekundgeiger den Binnenstimmen zu einem Profil, das dem musikalischen Geschehen im Quartett spannendes Gleichgewicht verschafft. Nicht Erste Geige und Cello geben den von Zweiter Geige und Bratsche grundierten Ton an, alle vier gemeinsam tun es – das trifft man in dieser Ausprägung nicht alle Tage.

Geschwister auch im Programm: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, ging ihrem gut drei Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Weg der Musik voran. Eine schöne Idee, die in der Verwirklichung jedoch nicht aufging. Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy hatte es bekanntlich nicht leicht. Als Frau blieb ihr die musikalische Laufbahn versagt, nämlich von der Familie untersagt, und als Künstlerin stand sie hinter ihrem Bruder zurück. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie ihr Streichquartett in Es-dur von 1834 ahnen liess. Die Begabung ist klar zu hören, zugleich schliesst das Werk aber auch immer wieder und unverkennbar, in einzelnen Wendungen wie im Tonfall, an das neun Jahre zuvor entstandene Streicherokett in Es-dur des Bruders an. Dennoch setzte sich das Schumann-Quartett mit Verve für Fanny Hensel ein, besonders in der Romanze des dritten Satzes, in der die Viola voranging. Mit mehr Erfolg tat es Ensemble beim späten, nach dem Tod der Schwester komponierten Streichquartett in f-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Interpretation orientierte sich eindeutig an der biographischen Situation, das geradezu orchestrale Forte, zu dem das Schumann-Quartett in der Lage ist, bot es an; ein weiter Bogen spannte sich zwischen dem zornigen Tränenausbruch im Kopfsatz und dem Grabgesang im Adagio. Beispielhafte Kammermusik war das. Am 21. August folgt das Pavel Haas-Quartett, am 11. September das Simply Quartet.

 

Basel – weiterhin im Aufbruch

Besonders quirliges Leben herrschte im grossartig renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos, in dem das Sinfonieorchester Basel zusammen mit dem Gastdirigenten Jukka-Pekka Saraste zum Abschluss seiner sinfonischen Saison auftrat. Gut gefüllt der Saal und besetzt mit auffallend vielen jungen Menschen – wie schaffen das Hans-Georg Hofmann als Künstlerischer Direktor und Franziskus Theurillat als Orchesterdirektor? Vor mir drei Girls, die Mahlers Erste gewiss noch nie gehört hatten, die nach den Beckenschlägen aufgeregt wisperten und beim stürmischen Einsatz des Finales nach dem gemessenen Trauermarsch des dritten Satzes sichtbar erschreckten – die aber das Gebotene mit aller Aufmerksamkeit aufnahmen und heftig applaudierten. Ach ja, es wird bald aussterben, das Sinfoniekonzert…

Auch auf dem Podium wird in Basel das Gegenteil bewiesen. Das Sinfonieorchester Basel lebt weiterhin im Zeichen des Aufbruchs, obwohl (oder gerade weil?) sein Chefdirigent Ivor Bolton mehr durch Abwesenheit glänzt als durch das Gegenteil. In seiner Existenz als freies, wenn auch von der öffentlichen Hand unterstütztes Orchester gibt es seine zehn bisweilen doppelt geführten Abonnementskonzerte, bietet es aber auch ein breites Spektrum an Konzertformaten anderer Art, in denen es direkt auf sein angestammtes Publikum zugeht und gleichzeitig neue Hörerschichten anzusprechen sucht. Vor allem aber erwies es bei seinem Saisonbeschluss (vor einem wegen der Pandemie verschobenen Chorkonzert mit Hans Hubers Oratorium «Erfüllung und Weissagung» am 20. August) seine anhaltend hochstehende Form, und zwar in klanglicher wie in technischer Hinsicht.

Ganz eng an der Seite des Solisten Steven Isserlis stand das Sinfonieorchester Basel beim Cellokonzert von William Walton, einem für kontinentaleuropäische Ohren etwas seltsam wirkenden und dementsprechend selten gespielten Werk. Was Isserlis, ein Ausdrucksfanatiker erster Güte, aus der Partitur herausholte, wie er aus ihrer Schrägheit kein Hehl machte und, umgekehrt, ihre Kantabilität zu ungeschmälerter Wirkung brachte, war schon eindrücklich genug. Vollends trat das aber bei der Sinfonie Nr. 1, D-dur, von Gustav Mahler heraus, die Jukka-Pekka Saraste in gelassener Souveränität, dabei aber mit allem Temperament anging. Und als im Finale die Hornisten nicht nur ihre Schalltrichter in die Höhe hoben, sondern sich, wie es der Komponist verlangt, von ihren Sitzen erhoben, gab es sogar Ungewöhnliches zu sehen.

Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Kunst und Gunst des Alters

Bruckners Fünfte mit Herbert Blomstedt

 

Von Peter Hagmann

 

Alles hatte seine Stimmigkeit an diesem Abend des Tonhalle-Orchesters Zürich – fast alles, doch davon später. Der fünften Sinfonie Anton Bruckners mit ihren knapp eineinhalb Stunden Spieldauer etwas voranzustellen, hat seinen Sinn. Erst recht, wenn es von Johann Sebastian Bach stammt, dem Meister jener Kunst des Kontrapunkts, der sich Bruckner nicht nur im Finale seiner Fünften, dort aber mit besonderer Inständigkeit hingegeben hat. Wenn aber das Vorangestellte von Bach kommt und für Orgel geschrieben ist, dann ist ein Optimum erreicht. So war es beim Auftritt des Tonhalle-Orchesters im Rahmen der erstmals durchgeführten Internationalen Orgeltage. Zu Beginn des Abends spielte der Organist Christian Schmitt, der zusammen mit Peter Solomon am Bau der neuen Orgel in der Tonhalle wesentlich beteiligt war und die erste Saison des Orchesters im neu erstrahlenden Saal als Fokus-Künstler begleitet, Bachs Fantasie mit Fuge in g-moll (BWV 542) – und führte vor Ohren, dass das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf nicht nur eine präzis auf die Bedürfnisse der Chöre und Orchester abgestimmte Konzertsaalorgel ist, dass auf ihr vielmehr auch Werke der Barockzeit adäquat dargeboten werden können. Mit einem Ausschnitt aus dem «Livre du Saint-Sacrement» des grossen Olivier Messiaen, eines wie Bruckner tiefgläubigen Katholiken und Organisten, konnte er das Publikum ausserdem in die Welt der französischen Klanglichkeit entführen.

Im hellsten Licht, wo es ihm wohl gar nicht so behagt, stand aber Herbert Blomstedt, der amerikanische Dirigent schwedischer Herkunft, der in Kürze seinen 95. Geburtstag begehen kann – und der nach den drei Zürcher Konzerten vier weitere Auftritte in Hamburg, Bremen und Berlin im Kalender stehen hat. Raschen Schrittes, ohne jede Gehhilfe, absolvierte er seine Auftritte, aufrecht, mit etwas hochgezogener linker Schulter, aber das tat er schon in jüngeren Jahren, stand er vor dem Orchester, das ganze Werk hindurch ohne Sitzpause – es ist zum Staunen. Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin sowie auf jede Form von Liften und Rolltreppen, das soll seinen eigenen Worten gemäss das Rezept sein. Vollends unbegreiflich ist aber, wie er in diesem methusalemischen Alter in der Lage ist, ein derart ausgreifendes, derart komplexes Werk wie Bruckners Fünfte so souverän zu meistern, wie es ihm am dritten seiner drei jüngsten Zürcher Abende gelang. Es ist natürlich Frucht ausgeprägter Begabung und lebenslanger Erfahrung, vielleicht aber auch, um es mit Bruckner zu sagen, eine Gnade Gottes. Das Tonhalle-Orchester Zürich fing jedenfalls sogleich Feuer und blieb dem Dirigenten in letzter Aufmerksamkeit zugewandt. Von strahlender Kraft das Tutti, pointiert und bestens integriert die Farben der Bläser, weshalb der Tonsatz jederzeit durchhörbar blieb.

Von Feuer zu sprechen ist aber vielleicht doch verkehrt; das ist es gerade nicht, was Blomstedt im Sinn hat. Er pflegt vielmehr einen sachlichen, strukturbezogenen Bruckner. Davon zeugt der helle, etwas strenge Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt – das reine Gegenteil zu der runden, emotional durchdrungenen Wärme, die Bernard Haitinks, auch Claudio Abbados Sache war. Für einen modernen Zugang zu Bruckner stehen aber auch die vergleichsweise flüssigen Tempi und der sparsame Einsatz der agogischen Unterstreichung; sie gehören zu den Kernmerkmalen von Blomstedts Auffassung. Am deutlichsten trat es im Finale zutage, wo sich der Dirigent mit geradezu neckischer Verspieltheit den Vertracktheiten hingab, wie sie die Kunst der Fuge bietet. Mit den kleinen Handzeichen, die er, ohne Taktstock schlagend, seit langem pflegt, wies er auf die jeweils erklingenden Hauptsachen hin, auf die Vergrösserungen, auf die Umkehrungen – und es war zu hören, was er sehen liess. Doch schon im Eröffnungssatz war deutlich geworden, aus welcher Übersicht heraus er die Bögen zu spannen und dennoch das Ganze zusammenzuhalten weiss. Sehr getragen, doch ohne jeden Bombast das Adagio des zweiten Satzes, entspannt, ja keck das Scherzo mit seinem Trio. Welche Erleuchtung.

Alles schön, alles gut, wäre nicht der Beginn vor dem Beginn gewesen. Der herrliche Frühsommerabend lud dazu ein, die neue Terrasse vor dem Foyer, die bei der Eröffnung der Tonhalle mit Nachdruck als deren neues Highlight bezeichnet wurde, zu erkunden und einen Blick über den See in die Glarner Alpen zu werfen. Allein, justament dort, wo die Aussicht am schönsten wird, stand wieder einer jener schwarzgewandten Aufseher, der die herandrängenden Konzertbesucher in barschem Ton darauf hinwies, dass hier weiterzugehen untersagt sei; wer es dennoch wage, werde nicht mehr in den Konzertsaal kommen. Wir salutierten und wandten uns um zurück ins Foyer, wo die unsäglichen Kordeln, die das Publikum in Zugelassene und Ausgeschlossene teilten, verschwunden waren, aber deshalb nicht viel bessere Atmosphäre herrschte. Was waren das für Zeiten im Maag-Areal, ohne Aussicht zwar, dafür aber mit Gastfreundlichkeit und ausgesuchter Höflichkeit. Vielleicht wäre es doch endlich an der Zeit, das Kongresshaus von Aufgaben zu entbinden, die es offenkundig nicht zu bewältigen in der Lage ist.

PS., erfreulicher: Am kommenden Sonntag, 12. Juni 2022, um 11.15 kommt die neue Orgel in der Grossen Tonhalle nochmals zu Wort. Anlässlich einer Matinee im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik» spielt Christian Schmitt zusammen mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters Zürich Werke von Johann Sebastian Bach, Frank Martin und Petr Eben. Dazwischen liest Stefan Kurt Gedichte von Rainer Maria Rilke.

Bewegung auf dem Podium

Roberto González-Monjas in Winterthur,
Jakub Hrůša in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Quereinsteiger ist er nicht wirklich, aber doch ein wenig. Am Salzburger Mozarteum liess er sich zum Dirigenten ausbilden, berühmt geworden ist Roberto González-Monjas jedoch als Geiger. In Winterthur, einem Zentrum seines vielfältigen künstlerischen Wirkens, hat er nicht nur als Konzertmeister des Musikkollegiums und, ex officio, als Primarius des Winterthurer Streichquartetts Spuren hinterlassen, sondern vor allem auch als Kammermusiker; unvergessen sind seine Abende mit dem Pianisten Kit Armstrong von 2019 und 2020, bei denen in einer Differenziertheit und einer Spannung sondergleichen Sonaten von Brahms und Mozart erklangen. Das Dirigieren steht in der Wahrnehmung von aussen her eher an zweiter Stelle, gilt dem 34-jährigen Spanier aber gleich viel wie das Geigenspiel. Auch in diesem Bereich gab es für mich bemerkenswerte Momente, und zwar beim Lucerne Festival, wo er als Orchesterleiter mit der Geige die Iberacademy, das von ihm gegründete Jugendorchester aus Kolumbien, in Ekstase versetzte und wo er im Sommer letzten Jahres mit dem Mahler Chamber Orchestra die Wiedergabe einer Sinfonie Joseph Haydns zur Sternstunde werden liess.

Inzwischen ist Roberto González-Monjas Chefdirigent des Musikkollegiums Winterthur, und als solcher hat er nun ein sehr spezielles Abonnementskonzert präsentiert. «Scheherazade» war das Stichwort des Abends. Er endete denn auch mit der gleichnamigen Sinfonischen Dichtung von Nikolai Rimsky-Korsakow – einem Stück, das von der Besetzung und vielleicht auch von der Akustik im Konzertsaal des Winterthurer Stadthauses her an die Grenzen ging. Dasselbe tat Roberto González-Monjas. Nach einem überschiessenden, geradezu explosiven Beginn lotete er die doch sehr redselige Partitur in ihrer ganzen Farbenpracht aus, versah die sich gerne wiederholenden Gesten mit prägnanter Kontur und unterstützte die musikalische Erzählung durch temperamentvolle Schärfung der Verläufe. Das Orchester gab sich dem packenden interpretatorischen Ansatz mit vollem Engagement hin – und klang schlicht grossartig, jedenfalls fern jener Herbheit, die sich bei Thomas Zehetmair bisweilen eingestellt hatte. Die Streicher fanden klangvolle Homogenität, der Konzertmeister Ralph Orendain brillierte in seinen ausgedehnten Soli, und die Bläser, denen der Dirigent die nötige Freiheit liess, trugen mit charakteristischen Einwürfen zur Vitalität des Geschehens bei.

Überraschend spannend war das, wie überhaupt der Abend reiche Anregung bot – Roberto González-Monjas ist nun einmal ein genuiner Musiker, dem es weder an Einfall noch an Agilität fehlt (und der eines Tages vielleicht auch noch seine Körpersprache zu mässigen weiss). Begonnen hatte das Programm mit einem erst kürzlich aufgefundenen Stück von Igor Strawinsky, einem frühreifen, emotionalen «Chant funèbre» auf den Tod seines Mentors Rimsky-Korsakow. Worauf die «Shéhérazade» von Maurice Ravel mit der intonatorisch nicht restlos sattelfesten Mezzosopranistin Sophie Koch folgte und sich die reizende «Epiphanie» für Sopran und Orchester von Charles Koechlin anschloss. In Winterthur, so der Eindruck, ist etwas los; Anfang Juni folgt zum Schluss der Saison «Le grand rituel», ein unkonventionelles Festival von zwei Wochen Dauer, das klassische (und andere) Musik in den Industriebau der «Halle 23» bringt und das in einer durch Tanz begleiteten Aufführung von Strawinskys «Sacre du printemps» kulminiert.

Ganz anders als der Wirbelwind Roberto González-Monjas erscheint Jakub Hrůša, der von Beobachtern gerne in der Nähe zu Eminenzen wie Bernard Haitink oder Mariss Jansons gesehen wird. Das erstaunt nicht, verfolgt der 40-jährige Tscheche doch eine ganz und gar konventionelle, allerdings steil ansteigende Laufbahn. Nach der Ausbildung an Klavier und Posaune in der Heimatstadt Brünn, nach dem Studium und ersten Erfolgen in Prag wirkt Hrůša jetzt als Chefdirigent bei den Bamberger Symphonikern sowie als Gastdirigent bei der Tschechischen Philharmonie und bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom; gerne gesehen ist er auch in den grossen Opernhäusern. Indessen zielt Hrůša nicht nur auf den Aufstieg im Rahmen des etablierten Repertoires. Bei seinem Diplomkonzert in Prag dirigierte er die Sinfonie «Asrael» von Josef Suk, die er später auch auf CD aufnahm, während er beim Lucerne Festival im letzten Sommer mit den Bamberger Symphonikern ein Programm mit einem neuen Stück von Iris Szeghi, dem Violinkonzert von Beat Furrer und dem Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka präsentierte.

Die Verankerung im Etablierten und zugleich die emphatische Neigung zum Neueren prägte auch den jüngsten Auftritt Jakub Hrůšas beim Tonhalle-Orchester Zürich. Zunächst: das Cellokonzert von Antonín Dvořák in einer handwerklich untadeligen Ausführung – und mit einer hochmusikalisch ausgesungenen, unerhört in die Tiefe gehenden und dementsprechenden berührenden Präsentation des Soloparts durch den jungen Cellisten Kian Soltani. Blendend der Einstieg des Orchesters mit dem glänzenden Solohorn und der innigen Klarinette, trefflich das Dazutreten des Cellisten, der ohne jeden Druck voranzuziehen verstand. Im zweiten Satz erzeugte Kian Soltani eine Melancholie, die gewiss niemanden gleichgültig liess – und wie er das hohe d vor der Kadenz hinstellte, zunächst rein und gerade, um gegen das Ende hin in eine kleines Vibrato hinzuzufügen, das war hohe Kunst.

Danach freilich (und nach einer entbehrlichen «Pastorale» von Dmitri Smirnov): das Konzert für Orchester des Polen Witold Lutosławski, ein Werk von unglaublicher Wucht, das in der grandiosen, sehr persönlichen Auslegung durch das Tonhalle-Orchester Zürich und seinen Gastdirigenten Jakub Hrůša zu einer Grösse sondergleichen fand. Messerscharf griffen die musikalischen Ideen ineinander, hart stiessen die instrumentalen Farben aufeinander, Harmonie war ausgeschlossen, es gab einzig energisches Aufstehen, ja Aufbäumen. In welchem politischen und gesellschaftlichen Klima Lutosławski 1950 die ersten Noten zu Papier brachte, zwar befreit vom Nazi-Terror, aber mit Stalin im Nacken, dann jedoch, beim Abschluss der Partitur 1954, im Zeichen jener leichten Lockerung, die zur Gründung des Warschauer Herbstes 1956 führte – das alles war zu hören. Und nicht beiseitezuschieben war der Gedanke an das, was derzeit in der Ukraine geschieht. Solches vermag, mit Hingabe ausgeführt und mit Empathie wahrgenommen, Musik als Kunst wie unterm Brennspiegel zu fassen.

Übrigens geht auch beim Tonhalle-Orchester die Post ab. Der Stolz auf die neue Orgel im Saal fruktifiziert sich in einem eigens dem Instrument gewidmeten Festival. Es zeigt die Orgel als Soloinstrument, indem Christian Schmitt, als Organist spezieller Gast des Orchesters in der zu Ende gehenden Saison, zwei mächtige Werke von Johann Sebastian Bach und Olivier Messiaen spielt, und dies am 4. Juni, bevor dann der Altmeister Herbert Blomstedt ans Pult tritt und die fünfte Sinfonie Anton Bruckners dirigiert. Die Orgel wird aber auch als Instrument für Kammermusik gezeigt: in einer Sonntagsmatinee am 12. Juni im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik». Thomas Hampson kommt und lässt sich von Christian Schmitt an der Orgel begleiten, auch Jazz soll sich auf ihr spielen lassen. Mittendrin und als Höhepunkt schliesslich gibt es auch hier den «Sacre du printemps», in dem nicht die Orgel tanzt, wohl aber eine Truppe aus dem Ballett Zürich zusammen mit dem Choreographen Lucas Rodrigues Valente.

Temperament oder Struktur?

Das Lucerne Festival wirft Licht auf
Felix Mendelssohn Bartholdy

 

Von Peter Hagmann

 

Das ist es nun also, das neue Frühlings-Wochenende des Lucerne Festival. Es ersetzt das 1988 von Ulrich Meyer-Schoellkopf eingerichtete, beim Publikum gut eingeführte, 2019 jedoch eingestellte Osterfestival, das seinen Schwerpunkt eher bei geistlicher Musik suchte und in den letzten Jahren das hervorragende, inzwischen leider ganz aus den Luzerner Agenden verschwundene Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München als Residenzformation führte. Ganz anders das neue Frühlings-Wochenende. Es  gehört dem Lucerne Festival Orchestra, das hiermit zum ersten Mal ausserhalb der Sommerfestivals auftrat – nur richtig, dass bei dieser Neuorientierung des Luzerner Festivals auf seine grundlegende Strategie zurückgegriffen, dass auf die Eigenproduktion gesetzt und die zentrale Errungenschaft des von Claudio Abbado und Michael Haefliger Festivalorchesters ans Licht gehoben wird. Und wenn das in einer derart spannenden Programmdramaturgie geschieht, wie es hier der Fall war, dann ist für kreative Anregung gesorgt.

Die Aufmerksamkeit galt Felix Mendelssohn Bartholdy, wenn auch nicht ihm allein, sondern ihm und seinem Umfeld. Gebildet wurde dieses Umfeld am ersten Abend des neuen Kurz-Festivals von – Richard Wagner. Ja, tatsächlich: von Richard Wagner, der sich in einem berühmt gewordenen Pamphlet äusserst abschätzig über seinen vier Jahre älteren Kollegen geäussert hat. Die Juden, schrieb er dort in Anspielung an Mendelssohn, seien nicht in der Lage, zu den Wurzeln von Musik als einer das Innerste berührenden Kunst vorzudringen; sie vermöchten auch nicht Kreativität im eigentlichen Sinn zu entfalten, es bliebe ihnen, Papageien gleich, allein das Kopieren. Jude war Mendelssohn insofern, als er einer jüdischen Familie entstammte. Allerdings ist er rein christlich erzogen und als Siebenjähriger 1816 protestantisch getauft worden; als sechs Jahre später auch die Eltern zum Christentum übergetreten waren, liess der Vater den Familiennamen um den Beinamen Bartholdy erweitern. Dessen ungeachtet sah Wagner in Mendelssohn eine Zentralfigur des jüdischen Künstlertums, gegen die sich sein antisemitischer Furor richtete. Nicht zu übersehen ist freilich, dass dabei, ähnlich wie im Konflikt, den Wagner mit Giacomo Meyerbeer austrug, auch eine gute Portion Neid im Spiel war. Neid auf den Erfolg des anderen und zugleich eine eigenartige Anziehung. Musikalisch scheint sich Wagner tatsächlich gar nicht selten durch Mendelssohn angeregt haben zu lassen.

Drastisch vor Ohren geführt wurde das durch den ersten Teil des gut besetzten Abends im KKL Luzern. Folgte dort doch dem Vorspiel zu Wagners «Parsifal» die fünfte Symphonie Mendelssohns, die vergleichsweise selten gespielte «Reformationssymphonie». Das 1839 vollendete Werk, von Mendelssohn zum 300. Jubiläum der «Confessio Augustana» geschrieben, stellt ein emphatisches Bekenntnis des zwanzigjährigen Komponisten zum Christentum lutherischer Ausprägung dar; er tut das zum Beispiel mit dem Anklang an eine religiös konnotierte Tonfolge, die als «Dresdener Amen» bekannt ist, und verwendet im Finalsatz den Choral «Ein’ feste Burg ist unser Gott». Ebenso findet sich das «Dresdener Amen» in «Parsifal»; dort wird es «Gralsmotiv» bezeichnet. Ist es Zufall? Ist es Absicht? Wagner hat die «Reformationssymphonie» nachweislich gekannt, eine Übernahme der Tonfolge durch den Komponisten in sein 1882 fertiggestelltes Bühnenweihfestspiel ist zumindest nicht auszuschliessen. Indessen gehört das «Dresdener Amen» zu den musikalischen Formeln von allgemeiner Bekanntheit; Richard Wagner, der lange und wichtige Jahre in Dresden verbracht hat, wird sie nicht entgangen sein.

Zu solchen Überlegungen konnte man sich angeregt fühlen – wenn man mit Riccardo Chaillys extrem gedehnten Tempi im «Parsifal»-Vorspiel und seinem robusten Ton in der «Reformationssymphonie» seinen Frieden gemacht hatte. Das Lucerne Festival Orchestra, in dem die Holzbläser besonders brillierten, agierte auf gewohnt hochstehendem Niveau, doch das Ziel, in dessen Dienst es sich stellte, liess einige Fragen aufkommen. Dass Chailly das Vorspiel zum dritten Aufzug von Wagners «Lohengrin» als knallige Überwaltigungsmusik darbot, hat seine Plausibilität, und das umso mehr, als das Orchester der Intention seines Chefdirigenten nicht das Geringste schuldig blieb. Bei Mendelssohns Sinfonie Nr. 3 in a-Moll, der «Schottischen», unterschied sich der Klang des Orchesters nur wenig von den vorangegangenen Wogen, und dies trotz der reduzierten Besetzungsstärke. Nun gut, in der «Schottischen» mag es bisweilen um Naurgewalten gehen. Und vielleicht versuchte Riccardo Chailly auch, das Klischee vom blutleeren Klassizisten, das Mendelssohn so hartnäckig anhaftet, mit dem ihm eigenen Temperament zu begegnen..

Jedenfalls: Sehr kompakt die Streicher, festgefügt und mächtig auftragend die Bläser, die Attacke feurig, die Wendigkeit enorm – alles grossartig. Nicht zu überhören waren aber auch die damit einhergehenden Nachteile. Mendelssohns helle, klare, subtil gezeichnete und im Inneren des Geschehens ausnehmend lebendige Sprache fand zu wenig von der Ausstrahlung, die sie entwickeln kann. «Un poco», «assai», «non troppo» verlangt der Komponist, seine Luzerner Interpreten kannten dagegen kein Mass. Da manifestierten sich Übersteuerung und viel zu viel Druck – mit dem Ergebnis, dass mehr als einmal die Einzelheiten, die Besonderheiten unter den Tisch fielen. Beispielhaft dafür steht jene Stelle im Adagio der Sinfonie, an der die Bratschen etwas zu sagen hätten und an der Chailly sie mit auffordernden Gesten zu motivieren suchte – allein, die Liebesmüh war verloren, die Bratschen gingen im im allgemeinen Getöse unter. Vieles, sehr vieles ist bei Riccardi Chailly meisterlich aufgehoben; Mendelssohn gehört nicht dazu. Dass sich mittlerweile, seit Nikolaus Harnoncourt, Frans Brüggen, Pablo Heras-Casado, ganz andere, fruchtbare Deutungsweisen eröffnet haben, das macht allerdings Hoffnung.

Musikdämmerung? Nein, Frühlings Erwachen

Die Klavierkonzerte Beethovens mit Krystian Zimerman und Simon Rattle

 

Von Peter Hagmann

 

Ist die Musik als Kunst am Ende? Wer die derzeit laufenden Debatten verfolgt, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Von Diversität ist die Rede, von Inklusion, von Immersion, von Partizipation; mehr junge Menschen mit anderer als der weissen Hautfarbe und mehr solche weiblichen Geschlechts, mehr Zugänglichkeit für die von der Kunst Ausgeschlossenen, mehr Intensität des Erlebens durch optische und räumliche Wirkungen, mehr eigenes Mitwirken, das sei der Königsweg. In Vergessenheit gerät ob dem Wedeln mit den zeitgeistigen Vokabeln die Hauptsache – die Musik als Kunst eben, die sich ja, die Pandemie und ihre Folgen jetzt einmal ausgenommen, keineswegs in einer Sackgasse befindet, vielmehr zu voller Blüte gebracht werden kann und die ganze Zukunft vor sich hat. Wer zuzuhören in der Lage und dazu bereit ist, wird es rasch feststellen. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt es dort: beim Zuhören.

So gedacht bei der Begegnung mit einer drei Compact Disc umfassenden Produktion der Deutschen Grammophon, die selbstverständlich auch auf den einschlägigen Plattformen im Netz verfügbar ist. Zum 250. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr, so nahm es sich der Pianist Krystian Zimerman vor, wolle er die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens einspielen. Und dies gemeinsam mit Simon Rattle, der zurzeit noch dem London Symphony Orchestra vorsteht und diese Formation in grossartiger Weise vorangebracht hat. So setzten sich mitten in der Pandemie die Orchestermitglieder an weit auseinanderliegenden, von transparenten Schutzwänden umgebenen Pulten, der Dirigent und der Solist in der zum Probenraum umgebauten Londoner Kirche St Luke’s vor die Mikrophone. Was sie dort, es liegt nun genau ein Jahr zurück, zustande gebracht haben, ist eine Sensation. Sie zeugt von der Vitalität der Musik Beethovens und vom ungebrochenen Potenzial, über das die Kunst der Interpretation im besten Fall verfügt.

Die Klavierkonzerte Beethovens hat Krystian Zimerman schon einmal eingespielt: 1989 mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein, nach dem Tod des Dirigenten 1990 mit dem Orchester allein. Respektabel war das, mehr nicht. Ein zweiter Anlauf mit dieser vom Pianisten über alles geliebten Musik lag darum nahe, zumal angesichts der Suche nach dem Besseren, die Zimerman mit nicht nachlassender Intensität umtreibt. Dazu kommt, dass sich die interpretatorischen Rahmenbedingungen in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben – die jüngst an dieser Stelle besprochene Aufnahme zweier Klavierkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts durch Olga Pashchenko und das Orchester Il Gardellino (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 10.11.21) mag in besonderer Weise davon zeugen. Zu Vertretern der historisch informierten Aufführungspraxis sind weder Zimerman noch Rattle geworden, doch ist nicht zu überhören, in welchem Masse Spurenelemente dieses bedeutenden ästhetischen Richtungswechsels in das Denken und das Tun der beiden Musiker eingedrungen sind. Das ist es, was dieser Aufnahme der Klavierkonzerte Beethovens, die aufs erste Anhören hin doch ganz und gar auf dem Boden des Hergebrachten zu stehen scheint, das besondere Gewürz beimischt.

Zimerman spielt auf seinem eigenen Flügel, offenkundig einem Steinway, aber Klaviertechniker, der er ebenso sehr ist, verwendet er verschiedene, unterschiedliche Tastaturen. Für das lyrische G-dur-Konzert, das vierte, setzt er auf eine Tastatur, die den Klang etwas in die Richtung eines Hammerklaviers aus der Zeit Beethovens bewegt – wer vom Finale des dritten Konzerts, c-moll, in den Kopfsatz des vierten einsteigt, bemerkt es auf Anhieb. Das sind Modifikationen der feinen Art, aber sie wirken sich aus, genau so wie es die Anleihen an den Manieren des frühen 19. Jahrhunderts tun. In dieser zweiten Aufnahme zieht Zimerman die Musik weitaus weniger durch als noch in der ersten; er nimmt sich Freiheiten in der Tempogestaltung und nützt sie dazu, Ausdruck, bisweilen gar sprechendem Ausdruck zu erzielen. Besonders deutlich wird das im Finalsatz des Es-dur-Konzerts, des fünften, wo er das Geschehen, auch dank geschärfter Artikulation, aufregend zuspitzt. Schon das eröffnende Allegro weist in diese Richtung. Die gebrochenen Akkorde stellt er mit aller Brillanz heraus, tut es zugleich aber klanglich feinfühlig – wie auch die Akzente deutlich gesetzt, durch die sofortige Zurücknahme der Lautstärke aber gleich relativiert werden. Heroisch, gar kaiserlich, ist hier nur die Widmung.

Auffällig ist hier, und zwar im langsamen Satz, das ausgeprägte Vibrato der hohen Streicher. Es klingt so besonders, als wären die Wiener Philharmoniker am Werk – nur wird es vom London Symphony Orchestra nicht durchgehend, sondern explizit zu expressiven Zwecken eingesetzt. Denn vorherrschend bleibt bei Simon Rattle das Non-vibrato, auch das die Übernahme einer Praxis aus der Zeit Beethovens. Was für überirdisch schöne Momente die sogenannten geraden Töne hervorbringen, lässt das G-dur-Konzert hören; der Abschluss des zweiten Satzes sucht seinesgleichen, und die solistischen Einwürfe des Cellos im Finalsatz finden ganz besondere Eindringlichkeit. Überhaupt ist das von Rattle ebenso phantasievoll wie sorgsam angeführte Orchester mit letzter Präsenz bei der Sache; nicht nur schmiegt es sich, wie Zimerman im Booklet formuliert, wie ein Handschuh an den Solisten an, es trägt auch dessen leichten, unpathetischen, spielfreudigen Ton aktiv mit.

Vorgegeben wird dieser lustvolle Zugang durch das erste Konzert, jenes in C-dur, das eigentlich das zweite ist. Für sich selbst als Solisten geschrieben, wartet Beethoven hier mit manch überraschendem Effekt auf – mit geistreichen Einfällen, denen Zimerman nichts schuldig bleibt. Flüssig geht er das Allegro con brio des Kopfsatzes an; die aufschiessenden Läufe bringt er zum Blitzen, und stürzt dann einer herunter, so gerät das zu einem Elementarereignis. Erstaunlich nicht zuletzt das Konzert in c-moll, das dritte der Reihe. Feierlich kommt es im daher, aber in subtil modelliertem Klang – wie wenn der Konzertflügel ein Fortepiano wäre. Die Oktaven singen, das Staccato springt geschmeidig, die Gewichte innerhalb der Takte sind bewusst gestaltet. Und der Mittelsatz in der entlegenen Tonart E-dur entfaltet sich ausgesprochen poetisch.

Nichts ist in dieser Auslegung der Klavierkonzerte Beethovens auf spektakulären Effekt ausgerichtet, zu entdecken gibt es aber mehr als genug. Aller Tage Abend ist für die Musik als Kunst also noch lange nicht.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1 bis 5. Krystian Zimerman, London Symphony Orchestra, Simon Rattle (Leitung). Deutsche Grammophon 4839971 (3 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Neue Musik, neu gedacht?

Das Lucerne Festival Forward – zum ersten Mal

 

Von Peter Hagmann

 

Der Schock war beträchtlich, als das Lucerne Festival im Frühjahr 2019 bekanntgab, sowohl das Osterfestival als auch das herbstliche Klavierfestival aufgeben zu wollen. Dies umso mehr, als beide Festivals in der Programmgestaltung zwar gewisse Ermüdungserscheinungen zeigten, insgesamt aber gut positioniert und im Publikum beliebt waren. Warum also die strategische Neuausrichtung? Die Frage ist bis heute offen. Wie auch immer, das Klavierfestival wurde flugs und mit Erfolg vom Luzerner Sinfonieorchester übernommen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.11.21). Das Lucerne Festival wiederum hat sich inzwischen auf seinen Nebengeleisen neben der Hauptsache im Sommer neu ausgerichtet. Und zwar mit einer Fokussierung auf das Lucerne Festival Orchestra und die Lucerne Festival Academy, jene zwei mit Hilfe von Claudio Abbado und Pierre Boulez gebildeten Gründungen, mit denen Michael Haefliger als Intendant das Gesicht des Lucerne Festival neu gezeichnet hat.

Fortan gibt es im Frühjahr anstelle des Osterfestivals jeweils eine Residenz des Lucerne Festival Orchestra und seines Chefdirigenten Riccardo Chailly. In den nächsten zwei Jahren werden hier die Sinfonien von Felix Mendelssohn Bartholdy in ihrem musikalischen Umfeld präsentiert, und das im Rahmen zweier Orchesterkonzerte und eines Kammerkonzerts mit Mitgliedern des Orchesters. Die Klavierwoche dagegen wird ersetzt durch ein Wochenende unter der Bezeichnung «Lucerne Festival Forward». Neue Wege in der Gestaltung von Musik, in der Ausarbeitung von Programmen, in der Entwicklung von Präsentationsformen sollen hier erprobt werden.

Nicht zuletzt geht es dabei um die Auflösung scheinbar feststehender Grenzen – zwischen vorne und hinten im Raum, zwischen den Ausführenden auf dem Podium und den Zuhörenden im Saal, zwischen dem Konzeptentwerfer als Auftraggeber und den Realisatoren als dessen Auftragnehmern. Genutzt werden soll hier das weitgespannte Netzwerk aller Absolventinnen und Absolventen der Lucerne Festival Academy, wie es schon das Lucerne Festival Contemporary Orchestra vorführt. Vonseiten des Festivals ziehen Felix Heri als der neue Leiter der Abteilung «Contemporary» und der Dramaturg Mark Sattler mit seiner langjährigen Erfahrung die Fäden. Kreiert haben die erste Ausgabe des Lucerne Festival Forward aber 18 Mitglieder des Netzwerks aus allen Herren Ländern, die sich in der Vorbereitung über Video-Konferenzen ausgetauscht haben. Der Programmgestalter ist tot, es lebe das Team – der Ansatz wird in immer mehr kulturellen Institutionen gelebt, hierzulande zum Beispiel in verschiedenen Theatern mit mehrfach besetzten Direktionen.

So begab man sich denn durch den Novembernebel ins KKL Luzern, zeigte das Zertifikat und die Identitätskarte vor – und sah sich unversehens inmitten einer Gruppe junger Menschen, die alle denselben Ton summten, mit der Zunge schnalzten und zuckende Bewegungen vollführten. «TICK TOCK iiiiii» nannte sich die, pardon, etwas kindliche Einführung in den Abend, die sich Winnie Huang, die chinesisch-australische Geigerin und Bratscherin, Performerin und Komponistin hatte einfallen lassen. Wie die Nager dem Rattenfänger von Hameln überliess man sich dem Sog in Richtung Konzertsaal. Dort blieb noch ein kurzer Moment, um den QR-Code aufs Taschentelefon herunterzuladen und auf diesem Weg einige Informationen zum ersten Konzert des Forward-Wochenendes zu ergattern.

Nicht ganz einfach, dies Unternehmen. Man konnte aber auch im Analogen bleiben und sich an einen Flyer halten. Dort war von Markus Güdel zu lesen, der die Steuerung des Lichts im Saal entworfen hat, oder von dem jungen argentinischen Dirigenten Mariano Chiacchiarini, der sich für seinen Kurzauftritt beim Eröffnungsabend zum neuen Luzerner Zukunftsfestival eines ausgesprochen altmodischen Instruments bediente: eines Taktstocks. Nur: Wer genau im Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra mitwirkte – wo es zum Teil Anspruchsvolles zu bewältigen gab –, das wurde nicht mitgeteilt. Und schon war da wieder dieses Summen – denn inzwischen hatte «Water and Memory» für sechs Frauen und sechs Männer der Neuseeländerin Annea Lockwood begonnen, eine Abfolge des Wortes «Wasser» in Hindi, Thai und Hebräisch. Alles sehr leise, da galt es die Ohren zu spitzen, was guttat. Nach einer Viertelstunde wurde das kleine, aber willige Publikum zum Mitsummen eingeladen: Jekami, wie es im Buche steht, und bitte so entspannt wie im Yoga-Kurs. Herrlich.

Bruchlos ging es weiter zu «Artificial Life 2007» des Amerikaners George Lewis. Das Stück ist kein Stück, sondern eine Anleitung zum Improvisieren. Ein wenig wie in Werken der Offenen Form aus der Mitte des 20. Jahrhunderts oder wie in den «Europeras» von John Cage sind auf zwei Blättern Handlungsanweisungen festgehalten, die von den Ausführenden in diesem Fall nicht spontan, sondern reflektiert und kontrolliert ausgewählt und ausgeführt werden sollen. Im klanglichen Ergebnis erinnerte hier eine Passage an die Punktuelle Musik des jungen Karlheinz Stockhausen, dort eine andere an Helmut Lachenmann und seine Sprache der Geräusche. Etwas viel von gestern, gar wenig für morgen – «Forward»?

Den einzigen Beitrag von Format steuerte an diesem Abend Liza Lim bei, die Australierin chinesischer Herkunft, die längst zur Weltbürgerin geworden ist. «Extinction Events and Dawn Chorus», ein 2018 für das Klangforum Wien geschriebenes Werk, ist engagierte Musik, aber nicht zorniges Schreien, nicht musikalisches Transparent, sondern äusserst gedankenreich erfundene und mit Lust am Spiel umgesetzte Kunst. Die Sorge der 55-jährigen Komponistin gilt der Art und Weise, wie wir unseren Planeten ruinieren und uns selbst ausrotten; am Ende lässt sie aber auch einen Schimmer an Hoffnung aufscheinen. Die Fische spielen ihre Rolle und die Plastikabfälle, die wir ihnen zum Frass vorsetzen. Ein grosses Stück Plastik wird von einer Geigerin aus dem Saal aufs Podium gebracht, dort hat der Schlagzeuger alle Mühe, das Ding unter Kontrolle zu bekommen. Später wird ein Rohr aus Plastik ans Kontrafagott angeschlossen, auf dass das Instrument einen besonders tiefen Ton hervorbringe, wie ihn die Fische in den Tiefen der Ozeane erzeugen. Auch ein Kauai O’o tritt auf, ein ausgestorbener Vogel aus Hawai, dessen Gesang vom Piccolo vorgetragen wird – wie bei Olivier Messiaen, nur war der Franzose diesbezüglich wesentlich weiter.

Das kümmert Liza Lim nicht, arbeitet sie doch bewusst mit Versatzstücken, auch mit solchen älterer neuer Musik, die das fast eine Dreiviertelstunde dauernde Werk in ganz eigener Weise verarbeitet. Momente der Ausweglosigkeit zeigen sich da – etwa dann, wenn eine Geigerin einem Trommler etwas vorspielt und der auf einer zwischen sein Instrument und einen Schlägel gespannten Saite das Vorgespielte nachzuahmen versucht. Am Ende dämmert im Gesang der Fische das Morgenrot der Hoffnung; aufgeben mag Liza Lim nicht – das löst trotz einer gewissen Naivität der Aussage Berührung aus. Allein, leicht zu hören und zu verstehen ist diese Musik nicht – war es trotz dem fulminanten Einsatz des zwölfköpfigen Ensembles nicht. Die Hermetik der alten Avantgarde, der nur das Unverständliche gut genug war, feiert hier fröhlich Urständ. Geholfen hat eine Webseite, die eigens zum Lucerne Festival Forward aufgeschaltet war. Sie enthielt unter anderem Vorstellungen der Werke durch ihre Komponistinnen und Komponisten – meist auf Englisch, aber durchgehend mit Untertiteln in Deutsch.

Das also war das erste Konzert des Lucerne Festival Forward, und nur darum geht es hier. Es folgten drei weitere Konzerte, die sich alle um Vernetzung, Partizipation, Räumlichkeit drehten – Themen, die in der Luft liegen, im grossen Betrieb der neuen Musik aber noch nicht wirklich angekommen sind. Ihnen nachzugehen ist eine gute Idee, auch wenn dabei manche Frage offenbleiben musste. Ob das Fallenlassen von Reiskörnern auf unterschiedliche Materialien durch vier Instruktoren und zwölf Mitmachern aus dem Publikum der neuen Musik den dringend benötigten Energieschub verleiht? Es darf dahingestellt bleiben. Aller Anfang ist schwer, darum dürfte in den Verlautbarungen des Lucerne Festival der Mund etwas weniger voll genommen werden. Die neue Musik wird auch in Luzern nicht neu erfunden werden. Nach ihr zu suchen, lohnt sich aber allemal.