Der Mann, der aus dem Cheminée kam

«Perelà» von Pascal Dusapin am Luzerner Theater

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Die Musik ist erkennbar von heute – kein Wunder: «Perelà» von Pascal Dusapin ist 2003 an der Pariser Oper aus der Taufe gehoben worden. Aber was der 66-jährige Franzose erdacht hat, klingt so wohl, dass eingefleischte Avantgardisten die Augenbrauen heben; die neue Musik aus Frankreich trägt eben, man denke nur an die Spektralisten, bei allem strukturellen Bewusstsein doch ausgesprochen freundliche Züge. Phantasievoll und verspielt, anregend und sinnlich, so erscheint «Perelà» auch in Luzern, wo das Theater Dusapins Stück auf dem Spielplan hat. Wie das? Gibt es Platz im Graben des kleinen Hauses an der Reuss für das opulent besetzte Orchester, das Dusapin in der fünften seiner bisher neun Opern verlangt? Natürlich nicht, aber der französische Dirigent Franck Ollu, ein Spezialist der neuen Musik, hat eine reduzierte Orchesterfassung erstellt, die dem Original, so die Erinnerung nicht trügt, in keiner Weise nachsteht. Unter der Leitung des Mainzer Generalmusikdirektors Hermann Bäumer hat es das Luzerner Sinfonieorchester in blendendem Farbenreichtum hörbar gemacht.

Bäumer wurde gerufen, weil er schon 2015 am Pult stand, als die nun in Luzern gezeigte Produktion im Staatstheater Mainz herauskam. Mit Bäumer im Boot war damals die Regisseurin Lydia Steier, die inzwischen in Luzern die Opernsparte mitbetreut und hier für die Übernahme ihrer Mainzer Inszenierung plädiert hat. Ausgezeichnete Idee; wer dieser Produktion nicht begegnet ist, hat fürwahr etwas verpasst. Perelà, so nennt sich der Protagonist in dem vom Komponisten selbst geschriebenen Libretto nach einem Roman von Aldo Palazzeschi, ist zwar nichts als Schall und Rauch, lässt das aber in denkbar zauberhafter Weise erleben. Nachdem das Feuer, das ihn erzeugt hat, erloschen ist, steigt der Rauch mit dem seltsamen Namen kurzerhand aus dem Kamin, schwebt zu Boden und findet dort zwei Märchenstiefel vor, die ihn mit der Schwerkraft verbinden. Was er auf der Erde erlebt, verwundert, entzückt, erschreckt ihn und endet derart nicht zu seinem Guten, dass er sich flugs wieder in die Lüfte erhebt.

Splitternackt steht Ziad Nehme, der mit seiner biegsamen, samtenen Stimme leicht und mühelos in luftige Höhen steigt, auf der Bühne – was nicht nur einen kleinen Schreck auslöst, sondern ganz und gar der Situation entspricht: Als Mensch gewordener Rauch ist er bar jeder Erfahrung. Genau das macht ihn so interessant für den Hofstaat in der kleinen, engen Residenzstadt, in der sich Perelà, inzwischen mit einer Hose versehen, unter lauter Edelleuten findet. Eine prächtig ausstaffierte Gesellschaft wird hier vorgeführt, Damen wie Herren mit mächtigen Stirnen, immensen Frisuren und aufgeplusterten Bekleidungen – der Kostümbildner Gianluca Falaschi hat hier ganze und herrliche Arbeit geleistet. Da gibt es zum Beispiel eine Königin, die einen Vogel hat – nein, deren zwei: einen Papagei (Nora Bertogg), der als einziges das Wort «Dio» dazwischenzukrächzen weiss, und einen stummen in einem Käfig, den die Dame auf ihrem Kopfe trägt. Immens die Schleppe, Perelà muss sie immer wieder zurechtlegen. Und grandios die Gesangskunst wie die Körpersprache, mit denen Misaki Morino glänzt.

Umgeben ist die Königin von einem König, der ihr, da noch ein Knabe, nicht einmal bis zum Kinn reicht, von einem kräftig dem heiligen Wein zusprechenden Erzbischof (Georg Bochow) und manch anderen schrägen Figuren – erstaunlich, was das wunderbare Ensemble, aber auch der von Mark Daver einstudierte Chor hier bieten. Alle bewegen sie sich auf der Drehbühne, die nicht nur um die eigene Achse kreist, sondern sich auch in ihrem Inneren bewegt. Der Bühnenbildner Flurin Borg Madsen hat für den Abend ein gewaltig in die Höhe strebendes Gestell entwickelt, das hier die Fassade des Schlosses, dort eine breite Treppe sehen lässt – alles farbenfroh und diskret von Herren aus der Bühnentechnik gesteuert. In diesem Ambiente kommt es dann zum Ende mit Schrecken. In seinem Bestreben, ganz so wie der bewunderte Perelà zu werden, zündet sich der älteste Diener des Königs (Vladyslav Tlushch) eigenhändig an, wird aber zu Kohle statt zu Rauch, was den Hofstaat gegen Perelà aufbringt. Eine Gerichtsverhandlung wird anberaumt, sie steht unter der Leitung eines monströsen Richters (Christian Tschelebiew). Wie das Urteil trotz der Verteidigung durch die Marquise Bellonda (Marcela Rahal) ausfällt, ist leicht zu erraten – Perelà, den Rauch, kümmert es wenig. So einfach ist es im Märchen. Und kann es sogar in einer Oper aus der jüngsten Vergangenheit sein.

Achtzig Jahre jung

Der Dirigent Matthias Bamert beim
Musikkollegium Winterthur

 

Von Peter Hagmann

 

Das waren noch Zeiten. Damals, als das Lucerne Festival noch die Internationalen Musikfestwochen Luzern waren, der Konzertsaal noch nicht von Jean Nouvel stammte, sondern von Armin Meili, als der Intendant noch ein einfacher Direktor war – ja noch einfacher, nämlich zugleich auch der Hausmeister im blauen Übergewand. Mit einer Leiter von bedeutender Grösse über einer Schulter schob sich der Techniker, der eine irritierende Ähnlichkeit mit dem Direktor der Musikfestwochen erkennen liess, in den taghellen Saal, in dem sich eine grosse Schar Journalisten niedergelassen hatte (gross war die Schar, weil ein Apéro riche angekündigt war und auf den Tischen im Hintergrund schon die prallvollen Tragtaschen mit den begehrten CDs bereitstanden). Er müsse hier noch eine defekte Glühbirne ersetzen, beschied der Mann in der blauen Latzhose. So klappte er seine Leiter auf, stieg in luftige Höhe, machte sich dort aber nicht an einer Deckenlampe zu schaffen, sondern begann zu lamentieren: zur Hauptsache über seinen Chef, besagten Direktor der Musikfestwochen. Auch aus dem Nähkästchen plauderte er – und verriet einige Pläne, die er wohl kaum hätte ans Licht bringen dürfen.

So ist Matthias Bamert: stets zu einem Scherz bereit, selbstironisch, unaufgeregt sachbezogen, ja von geradezu britischem Understatement. Obwohl: Er ist Schweizer, Berner gar. Aber ein Schweizer mit reichlichster Auslanderfahrung – wie es bei Musikern aus diesem Land mit seinem Holzboden der Fall sein muss. Seine Ausbildung, zunächst zum Oboisten, erhielt er in seinem Heimatland, dann jedoch ist er ausgeschwärmt: nach Darmstadt, wo er auf Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen stiess – denn im Grunde wollte Bamert Komponist werden. Erst musste freilich die Existenz gesichert werden: Vier Jahre lang, ab 1965, wirkte er als Solo-Oboist beim Mozarteumorchester Salzburg, von dort aus wagte er dann den Sprung aufs Dirigentenpodium. In Cleveland verdiente er seine Sporen ab, bei Grössen wie George Szell, Leopold Stokowski, Lorin Maazel. Das war die Basis für eine glänzende Laufbahn als Dirigent; ihre Schwerpunkte liegen im angelsächsischen Raum wie im Fernen Osten. Gegenwärtig steht er als Chefdirigent vor dem Sapporo Symphony Orchestra; vor zwei Jahren ist sein Vertrag bis 2024 verlängert worden. Viel hat er gesehen und gehört in Grossbritannien und den USA, in Japan, in Australien und Neuseeland, selbst in Malaysia, wo ihm nach Massen hofiert wurde. Dafür brauchte es auch einen Wohnsitz mit ausgebauter Verkehrsanbindung – einen in London. Inzwischen lebt er wieder in der Schweiz, im Tessin.

Ja, die Schweiz. Auch hierzulande hat Bamert seine Spuren hinterlassen, und wie. Zwischen 1977 und 1983 war er als Chefdirigent beim Radio-Sinfonieorchester Basel tätig und trug dort massgeblich zur Konsolidierung des 1970 von Zürich nach Basel transferierten Klangkörpers bei. Ungewöhnliches ereignete sich damals. Zusammen mit dem Fernsehregisseur Adrian Marthaler und unter den Auspizien von Armin Brunner, dem seinerzeitigen Leiter der Musikabteilung beim Deutschschweizer Fernsehen, realisierte Bamert zahlreiche Filme mit Auftritten des Orchesters in ungewöhnlicher Umgebung, zum Beispiel in einem trockengelegten Schwimmbassin. Ausserdem führte er als einer der Ersten in der Branche die Arbeit mit Kindern und für Kinder ein – im moderierten Konzert wie im Fernsehen, für das er eine weitherum beachtete Serie von Produktionen erstellte. Unkonventionell war das alles. Im braven Schweizer Musikbetrieb wurde es, obwohl es auf merklichen Erfolg stiess, mit herablassender Skepsis beobachtet.

In die Geschichte eingeschrieben hat sich Bamert nicht zuletzt durch sein Wirken als Direktor der Internationalen Musikfestwochen Luzern in den Jahren 1992 bis 1998.  Mit den Zwängen, die mit den für das Festival zentralen Orchestergastspielen verbunden waren, hatte er seine liebe Mühe. Zum Ausgleich pflegte er und schuf er zahlreiche Nebenschauplätze: die Uraufführungen von Kompositionsaufträgen, Late-Night-Konzerte und Matineen mit musikalisch interessierten Schriftstellern in der Meggener St. Charles Hall, das Osterfestival und das herbstliche Klavierfestival, nicht zuletzt das Strassenmusikfestival. Vor allem aber wirkte er diskret auf den Bau des KKL ein; er plädierte für den Beizug des Akustikers Russell Johnson und er bot 1997, als der Meili-Bau abgerissen und das KKL noch nicht vollendet war, den einzigartig stimmungsvollen Sommer in der Von-Moos-Stahlhalle in Emmen, die sich in einem Triebwagen der SBB über ein Industriegeleise erreichen liess. Nach der feierlichen Eröffnung des KKL zog er sich von der Luzerner Aufgabe zurück, um wieder als Musiker zu arbeiten.

Jetzt wird Matthias Bamert doch tatsächlich achtzig. Niemand gibt ihm sein Alter. Schlank und aufrecht steht er da, energiegeladen und noch immer mit seinen kleinen Sprüngen auf dem Podium führt er durch die Musik, dabei stets nur auf das Notwendige in der Zeichengebung konzentriert – so war es jüngst an einem Abend zu erleben, zu dem ihn das Musikkollegium Winterthur verdienstvollerweise eingeladen hat. Das Orchester reagierte mit einer durchs Band fabelhaften Leistung. Das Programm aber, es trug ganz klar die individuelle Handschrift des Dirigenten. Zur Eröffnung die Ouvertüre zur Oper «Dame Kobold» von Joachim Raff, eine Verbeugung vor einem zu Unrecht im Schatten stehenden Schweizer Komponisten des 19. Jahrhunderts. Spannender und witziger als gedacht klang das Stück, und einmal mehr konnte man sich fragen, warum in Schweizer Konzertsälen das Eigengewächs so schamhaft verborgen wird.

In der Mitte zwei Stücke Wolfgang Amadeus Mozarts, die nicht eben häufig gespielte Linzer Sinfonie in C-dur (KV 425) und das Divertimento in D-dur (KV 136), ein Stück gehobener, äusserst phantasievoller Unterhaltungsmusik des 16-jährigen Wunderkinds. Die beiden Werke liessen sich rasch als Fingerzeig auf die eigene Vita des Dirigenten erkennen. Lange Zeit arbeitete Bamert mit den London Mozart Players zusammen, 1993 bis 2000 gar als ihr Leiter. In diesem Tätigkeitsfeld hat Bamert besonders nachhaltige Resonanz erzielt. Ohne Zahl sind die CD-Aufnahmen und die Radio-Mitschnitte. Wann immer man einen in- oder ausländischen Sender aufschaltet und dort ein mehr oder weniger bekanntes Stück aus der Zeit der musikalischen Klassik angekündigt wird, kann man sicher sein, dass der Name Matthias Bamerts und der London Mozart Players fällt.

Unerschrocken hat er sich ein halbes Leben lang mit diesem von manchem Musiker gefürchteten Repertoire beschäftigt – ohne Anbiederung an die historisch informierte Aufführungspraxis, aber auch ohne trotzigen Widerstand gegen sie. Die Spuren der Beschäftigung mit dieser für die Entwicklung der musikalischen Interpretation so zentralen ästhetischen Richtung sind klar zu erkennen, zugleich ist die Verbindung mit jener hergebrachten Tradition, in welcher der Dirigent aufgewachsen ist und nach wie vor lebt, nicht zu überhören. Die Kombination macht es aus, sie bildet den Kern des interpretatorischen Profils Bamerts. Satt und kompakt, aber auch federnd und deutlich phrasiert der Streicherklang, pointiert, doch nicht aufgesetzt die Färbungen durch die Bläser in der Linzer Sinfonie. Auf dieser Basis liess sich mit dem D-dur-Divertimento ein Ausschnitt aus dem Schaffen Mozarts wiederentdecken, das leider tief unter dem Tisch liegt.

Schliesslich mit zwei Kompositionen aus dem frühen 20. Jahrhundert ein fulminanter Kehraus. Auch dies eine gleich zweifache Anspielung an den musikalischen Kosmos des Dirigenten. Matthias Bamert eignet eine ganz persönliche Nähe zur neueren, ja zur neuen Musik; zahlreiche Uraufführungen von Werken unterschiedlicher Ausrichtung hat er dirigiert, in den späten achtziger Jahren leitete er das Glasgow Contemporary Festival, und unvergessen ist der Basler Musikmonat von 2001. Noch deutlicher spürbar ist Bamerts Abneigung gegen den tierischen Ernst in der musikalischen Kunst; wenn er seinem Publikum ein Schnippchen schlagen kann, dann tut er es – mit schelmischer Lust. Darum gab es in Winterthur «General William Booth Enters into Heaven», eine ganz und gar unangepasste Schöpfung des Amerikaners Charles Ives von 1914, in der sich der Bariton Dean Murphy bewährte. Und folgte ein weiteres Divertimento, nämlich das freche Divertissement des Franzosen Jacques Ibert von 1930. Frisch fröhlich und zugespitzt wurde diese Musik dargeboten, das Amusement war perfekt. Grosser Beifall als eine vorgezogene und darum verbotene Gratulation an einen Musiker, der gewiss noch Manches im Kopf und im Kalender hat.

In der Männerwelt

«Mazeppa» von Peter Tschaikowsky in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Suzanne Schwiertz, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Die Koinzidenz hätte brutaler nicht sein können. In der Ukraine die Panzer der Invasoren aus Russland, im Stadttheater Biel, das aus gegebenem Anlass in den ukrainischen Nationalfarben erstrahlte, eine Oper, die genau diese Situation thematisiert: den machtgierigen Mann und eine schwierige Nachbarschaft. «Mazeppa» von Peter Tschaikowsky berichtet von einem ukrainischen Nationalhelden des 17. Jahrhunderts, der es am russischen Zarenhof Peters des Grossen in höchste Positionen geschafft hatte und dort ein grausames Regime führte, der sich dann aber vom Zaren abwandte, sich mit dem schwedischen König Karl XII. zusammentat und die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland zu erkämpfen suchte – was freilich misslang. Tschaikowsky, der sich ein Libretto von Viktor Burenin selber einrichtete, verband das kriegerische Geschehen mit einer Liebesgeschichte, welche die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Spannungen im Privaten spiegeln.

«Mazeppa» ist etwas für grosse Häuser. Das Orchester ist reich besetzt, und heftig ist der Ton der Partitur. Umso erstaunlicher, dass es sich Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, nicht nehmen liess, die Oper in seinen beiden ausgesprochen kleinen Häusern herauszubringen. Möglich wird das nur, wenn die Orchesterbesetzung massiv verkleinert wird. Anders als bei «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók, wo der deutsche Dirigent Eberhard Kloke für eine anregende Einrichtung der ebenfalls mit grosser Orchesterbesetzung arbeitenden Partitur gesorgt hatte (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) war hier, bei «Mazeppa», Francis Griffin am Werk; der Blick in den Orchestergraben zeigte fünf Erste Geigen – und so klang es denn auch: bläserlastig und kantig. Das muss nicht sein, die Produktion von «Mazeppa» 2006 in Lyon hat deutlich gemacht, was in der Partitur steckt; der junge Kirill Petrenko zauberte damals einen gewiss bisweilen lauten, insgesamt aber in betörender Farbenvielfalt schimmernden Klang aus dem Orchestergraben.

Yannis Pouspourikas, dem neuen Chefdirigenten des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, ist das nicht gelungen. Aufbrausendes Temperament schien ihm die Hauptsache, weshalb die Lautstärke mehr als einmal an die Schmerzgrenze ging und es an Feinarbeit fehlte – nicht zuletzt aber auch an der Präzision des Zusammenspiels. Erst das überraschende, ganz leise Ende der Oper liess hören, was im Orchester auch noch denkbar gewesen wäre. Mag sein, dass Pouspourikas, der mit dieser Produktion seinen Einstand als Operndirigent gab, sich noch in die räumlichen Gegebenheiten wird einleben können – hier dominierte der Eindruck, die Methoden der musikalischen Darstellung würden eins zu eins aus einem grossen Staatstheater übernommen. Auch die Sängerinnen und Sänger gaben oftmals viel zu viel, sie erreichten rasch und immer wieder dynamische Spitzen, die störend und unschön über die Grenzen des Sinnvollen hinausgingen. Das zu verhindern und für handwerklich professionelle Balance zu sorgen, wäre die Aufgabe des Dirigenten und der Korrepetitoren gewesen.

Ausnahmen gab es. In der Partie der Ljubov, der Gattin des reichen Gutsbesitzers Kotschubej, liess Jordanka Milkova ihren warm timbrierten Mezzosopran frei strömen, ohne jeden Druck auch in Momenten der Expansion. Und als der junge, unglückliche Liebhaber Andrej machte Igor Mozorov mit einem klangvollen Tenor auf sich aufmerksam. Die beiden Herren Kontrahenten, Aleksei Isaev als Mazeppa und Askar Abdrazakov als dessen Freund, später als dessen Widersacher Kotschubej gingen zu Werk, als stünden sie im Bolschoi, so dass die stimmlichen Qualitäten, die beide Sänger einbrachten, kaum zu erkennen waren. Gewiss, in Osteuropa herrscht eine spezifische, ganz und gar eigenartige Kultur des Starkgesangs, die in ihrer Weise zu Tschaikowsky passt; in einem Haus wie dem Stadttheater Biel müsste damit jedoch äusserst sorgfältig umgegangen werden. Leider wurde auch Eugenia Dushina in der Partie der Maria nicht sachgerecht angeleitet; auch sie ging zu wenig ausgefeilt mit der Dynamik um, während ihr das Versinken Marias in den Wahnsinn am verstummenden Ende der Oper nicht auf der Höhe ihres sehr wohl wahrnehmbaren Vermögens gelang.

Das alles ereignete sich in einer Inszenierung, die ihren retrospektiven Ansatz konsequent durchhielt, zugleich aber manche Frage offen liess. Als Regisseur hatte sich der Hausherr Dieter Kaegi für einen Bühnenrealismus entschieden, der nicht wirklich auf die Bieler Bühne passt (und für Solothurn dürfte dasselbe gelten). Die Idylle, die der Ausstatter Dirk Hofacker für den Beginn auf die Bühnenrückwand projizieren liess, wirkte verniedlichend, die belebten Massenszenen mit dem von Valentin Vassilev geleiteten Chor litten unter räumlicher Enge. Ob die Folterszene, bei der dem Opfer Fingernägel ausgerissen werden, so explizit gezeigt werden muss, wie es hier geschah, mag dahingestellt bleiben. Andere Details – etwa die Hingabe, mit der Mazeppa die Zimmerpflanzen pflegt, bevor er die Todesurteile unterzeichnet – schufen dagegen intensive Denkanstösse. Und das Schlussbild, das die Landschaft des Anfangs aufnimmt, sie nun aber als Ruine zeigt, fuhr angesichts der aktuellen Bilder aus der Ukraine gewaltig ein.

Die Elektramaschine – im Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève

Der italienische Stil der Operninszenierung füllt den Raum mit Bebilderungen – zumal mit solchen, welche die Anweisungen der Librettisten und Komponisten getreulich umsetzen; «Bohème» ohne Pariser Dachstüberl ist dort unmöglich. Gerade umgekehrt ist es beim deutschen Regietheater; hier wird die Bühne jenseits aller Vorgaben in der Partitur durch Zeichen eigener Erfindung im Geiste deutender Intention angereichert. Das Gegenmodell dazu bildet der leere Raum, nicht jener von Peter Brook, aber etwa jener von Robert Wilson, der sich, um dies Beispiel auszudenken, für Wagners «Parsifal» mit einem am Boden liegenden Speer aus Neonlicht und seiner ausgeprägten Gestensprache begnügt. Eng mit dem leeren Raum verbunden, so scheint mir, ist das Bildertheater neuerer Art, wie es Pierre Audi in vielen seiner Inszenierungen für die Amsterdamer Oper, besonders in jener von Wagners «Ring», so virtuos gepflegt hat.

Im Gegensatz zum bebildernden Theater italienischer Provenienz, auch anders als das Regietheater, füllt dieses Bildertheater nicht den Raum, es lässt ihn vielmehr erst als solchen entstehen und wahrnehmen. Indem es nämlich von der Leere ausgeht und mit wenigen, grossformatigen Elementen die Umrisse schafft, innerhalb derer sich die Darstellerinnen und Darsteller bewegen. Genau das verfolgt der deutsche Bühnenkünstler Ulrich Rasche. Für seine Inszenierung von «Elektra», dem Schauspiel Hugo von Hofmannsthals, 2019 am Münchner Residenztheater erfand er eine stählerne Bühnenskulptur, die einen langsam rotierenden Spielort ergab. Dieselbe Einrichtung bestimmt auch Hofmannsthals «Elektra» in der Vertonung von Richard Strauss, seine erste Arbeit für das Musiktheater, zu der er vom Genfer Grand Théâtre eingeladen worden ist.

Zu sehen ist ein kreisrunder, schräg in den Raum fallender Turm von mächtiger Dimension und zugleich filigraner Ausarbeitung. Unter dem Turm befinden sich zwei ebenfalls kreisrunde, schräggestellte Scheiben, die in ihrem äusseren Bereich mit Laufbändern versehen sind. Enorm wirkt diese Konstruktion, zugleich ist sie aber von hoher Beweglichkeit, da sie sich in all ihren Elementen drehen und wenden lässt. Dazu kommt, vom Regisseur und Szenographen zusammen mit Michael Bauer eingerichtet, eine unerhört effektvolle Beleuchtung, die den Bühnenraum in tiefstem Schwarz belässt, die Skulptur jedoch ganz verschiedenartig erhellt und ihre Materialität wandelbar erscheinen lässt. Im Ansatz ist das nicht neu, wenn man an die in den leeren Raum gestellte Schreibe Wieland Wagners denkt, die für die Wiederbelebung der Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg steht. In der Ausfertigung ist es aber einzigartig. Und von hinreissender szenischer Wirkung. Bildertheater eben.

Alles ist da unentwegt in Bewegung, meist in schwieriger, anstrengender Bewegung – es fällt gleich zu Beginn auf, wenn die Mägde, die sich auf der unteren Ebene aufzuhalten haben, in die Situation einführen. Doch auch auf der oberen, der Herrschaft vorbehaltenen Ebene, auf der sich die grossen Konfrontationen ereignen, muss aufs Gleichgewicht geachtet werden. Indes, die Bewegung führt keineswegs zu Fortgang, alles dreht sich im Kreis – im unentrinnbaren Kreis einer blutrünstigen Rache. Verdeutlicht wird das durch den immer wieder abgesenkten Turm, der Klytemnästra und deren Töchter Elektra und Chrysothemis gefangen hält: Dem Fatum, von dem «Elektra» handelt, entweicht niemand. So kommt es auch kaum zu Dramatik – auch dann nicht, wenn sich der alte Diener (Dimitri Tikhonov) vor seinem sich noch bedeckt haltenden Herrn verneigt und wenn Elektra den für tot gehaltenen Bruder Orest wiedererkennt. Wie ein gigantisches Ritual läuft die Oper ab, gleichsam der Zeit enthoben, wie es das Libretto Hofmannsthals anlegt, und doch in anhaltend vibrierender Spannung.

Das gelingt, weil die Inszenierung den Raum schafft, in dem die strukturelle Komplexität und die hochgetriebene Expressivität der Musik von Richard Strauss uneingeschränkt zur Geltung kommen. Jonathan Nott, der Musikdirektor des Orchestre de la Suisse Romande, der an der Genfer Oper keine offizielle Position einnimmt, aber künstlerisch hohen Einfluss ausübt, durchdringt die Partitur bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein mit pulsierendem Leben. Dabei ergibt sich ein Bogen, dessen durch Identifikation erzeugte Intensität in keinem Augenblick nachlässt; gleichzeitig hat Nott für jeden das erforderliche Handzeichen und für jede einen nützlichen Blick bereit. Das grossbesetzte Orchester schont sich in keinem Augenblick; es sitzt an der Stuhlkante und gibt, was es zu geben vermag. Kraftvoll und klangschön, das ist nicht selbstverständlich, die Eruptionen im Fortissimo, rund und warm die Tiefen, hell leuchtend und schimmernd die Momente der Zärtlichkeit, federnd die punktierten Rhythmen auch im grossen Ton. Zu laut ist da nichts, auch an den Stellen der vollen Kraftentfaltung sorgen die Balancierung durch den Dirigenten und die grossartig gewachsene Klangkultur des Orchesters für sinnreiche Grenzziehungen.

So bleibt ausreichend Raum für die vokale Seite, und die erheischt allen Respekt. Die drei Protagonistinnen – sie sind wie alle Mitglieder des grossen Ensembles von den Kostümbildnerinnen Sara Schwartz und Romy Springsguth in schlichtes Schwarz gewandet und mit markanten Korsetts versehen, an denen die zur Besteigung der stählernen Skulptur notwendigen Sicherheitsseile befestigt sind –, die drei Protagonistinnen sind in der Höhe postiert, ihre Stimmen überfliegen den Orchestergraben und bleiben dementsprechend präsent. Tanja Ariane Baumgartner gibt die Klytemnästra mit wohlgrundiertem, gerundetem Mezzosopran und in hohem Mass verständlich, ausserdem fern jener Hysterie, die hier so nahe liegt. Mit hellem Timbre dringt Sarah Jakubiak als Chrysothemis auf ein Leben als Frau. Während bisweilen Ingela Brimberg mit ihrem weiten Ton als eine Elektra von menschlichem Format erscheint – nicht als eine Kranke, sondern als eine Frau, die ganz einfach weiss, was sie will und keinen Schritt davon abweicht. Wunderbar der Orest von Karoly Szemeredy, köstlich der Ägisth von Michael Laurenz. Dass dem Musikalischen in der szenischen Einrichtung von Ulrich Rasche so viel Bedeutung zukommt, wie es bei «Elektra» selten der Fall ist, stellt die eigentliche Wohltat des Genfer Abends dar.

Schreckensmomente in der Vertikale

«Eiger», eine Oper von Fabian Müller und Tim Krohn, in Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Suzanne Schwiertz, Theater Orchester Biel Solothurn

Wer erinnert sich nicht an die Bilder von der Kleinen Scheidegg. Dicht gedrängt stehen die Menschen, gespannt blicken sie durch ihre Feldstecher auf ihn: den Eiger und seine steil abfallende Nordwand. Winzig klein, der extremen Natur ausgesetzt, hängen dort Alpinisten in ihren farbigen Seilen. Ihr Weg führt durch Schreckensorte wie den Eisschlauch, das Bügeleisen und das Todesbiwak hin zum Gipfel auf 3967 Meter über Meer – wenn sie es denn schaffen, wenn sie nicht ausrutschen, von herabfallenden Steinen getroffen, von Gewittern überrascht oder von Lawinen in die Tiefe gerissen werden. Im Sommer 1935 unternahmen die beiden Münchner Max Sedlmayr und Karl Mehringer einen Versuch, die Eigernordwand zu bezwingen. Er endete im Tod der Bergsteiger; zur Rettung taugliche Helikopter gab es damals noch keine. Ein Jahr später stiegen eine deutsche und eine österreichische Zweierseilschaft in die Wand, beide im Zeichen nationalistischen Gedankenguts, die Österreicher zudem Mitglieder der SA. Auch sie scheiterten und bezahlten den Wagemut mit dem Leben. Wenn das kein Stoff für eine Oper ist…

Sagte sich der Schweizer Komponist Fabian Müller, dem es der Eiger ohnehin angetan hatte. 2004 legte er eine Sinfonische Dichtung mit dem Titel des Bergs vor, sie wurde im gleichen Jahr durch das Lettische Nationale Sinfonieorchester unter der Leitung von Andris Nelsons in Interlaken aus der Taufe gehoben. Die Idee, das Orchesterwerk zur Oper werden zu lassen, liess den Komponisten nicht los. Schliesslich bat er den Schriftsteller Tim Krohn, ihm ein Libretto über die Eigernordwandtragödie von 1936 zu schreiben. Herausgekommen ist eine Bühnenvorlage, die es in sich hat. Ganz nah kommen einem die vier Schicksalsgenossen, man erfährt viel über den Mythos dieses Bergs, über Männlichkeit und Ehrgeiz, über das Konkurrenzdenken, über Schicksalsschläge und deren fatale Folgen. Der Tod ist allgegenwärtig. Einer wird von einem Stein getroffen; er verliert die Kraft, wird den anderen zur Last und hängt schliesslich tot an jenem Seil, das seinem Kameraden die Luft abschneidet. Ein dritter wird von einem Schneebrett hinweggefegt, der vierte schafft es am Ende nicht, das rettende Seil zu Hilfe geeilten Bergführers zu greifen. Das alles wird unerhört drastisch geschildert und schafft eine Spannung wie in einem Krimi.

Zumal die Vertonung handwerklich geschickt und äusserst erfindungsreich ihre eigene Erzählebene schafft. Fabian Müller ist in der Volksmusik aufgewachsen und diesem Genre auf vielen Ebenen bis heute treu. Zugleich hat der 1964 geborene Aargauer in Zürich bei Claude Starck Violoncello und bei Josef Haselbach Komposition studiert. Vielfach angeregt wurde er durch Begegnungen in den USA, namentlich beim Aspen Festival, wo er David Zinman kennengelernt hat. Zinman hat ihn kräftig gefördert – und die, wenn man es so generell sagen kann, amerikanische Ästhetik hat ihn erheblich beeinflusst.  Fabian Müller pflegt ein eklektisches Denken – und so erstaunt nicht, dass er keinem der tonangebenden Zirkel angehört. Vor dem Tonalen hat er ebenso wenig Scheu wie vor der Dissonanz. Das kennzeichnet auch seine Oper: die Stilebenen überlagern sich phantasievoll und entwickeln eine ganz eigene Gestik. Dass dem knapp eineinhalbstündigen Einakter eine Sinfonische Dichtung zugrunde liegt, ist nicht zu überhören; das Orchester spielt eine wichtige Rolle, nicht zuletzt in den zahlreichen rein instrumentalen Passagen (beim Bergsteigen kann schliesslich auch nicht pausenlos gesprochen werden). Insgesamt wirkt die Musik fast filmisch untermalend, sie weist aber auch Zeichen auf, die sich als programmatisch empfinden lassen.

So nimmt die im Auftrag von Theater-Orchester Biel-Solothurn vollendete Komposition Fabian Müllers die Attraktivität von Tim Krohns Libretto ungeschmälert auf; der Abend ist jedenfalls im Nu vorbei. An der Premiere im stimmungsvollen Stadttheater Solothurn – die Uraufführung hat vor einigen Wochen in Biel stattgefunden – gelang dem Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn unter der Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder nicht ganz alles, bisweilen herrschte in dem kleinen Raum auch etwas viel Lautstärke; die fassliche, aber nicht einfache Partitur wurde dennoch auf hohem Niveau dargeboten. Besonders eindrucksvoll Alexander Kaimbacher als der heimliche Anführer und bis zuletzt auf Rettung hoffende Toni Kurz. Nichts zu wünschen übrig lässt Robert Koller als der durch seinen gefährlichen Quergang in der Eigernordwand verewigte Deutsche. Sehr charakteristisch auch Wolfgang Resch als Eduard Rainer, der eine der beiden Österreicher, und Jonathan Macker als der vom Stein getroffene Willy Angerer (die Namen der vier Bergsteiger entsprechen der historischen Wirklichkeit). In kleineren Aufgaben bewähren sich Konstantin Nazlamov als Retter und die junge Natalia Pastrana als Berggeist.

Auf der Bühne von Alain Rappaport und in den präzise zeichnenden Kostümen von Sabine Blickenstorfer kann sich das Ensemble uneingeschränkt entfalten – und das heisst hier viel. Die Regisseurin Barbara-David Brüesch zeigt die Geschichte nicht einfach eins zu eins als Aufstieg und Fall in der Schicksalswand, sondern vielmehr in der Erinnerung Albert von Allmens (Walter Küng), des Streckenwärters der Jungfraubahn, der wenig zu sprechen hat, die Atmosphäre des Abends durch seine Präsenz jedoch entscheidend prägt. Schauplatz ist jenes Restaurant auf der Kleinen Scheidegg, wo sich durch hölzern gerahmte Fenster (und bei Bedarf eben mit dem Feldstecher) die Eigernordwand beobachten lässt. Liebevoll ist das Interieur ausgestaltet und belebt: durch Aromat, Kaffee fertig und ein veritables Fondue, das die hinreissend agierende Bedienerin (Adi Denner) virtuos serviert. Wenn Steine fallen, und sie fallen reichlich, stürzen Abdeckungen aus Holz zu Boden, so dass der Berg nach und nach zum Vorschein kommt. Auf dem solcherart entstehenden Gerüst tummeln sich die vier Bergsteiger-Sänger in einer Art, dass man den Atem anhält. Am Schluss wischt man sich einen Schweisstropfen von der Stirn.

Nach «Casanova» von Paul Burkhard (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.11.20) ist dem Theater-Orchester Biel-Solothurn ein weiterer Coup gelungen. Man kann nur bewundern, was dem kleinen, von Dieter Kaegi ebenso sicher wie einfallsreich geleiteten Haus gelingt.

Bild Suzanne Schwiertz, Theater Orchester Biel Solothurn

Freud und Leid der Tradition

Wagners «Rheingold» in Stuttgart und Bern

 

Von Peter Hagmann

 

«Rheingold» in Bern: Wotan und die Seinen vor der neuen Burg / Bild Rob Lewis, Bühnen Bern

Wie viele Werke aus dem Repertoire des Musiktheaters warten nicht jahre-, jahrzehntelang auf eine Aufführung. Nicht so Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Hier stellt sich gerade umgekehrt das Problem, angesichts der Vielzahl an Produktionen und der dementsprechend reichen Rezeptionsgeschichte nochmals einen plausibel deutenden Weg durch die Tetralogie zu finden, und zwar im Musikalischen wie im Szenischen. Mit dem Projekt «Wagner-Lesarten» in der Kölner Philharmonie ist das wieder einmal beispielhaft gelungen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21); die konzertante Aufführung von «Rheingold» mit dem Dirigenten Kent Nagano, dem Barockorchester Concerto Köln und einer exquisiten Vokalbesetzung stiess Türen in einen ganz neu ausgestalteten Raum der Wagner-Rezeption auf. Da gab es fürwahr ungewöhnliche Dinge zu hören.

***

Beim neuen «Ring» der Bühnen Bern schien es, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen, in eine ähnliche Richtung zu gehen. Jedenfalls am Anfang, in den Tiefen des Rheins. Dort schlug Nicholas Carter, Chefdirigent und, zusammen mit dem Dramaturgen Rainer Karlitschek, Operndirektor unter dem neuen Intendanten Florian Scholz, nicht nur leise Töne, sondern auch langsame Tempi an, die er bis zum Einsatz der drei Rheintöchter unmerklich auf das in diesem Moment angebrachte Zeitmass steigerte. Nicht nur ein langsames Crescendo, sondern damit verbunden auch ein langsames Accelerando, so wie es zu Wagners Zeit gepflegt wurde. Das versprach viel – leider zu viel, wie sich in der Folge zeigen sollte. Die Ursache dafür liegt vor allem bei der Verwendung der Orchesterfassung von Gotthold Ephraim Lessing (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Namensvetter) aus dem Kriegsjahr 1943. Der deutsche Dirigent, der damals das Sinfonieorchester Baden-Baden leitete, reduzierte massvoll die Zahl der Bläser, beliess bei den Streichern aber die von Wagner geforderte Grossbesetzung – eine eigenartige Lösung, denn in welchem Orchestergraben lassen sich neunzig Pulte unterbringen? In Bern jedenfalls nicht.

Die Folgen waren hörbar – und das geht aufs Konto des Dirigenten. Über weite Strecken dominierten die Bläser, während die Einbettung in den Streicherklang oft kaum wahrzunehmen war – eine Frage der Balance, an der sich bekanntlich arbeiten lässt. Auch im Einzelnen blieb in Bern das aufgelockerte Klangbild zu wenig genutzt; Gewiss, manches Detail war zu hören, doch nicht selten waren es Nebensachen. Umso heftiger fuhr der massive Ton des Berner Symphonieorchesters ein; wie nach zweieinhalb Stunden die Götter in ihre Burg einzogen, erfüllte er sich in einem rohen, wenig gestalteten Fortissimo. Die Erfahrung von Köln im Ohr machte bewusst, dass die Berner «Rheingold»-Premiere klanglich ein altväterisches Wagner-Bild bot. In Biel und Solothurn, zwei noch wesentlich kleineren Häusern, gab es vor bald zwei Jahren (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) eine exemplarische Aufführung von Béla Bartóks Einakter «Herzog Blaubart Burg». Die ausladende Orchesterbesetzung hatte Eberhard Kloke reduziert – äusserst raffiniert. Es gibt also durchaus andere Wege.

Altväterische Züge, aber nicht nur, offenbarte auch die vokale Seite des Abends. Den mit Giada Borrelli, Evgenia Asanova und Sarah Mehnert charakteristisch besetzten Rheintöchtern begegnet mit Alberich ein körperlich verletzter, seelisch versehrter Kriegsheimkehrer; Robin Adams legt seine Aggression eins zu eins in Lautstärke um, was à la longue erheblich nervt – gerade gegenüber der nonchalanten Zielstrebigkeit des hier jugendlich wirkenden Wotan (Josef Wagner) und dem agilen Loge von Marco Jentzsch, der freilich etwas allzu freigiebig mit dem tenoralen Schluchzer im Stil von ehedem umgeht. Auch die Diktion, auf die Wagner so viel Wert gelegt hat, hat noch Luft nach oben, etwa bei dem stets fröhlichen, selbst im Brudermord unbekümmerten Fafner von Mattheus França. Nicht aber bei Masabane Cecilia Rangwanasha, die ein ganz und gar ungewöhnliches Rollenporträt der Freia zeichnet – eines im Zeichen der Diversität. Zumal Christel Loetzsch, die an die Stelle der erkrankten Claude Eichenberger getreten ist, eine stolze, aufrechte Fricka gibt, die ähnlich wie Erda (Veronika Dünser) dem selbstgewissen Wotan die Stirn bietet.

Das alles in einer Inszenierung, die verspielt daherkommt, ironisch mit den szenischen Zeichen umgeht, die in die Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» eingegangen sind, und vielfältige Anregung bietet. Sie stammt von der jungen Polin Ewelina Marciniak, die bisher im Schauspiel brilliert hat und jetzt mit Wagners Tetralogie im Musiktheater debütiert. Der «Ring» ist für sie ein Spiel mit Mythen, aber auch, durchaus im Geiste Wagners, ein Entwurf, der seine Zeit kritisch in den Blick nimmt. Das tut auch die Regisseurin – und so fehlt es nicht an edlem Metall. Ein ganzer Vorhang aus Gold deutet die Fluten des Rheins an, er ist aber aus simplem Plastik gefertigt und wird von Tänzern nach den Ideen der Choreographin Dominika Knapik (und nicht ohne Anleihen bei der Gestensprache Robert Wilsons) bewegt. Oben und unten sind in den Kostümen von Julia Kornacka klar voneinander geschieden, während das Bühnenbild von Mirek Kaczmarek mit wenigen Strichen den Duft der Gründerzeit evoziert. Lebendig sind die Figuren gezeichnet, markant tritt die Interaktion zwischen ihnen heraus – und auch für den guten Theatereffekt ist gesorgt. Nicht mit einem riesigen, feuerspeienden Drachen aus der Bayreuther Werkstatt Wolfgang Wagners, sondern mit einer schwarzen Schlange, einer Tänzerin, die Wotan bedenklich nahekommt. Sehr lustig die welkenden Götter, die vom Mangel an Äpfeln Freias kündend ihren Ebenbildern gegenübertreten. Warum allerdings die Kröte, in die sich Alberich dummerweise verwandelt, als Patient am Infusionsgestell erscheint, darüber darf nachgedacht werden.

***

In Stuttgart werden nicht gar so viele Gedanken evoziert. An der dortigen Staatsoper hat ebenfalls eine Produktion der Tetralogie begonnen. Anders als in Bern steht hier in allen vier Teilen derselbe Dirigent am Pult steht, sind für die vier Abende aber je andere Regisseure vorgesehen. So war es schon beim letzten Stuttgarter «Ring» vor zwei Jahrzehnten, und wie als Reminiszenz an jene goldenen Tage wird bei «Siegfried» die Inszenierung von Jossi Wieler wiederbelebt. Das neue Stuttgarter «Rheingold» nun hat Stephan Kimmig szenisch betreut – mit mässigem Erfolg, um ehrlich zu sein. Die Bühne von Katja Hass und die Kostüme von Anja Rabes versetzen die Geschichte vom zweifachen Raub des Goldes in eine Manege. Wotan (Goran Jurić) ist ein in die Jahre gekommener, mehr an der Flasche als an seiner Umgebung interessierter Zirkusdirektor, Donner (Paweł Konik) und Froh (Moritz Kallenberg) durchmessen die Bühne mit Autoscootern, Fasolt (David Steffens) und Fafner (Adam Palka) stehen ihnen mit ihren blinkenden Gabelstaplern in nichts nach. Auch Erda (Stine Marie Fischer) verfügt über ein Gefährt: ein Herrenfahrrad, weil sie ja Jackett und Krawatte trägt. Der Deutungsansatz wirkt dünn: beliebig, weil auf das Eigentliche übergestülpt. Wie er aufgehen soll, das kann vielleicht Miron Hakenbeck erklären; er hat beide Produktionen, jene von Stuttgart wie jene von Bern, als Dramaturg begleitet.

Zwei hervorragende Auftritte verzeichnet das Stuttgarter «Rheingold» immerhin. Leigh Melrose gibt, stimmlich untadelig, einen temperamentvoll aufbrausenden, aber gleichwohl nie schreienden Alberich; bevor er am Ende den Ring wieder verliert, wird er gerädert – nicht einmal das behindert den Sänger. Matthias Klink wiederum, als Loge jeder Situation gewachsen, gewinnt sein Profil dadurch, dass er seine Partie sehr ausgeprägt deklamiert, bisweilen fast spricht – da wird auch ohne Übertitel jedes Wort verständlich. Und das, obwohl der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister auf vollen Ton setzt. Das Staatsorchester Stuttgart tritt in grosser Besetzung auf und erzeugt einen fest in sich ruhenden, strahlenden Klang, aus dem die Leitmotive als integrierte Teile eines Ganzen heraustreten – Probleme der Balance stellen sich hier keine. In einem grossen Haus wie der Stuttgarter Staatsoper ist das nicht nur möglich, es drängt sich geradezu auf, stehen hier doch neben dem Orchestergraben reichlich Raumreserven zur Verfügung. Das musikalische Wagner-Bild, das in Stuttgart präsentiert wird, fügt sich nahtlos ein in die Tradition, wie sie durch die Bayreuther Festspiele, den «Jahrhundert-Ring» mit Pierre Boulez ausgenommen, repräsentiert wird und wie sie etwa in den Jahren 2010/11 durch Philippe Jordan an der Pariser Opéra zu prägnanter Gegenwart gebracht worden ist. Eine Tradition, die neben der Kölner Innovation zu bestehen vermag.

«Rheingold» in Stuttgart: Fricka (Rachel Wilson) im Zirkus (Bild Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Licht an für Camille Saint-Saëns

Das neue Klavierfestival des Luzerner Sinfonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

«Das Klavierfestival ist tot. Es lebe das Klavierfestival.» So pfiffen es die Spatzen dieser Tage von den Dächern des KKL Luzern. Tatsächlich hat das Lucerne Festival das jeweils im November durchgeführte «Piano Festival» 2019 auslaufen lassen – warum, ist nie bekannt geworden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 27.11.19) Das Luzerner Sinfonieorchester mit seinem Intendanten Numa Bischof hat postwendend darauf reagiert – so postwendend, wie es die Planungsfristen und die Pandemie zuliessen – und ist jetzt mit einem eigenen Klavierfestival auf den Plan getreten. «Le piano symphonique» nennt sich die neue, zweimal im Jahr in gedrängter Form durchgeführte Konzertreihe, die das Klavier aus dem Blickwinkel des Orchesters ins Licht stellt. Die erste Ausgabe hat soeben stattgefunden und war ausserordentlich gut besucht. Und dies, obwohl durchaus auf Risiko gesetzt worden war. Im Zentrum stand nämlich Camille Saint-Saëns, dessen Todestag sich am 16. Dezember 2021 zum hundertsten Male jährt.

Saint-Saëns, ein Musiker von unerhörter Fruchtbarkeit, zu seiner Zeit eine Eminenz, weitherum bewundert und hochdekoriert, ist heute so gut wie vergessen. Noch bekannt und gerade auch von Kindern geliebt ist «Le Carnaval des animaux» (1886) für Erzähler und grosses Kammerensemble, auf CD vor allem mit dem witzigen, durch ihn selbst mit unnachahmlicher Ironie vorgetragenen Text von Loriot. Geschätzt, aber auch ein wenig belächelt wird die Sinfonie Nr. 3 (1886), die «Orgel-Sinfonie», die mit ihrer effektvollen Gestik immer dann beigezogen wird, wenn es gilt, sich vor der Königin der Instrumente zu verneigen. Ab und zu, aber eher im französischsprachigen Kulturkreis, stösst man auf die attraktive Oper «Samson et Dalila» (1877). Vollkommen unbekannt, weil nie gespielt, in ihrer Weise aber grossartig ist die nicht in die Zählung aufgenommene Sinfonie «Urbs Roma» (1856), mit der sich Saint-Saëns vergeblich um den Prix de Rome bewarb. So geht es den allermeisten Werken des französischen Romantikers, und das bei einem Œuvre, das zwischen dem «Oratorio de Noël» (1858) und der Filmmusik «L’Assasinat du Duc de Guise» (1908) weit über 150 Stücke umfasst.

Die Musik von Camille Saint-Saëns gilt eben als verstaubt, akademisch, heute nur mehr schwer zu hören. Ausserdem hat sich der mit einem langen Leben gesegnete Komponist, er starb 1821 im Alter von 86 Jahren, als militanter Nationalist hervorgetan. Richard Wagner war ihm der Inbegriff des Feindbilds; zusammen mit César Franck gründete er nach der Niederlage seines Vaterlands im Deutsch-Französischen Krieg 1871 die «Société Nationale de Musique», die sich die Emanzipation von der Vorherrschaft der deutschen Instrumentalmusik auf die Fahnen geschrieben hatte. In der Tat eignet Saint-Saëns’ Musik etwas Störrisches; auf Passagen hochgetriebener Virtuosität im Geist des Pariser Conservatoire folgen ungelenk klingende Momente, die sich schwer ins Ohr fügen – nur lässt sich das von manchem Werk Franz Liszts in genau gleichem Mass behaupten (allerdings zählt auch Liszt nicht gerade zu den häufig aufgeführten Komponisten). All das gilt in je eigenem und besonderem Grad für die fünf Klavierkonzerte von Saint-Saëns, die in den Mittelpunkt des Programms von «Le piano symphonique» gestellt waren.

Schwierigkeiten mit Saint-Saëns haben freilich nicht nur Zuhörerinnen und Zuhörer, sondern auch Interpreten und Interpretinnen, der erste Abend des neuen Luzerner Klavierfestivals liess es nur zu deutlich hören. Nichts gegen den Wagemut, nichts gegen unerhörte Versatilität, mit denen die armenische Pianistin Nareh Arghamanyan dem Klavierkonzert Nr. 1 in D-dur (1858) begegnete. 23 Jahre alt war Saint-Saëns bei der Komposition. Er schwelgt in der Instrumentalmusik seiner Zeit, will sagen: in der deutschen Instrumentalmusik, und versetzt sie mit blitzendem Laufwerk, was die die Solistin rein manuell fabelhaft meisterte. Aber eine lebendige Erzählung stellte sich nicht ein. Auch nicht restlos überzeugend erschien die Zusammenarbeit mit dem Luzerner Sinfonieorchester und seinem Gastdirigenten Fabien Gabel; manche Übernahmen vom Solo ins Orchester gelangen knapp oder nicht wirklich.

Dass der Interpretation im Fall Saint-Saëns besondere Bedeutung zukommt, beim Klavierkonzert Nr. 2 in g-moll (1868) war es mit Händen zu greifen. Am Steinway sass diesmal – für die fünf Klavierkonzerte waren als Partner des Luzerner Orchesters zwei Pianistinnen und drei Pianisten eingeladen – Kit Armstrong. Der bald 30-jährige amerikanische Pianist, Organist und Komponist, der in seinem Auftritt noch immer jungenhaft wirkt, in seinem Künstlertum aber auf einem ganz anderen Planeten zuhause scheint, bewältigte die horrenden Anforderungen des Soloparts mit scheinbar nonchalanter Selbstverständlichkeit, einer Gelassenheit sondergleichen und stupender Präzision. Zugleich aber war zu hören und spüren, wie sehr er sich das Stück zu eigen gemacht hatte, wie fasslich er es gestaltete und wie bewundernswert er es Musik werden liess. Wie vom Tisch gewischt erschienen die Vorbehalte, die heutzutage gegen das Schaffen von Camille Saint-Saëns vorgebracht werden. Die Virtuosität hatte hier nichts Zirzensisches, nichts Artifizielles, sondern trug restlos natürliche Züge. Das schlug sich auch in der Kooperation mit dem Orchester nieder, die nichts zu wünschen übrigliess.

«Le piano symphonique», das hiess hier: die fünf Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns an zwei Abenden (für die drei anderen Konzerte waren Nelson Goerner, Lise de la Salle und Jean-Yves Thibaudet engagiert). Zu den Klavierkonzerten traten kurze Orchesterstücke, zum Beispiel das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» als augenzwinkernder Hinweis auf die politischen Ansichten Saint-Saëns’. Leider wurde dieses fulminante Stück Musik vom Dirigenten Fabien Gabel in sportiver Rasanz durchgezogen, was das Luzerner Sinfonieorchester ohne Fehl und Tadel mittrug, was aber doch merklich hinter der Komposition zurückblieb. Zu den beiden Orchesterkonzerten im KKL kam eine ganze Reihe von Kammerkonzerten, die andere Seiten von Saint-Saëns, aber auch seine musikalischen Nachbarschaften zur Geltung brachten. In seiner Vielgestaltigkeit erinnert «Le piano symphonique» an das Festival «Zaubersee» des Luzerner Sinfonieorchesters, das im kommenden Mai wieder durchgeführt wird. Als Spielorte diente im kammermusikalischen Teil des Festivals unter anderem das superbe Orchesterhaus in Kriens, der Sitz und Arbeitsort des Luzerner Sinfonieorchesters beim Südpol. Und zu bestaunen war der musikalische Freundeskreis, der hier in Aktion trat. Im «Carnaval des animaux» trat niemand Geringerer als Martha Argerich an den Flügel, der Cellist Steven Isserlis war bei Kammermusik mit von der Partie.

Ein spannendes, weil dramaturgisch konsequent durchgestaltetes Projekt; es spricht für die Vitalität des Luzerner Orchesters. Zum Klagen ist hier keine Zeit, Probleme sind vielmehr dazu, gelöst zu werden – es herrscht ein Geist des positiven Vorausdenkens. Das ist zu hören. Und schon ist die nächste Ausgabe von «Le piano symphonique» angekündigt; sie gilt Johannes Brahms. Das Lucerne Festival wiederum bringt anstelle des aufgegebenen Klavierfestivals ein neues Format unter dem Titel «Lucerne Festival Forward». Mehr davon demnächst an dieser Stelle.

Ein Fest der Kammermusik

Das Festival «Zwischentöne» in Engelberg

 

Von Peter Hagmann

 

Nach Engelberg kommt man vielleicht doch nicht jeden Tag. Da könnte man jedoch etwas verpassen – nicht nur des prachtvollen Klosters und seiner berühmten Orgel wegen. Das Dorf am Fuss des Titlis verfügt auch über einen wunderschönen Kursaal, ein Kleinod im Stil der Belle Epoque, das von seiner Dimension und seiner Akustik her für Kammermusik wie geschaffen ist. Zum ersten Mal fand nun das kleine, aber ausgesprochen feine Festival «Zwischentöne» in diesem Saal statt – in den sechs Jahren zuvor waren die Konzerte im Kloster durchgeführt worden. Die Infrastruktur lässt nichts zu wünschen übrig. Reibungslos der Eintritt mit der Zertifikatskontrolle, bequem die Garderobe und was dazugehört, der Saal so eingerichtet, dass man sich auch unter den gegebenen Umständen wohlfühlt – alles ebenso wenig selbstverständlich wie die Professionalität in der Durchführung der Auftritte.

Die Bedingungen stimmen, die Sache selbst allerdings auch, und dies in hohem Mass. Das Festival «Zwischentöne» geht auf eine Idee des Merel-Quartetts zurück, dessen Cellist Rafael Rosenfeld und dessen Primgeigerin Mary Ellen Woodside sich in die künstlerische Leitung teilen. Rosenfeld, bekannt als Stimmführer beim Tonhalle-Orchester Zürich, erweist sich als der interpretatorische Inspirator, seine Gattin leistet die dramaturgische Arbeit, gestaltet also die Programme. Sehr vielfältige, sehr anregende Programme – und solche in ganz unterschiedlichen Besetzungen, wie sie im regulären Konzertbetrieb nicht möglich sind, in spezialisierten Festivals wie zum Beispiel den «Spannungen» im RWE-Kraftwerk im deutschen Heimbach gelebt werden. Eine Linie in die Vielfalt bringt das Thema, unter dem das Programm steht. «Affairs of the Heart» hiess es dieses Jahr, also «Liebe», mit britischem Understatement ausgedrückt.

Genau darum geht es in der «Schönen Müllerin», dem Liederzyklus, den Franz Schubert auf Gedichte von Wilhelm Müller schuf. Im Vergleich zur «Winterreise» mag «Die schöne Müllerin» als harmlos erscheinen, und genau so wurde der Zyklus bis weit ins späte 20. Jahrhundert dargeboten. Ian Bostridge, der «Special Guest» der diesjährigen «Zwischentöne», vertritt hier eine ganz andere Auffassung. Der berühmte englische Tenor tut das nicht nur aus seiner reichen Erfahrung heraus, sondern auch auf der Basis einer speziellen Kompetenz, die er sich als Autor eines hochinteressanten, bisweilen durchaus verstörenden Buches über «Die Winterreise» geschaffen hat. Er sieht die Geschichte des wandernden Müllerburschen, der bei einem Müller Arbeit findet, sich in dessen Tochter verliebt, nach einem Höhenflug an Hoffnungen aber derart getäuscht wird, dass ihm nur der Sprung kühle Nass des an der Mühle vorbeirauschenden Bachs bleibt.

Schon zu Beginn wird die Munterkeit des steten Weiterziehens gebrochen, werden die vom Text angesprochenen Räder und das Wandern durch leichte Verzögerungen ins Licht gehoben. Und drastisch stellt Bostridge die schnippische Haltung der Müllerstochter gegenüber dem Morgengruss des Burschen und die damit verbundenen, tristen Vorahnungen heraus. Tief bewegend die Spannung zwischen der Hochstimmung von «Am Feierabend» und der Enttäuschung im «Tränenregen». Je weiter der Zyklus voranschreitet, desto spürbarer wird die dramatische Spannung. Wie dann der Jäger auftritt, ein Kerl von Mann mit struppigem Bart und ein nicht bezwingbarer Konkurrent, kippt das Geschehen brutal, wird das liebe Grün zum bösen Grün und wandelt sich der Ruf an die Blümlein, den Mai zu spüren und herauszukommen, zu schluchzender Verzweiflung. Erschütternd, wie Ian Bostridge das mit seinen meisterlich ausgebauten vokalen Mitteln zur Geltung brachte. Dies im Verein mit der Pianistin Saskia Giorgini, die einfühlsam auf den Sänger einging, kontrapunktisch mitdachte und die linke Hand auf dem schönen Bösendorfer aus der Werkstatt Bachmann, Wetzikon, sinnvoll zur Geltung brachte.

Nicht weniger spannend geriet im Schlusskonzert – nach einem Zwiegespräch zwischen Robert und Clara Schumann – das Streichquintett in C-Dur, KV 515, von Wolfgang Amadeus Mozart. Scharf ausgeprägt der Dialog zwischen Rafael Rosenfeld, dem in der Mitte sitzenden und nach allen Seiten funkelnden Cellisten, und Mary Ellen Woodside an der Ersten Geige. Edouard Mätzener blieb an der Zweiten Geige alles andere als im Hintergrund, er stiess vielmehr seinerseits Energieschübe an, ohne dass dadurch das wohlgeordnete Klangbild des Ensembles aus den Fugen geriet, und spielte vital zusammen mit Eivind Ringstad, der als Gast zum Merel-Quartett gekommen war. Zu einer Sternstunde kam freilich der Bratscher Alessandro D’Amico, der zunächst so unauffällig mitwirkte, wie es Bratscher bisweilen tun, der dann aber im Andante des dritten Satzes mit seinen witzig, geradezu frech vorgetragenen solistischen Einwürfen der Primgeigerin die Stirn zu bieten suchte. Mozart liebte ja die Bratsche leidenschaftlich hat diesen subversiven Satz ohne Zweifel für sich selber in dieser Weise eingerichtet. War das ein Vergnügen; es erwies, was Kammermusik im besten Fall sein kann.

Reiz und Bedeutung des Eigenen

Sprühendes Leben im Konzert – beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Einen solchen Abend gibt es wohl nur an einem Festival – vielleicht gar nur am Lucerne Festival, wo das Mahler Chamber Orchestra, das Herzstück des Lucerne Festival Orchestra, in Residenz weilt und sich nicht nur flexibel einsetzen lässt, sondern sich auch neugierig dem Unerwarteten öffnet. Das Unerwartete war in diesem Fall die Begegnung mit dem Geiger und Dirigenten Roberto Gonzáles-Monjas, einem ganz und gar einzigartigen Musiker. Sei es, dass er als Konzertmeister bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom die Sinfonische Dichtung «Ein Heldenleben» aufnimmt und dabei Richard Strauss’ Ironie freien Lauf lässt. Sei es, dass er beim Musikkollegium Winterthur, wo er demnächst das Amt des Chefdirigenten übernimmt, zusammen mit dem Pianisten Kit Armstrong die nicht leicht zu hörenden (und noch weniger leicht zu spielenden) Violinsonaten Wolfgang Amadeus Mozarts aufführt. Sei es, dass er mit dem kolumbianischen Jugendorchester Iberacademy Ludwig van Beethovens «Eroica» an die Grenzen der Intensität führt – und dass er das nicht mit dem Taktstock in der Hand, sondern als Konzertmeister tut.

Genau so trat Roberto Gonzáles-Monjas gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra im Luzerner KKL auf: mit einem überraschungsreichen, geschickt zusammengestellten Programm, mit hinreissenden Interpretationen und schlichtweg sensationellem Erfolg. Schon der Einstieg sorgte für gehörigen Effekt – denn «Le Cahos» aus der «Simphonie Nouvelle ‹Les Elemens›» von Jean-Féry Rebel, eines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, hebt mit einem wüsten Cluster an, dem Sinnbild für die Ursuppe, aus der sich im weiteren Verlauf eine reizvolle Folge wohlgeordneter Kadenzen erhebt. Ganz ruhig entfaltete sich diese Musik für Streicher, hier durch ein Fagott und ein Cembalo ergänzt, zugleich aber bebte sie vor Spannung und Energie. Beides kam direkt aus dem Körper des 33-jährigen Konzertmeisters, der mit lustvoll animierender Ausstrahlung spielte. Für den Schlussakkord reckte er sich wie eine Feder aus der halben Hocke in die Höhe und zog den Klang unwiderstehlich auf den Schlusspunkt hin.

Von ähnlichen Voraussetzungen profitierte Joseph Haydns Sinfonie in f-Moll Hob. I:49 mit dem Beinamen «La passione». Als krasses Gegenstück zu dem Bild, das Riccardo Chailly mit dem Lucerne Festival Orchestra geboten hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 25.08.21), gab die Auslegung durch das von Gonzáles wiederum vom ersten Geigenpult aus geleitete Mahler Chamber Orchestra zu erkennen, in welchem Geist der Einfallsreichtum und der klangliche Reiz von Haydns Musik zum Leben erweckt werden kann – spannend und gegenwärtig war das von A bis Z. Klein besetzt das Orchester mit den solistischen Bläsern und den je sechs Ersten wie Zweiten Geigen, die links und rechts von dem in der Mitte positionierten Cembalo aufgestellt waren – und die wie alle Musikerinnen und Musiker, die es konnten, im Stehen spielten: als Solisten, die ein Orchester bildeten. Dass die Wahl der Instrumente nicht derart ausschlaggebend ist, wie es der Markt suggeriert, dass es viel eher um die stilistische Angemessenheit der Spielweise geht, es war mit Händen zu greifen. Zur stilistischen Angemessenheit gehört etwa die Mässigung im Einsatz des Vibratos; in der Sinfonie Haydns führte das zu einer Schärfung der Dissonanzen, die als Gewürz weitaus stärker einwirkten, als es sonst der Fall ist.

Der Mittelteil des Abends gehörte, zumindest partiell, Yuja Wang. Ihr frech ironisierendes Outfit entzückte, ihr so farb- wie ahnungsloses Spiel auf dem Steinway in Bachs Klavierkonzert in f-Moll BWV 1056 weniger. Blass blieb sie hier, etwas unsicher und mutlos – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass dieses Repertoire nicht gerade zum Kern ihres Tuns gehört. Eines Tuns, das durchaus bewundert werden darf, wie ihre leitende Mitwirkung in dem praktisch nie aufs Programm gesetzten Capriccio für ausschliesslich mit der linken Hand gespieltes Klavier und Bläserensemble von Leoš Janáčcek erwies. Ein sehr persönliches, auch horrend anspruchsvolles Werk, das mit letzter Brillanz dargeboten wurde. Nicht weniger erfrischend das Bläseroktett von Igor Strawinsky, in dem vier Holzbläser mit vier Blechbläsern wetteifern. Auch das eine fulminante interpretatorische Leistung. Schade nur, dass die Namen der fürwahr solistisch auftretenden Orchestermitglieder (im Gegensatz zu jenen der Sponsoren…) im Programmheft nirgends verzeichnet waren.

Abende wie dieser erhalten ihre Relevanz auch dadurch, dass sie zur inhaltlichen Erkennbarkeit des Lucerne Festival beitragen. Gastspiele grosser Orchester mit grossen Dirigenten verfügen zweifellos über ihren ganz eigenen Reiz, nur finden sie in der Regel im Rahmen von Tourneen statt, sie tragen ihre Botschaft also nicht nur nach Luzern, sondern auch nach Salzburg, Berlin oder London. Im Gegensatz dazu gehören Auftritte wie jener mit dem Mahler Chamber Orchestra dem Luzerner Festival allein. Das gilt auch für zwei von Schweizer Orchestern bestrittene Programme, die Teil eines Luzerner Schumann-Zyklus bilden – und beide Konzerte sorgten für veritable Aha-Erlebnisse. Zusammen mit seinem Musikdirektor Paavo Järvi erschien das Tonhalle-Orchester Zürich mit einem reinen Schumann-Programm; es umfasste die «Genoveva»-Ouvertüre, das Violinkonzert (das Christian Tetzlaff mit hoher Identifikation und berührender Wärme in Klang setzte) und die Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur, die «Rheinische». Blendend war dies Hauptstück gemeistert – in einem Klang, der die dunkle Grundfärbung des Zürcher Orchesters hören liess, sie gleichzeitig jedoch verband mit heller Transparenz, der ausserdem mit der Opulenz der grossen Besetzung mit vierzehn Ersten Geigen prunkte, ebenso sehr aber von geschmeidiger Beweglichkeit lebte. Eindrucksvoll die vorab durch die Arbeit an den Tempi erzielten Spannungssteigerungen, die ebenso eleganten wie markanten Akzentsetzungen, die Präsenz des hier feierlichen, dort enthusiastischen Tons, der diese Sinfonie kennzeichnet. Ein erstklassiges Gastspiel.

Wenige Abende zuvor hatte das Luzerner Sinfonieorchester das Wort ergriffen – mit nicht geringerem Erfolg. Ein Heimspiel, gewiss, aber auch ein besonderer Moment, denn am Pult stand zum ersten Mal in dieser Funktion Michael Sanderling als neuer Chefdirigent. Eine genau richtige Wahl darum, weil auf die zehn erfolgreichen Jahre mit dem Amerikaner James Gaffigan nun eine Phase im Zeichen deutscher Ästhetik folgen dürfte. Darauf wies schon Schumanns Cellokonzert hin, das Steven Isserlis äusserst extravagant anging. Sehr poetisch, ganz innerlich nahm er seinen Part, so als ob er ins Geflecht der Töne hineinzuhorchen und jedem musikalischen Ereignis nachzusinnen suchte. Das Orchester hielt sich zuverlässig an des Solisten Seite – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Michael Sanderling, von Haus aus Cellist, das Stück aus reicher eigener Erfahrung am Instrument kennt. Indessen mochte gerade das nicht nur von Vorteil sein, schienen des Dirigenten Vorstellungen von der Partitur doch etwas anders gelagert als jene des Solisten. Jedenfalls blieb das Orchester bisweilen eher im Mezzoforte stehen, wo Isserlis wagemutig in die Wunderwelt des ganz leisen Singens hinabstieg. Sehr sorgfältig in der klanglichen Balance und firm in der Aussage sodann Schumanns vierte Sinfonie in d-Moll, in der heute üblichen zweiten Fassung von 1851 und mit angeblichen Retuschen von Michael Sanderling – dies eine Mode von gestern, als man noch glaubte, Schumann habe nicht instrumentieren können. Schlank und zeichnend der Klang auch im Forte. Die Posaunen kräftig, aber jederzeit ins Ganze eingebunden, die Holzbläser in ganzer Farbenpracht präsent. Besondere Momente boten die ruhig ausgesungene Romanze des zweiten Satzes und der Übergang vom Scherzo ins Finale. Die Zusammenarbeit hat Potential, es war nicht zu überhören.