Der Denker am Pult

Kent Nagano beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Tritt Kent Nagano ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich, ist mit besonderen Akzenten zu rechnen. So war es 2009, als der Japaner aus den USA, der längst in Deutschland und Frankreich heimisch geworden ist, die «Metamorphosen» von Richard Strauss auslegte. Die 23 Streicher formten ein aus dem Inneren heraus leuchtendes Netz, in dem jeder einzelne Faden in seiner Individualität zu erkennen war – nur die radikale geistige Durchdringung der Partitur macht so etwas möglich. Sechs Jahre später das ebenso amüsierende wie irritierende Concerto grosso für vier Alphörner und Orchester des nach New York ausgewanderten Österreichers Georg Friedrich Haas und eine fabulöse Umsetzung von Anton Bruckners sechster Sinfonie – ein interpretatorischer Akt, in dem ein ganz ungewöhnliches Gleichgewicht erreicht wurde. Oder dann Anfang 2017 die «Eclairs sur l’Au-Delà» von Olivier Messiaen, bei deren farbenreicher Klangwerdung Nagano von seinen Erfahrungen als Schüler des Komponisten profitierte.

Auch beim jüngsten Auftritt des Dirigenten, diesmal nun in der frisch herausgeputzten Grossen Tonhalle, fehlte es nicht an Überraschungen. Wie sich im späteren Verlauf des Abends als besonders sinnreich erweisen sollte, gab es zur Eröffnung drei Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs – eines seltenen Gasts in den heiligen Hallen am See, der im Verlauf der Saison aber doch mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich erhält. Diese Gipfel der kontrapunktischen Kunst, die Bach ohne Angaben zur Instrumentation hinterlassen hat, wurden nicht in der bekannten und üblichen Orchestrierung Wolfgang Graesers, sondern einer ungewöhnlichen, um nicht zu sagen: gewöhnungsbedürftigen Einrichtung des japanischen Komponisten, Pianisten und Dirigenten Ichiro Nodaira gegeben. Die Farben des Orchesters werden hier sozusagen getrennt genutzt: Die Streicher stellten, rein und klar ohne jedes Vibrato, das Thema vor, die Bläser bis hin zum Kontrafagott den Kanon in der Oktave, das klingende Schlagzeug samt Harfe die Tripelfuge der Nummer acht – schaute da für einen Augenblick nicht Jacques Loussier und sein «Play Bach» um die Ecke? Streng, ohne Unterbrechung durch Beifall wurde diese Eröffnung durchgezogen, und nochmals attacca schloss sich das Intermezzo für vier Schlagzeuger aus der Oper «Stilles Meer» von Toshio Hosokawa an, der in dieser Saison den Creative Chair besetzt. Ein kurzes, überaus aufwühlendes Stück der Erinnerung an die Katastrophe von Fukushima und durchaus ein musikalisch gesetztes Zeichen in einer Zeit, da statt mehr an erneuerbare Energie an den Bau weiterer Atomkraftwerke gedacht wird.

Daraufhin gab es, um den organischen Aufbau des Programms nicht zu stören, keine Pause, lediglich eine kurze Unterbrechung, während der sich das Tonhalle-Orchester zu grosser Formation versammelte: für die neunte Sinfonie Anton Bruckners. Wie stets, wenn sich Kent Nagano diesen monumentalen sinfonischen Entwürfen zuwendet, herrschte Temperament, kam es zu Kraftentfaltung, dies aber jederzeit in ausgesuchter Balancierung innerhalb des Orchesters, aber auch innerhalb des Raums. Nie knallte es. Die Posaunen, die Trompeten liessen ihre Muskeln spielen, blieben aber jederzeit so ins klangliche Gesamtbild integriert, dass alle Register, zumal die hohen Streicher, zu ihren Rechten kamen. Ja mehr noch: Wie nach der Vorbereitung durch die Wärme der intonationssicher klingenden Wagner-Tuben und die Klangpracht der Hörner das gewaltige Ende des dritten Satzes erreicht wurde, trat heraus, welch klares dynamisches Konzept für die Sinfonie insgesamt Nagano entwickelt hatte. Denn erst dort, ganz am Ende, wurde der Höhepunkt an Lautstärke, an Intensität, an Erfüllung erreicht. Dieselbe auf dem intellektuell hochstehenden Umgang mit der Partitur basierende Umsicht liess das Zusammenwirken der verschiedenen Themen innerhalb der Sätze hören. Schon im Eröffnungssatz herrschten Sorgfalt und Sorgsamkeit im Aufbau der langgezogenen Verläufe und, vor allem, in den Verbindungen zwischen ihnen. Einigermassen flink, Bruckner schreibt «bewegt, lebhaft» vor, kam das Scherzo daher; nichts Behäbiges, nichts von den groben Röhrenhosen des Komponisten war hier zu erfahren – im Gegenteil: Die Artikulationszeichen des Komponisten zu den gestossenen Akkordwiederholungen war auf das Genaueste respektiert, was den Satz sprechen liess. Übrigens in gleicher Weise, wie es die in den einzelnen Themengruppen subtil modifizierten Tempi taten. Im Finale schliesslich herrschte so viel Transparenz, dass die kontrapunktische Hand Bruckners in helles Licht kam. Da war er denn, der ferne Gruss Johann Sebastian Bachs.

Kunstvoller Schauer

«Roberto Devereux» von Donizetti in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Lord Cecil (Andrew Owens) und Königin Elisabeth I. (Inga Kalna) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Schon das Eröffnungsbild lässt einen erschrecken. Der Körper liegt reglos in einer Blutlache, der Hals geht ins Leere und zeigt seine Innereien, der Kopf liegt weitab davon – und schon sind die dienstbaren Geister da, die einen tragen die zwei Teile des Opfers weg, die anderen versuchen der Blutspuren Herr zu werden. Wem das falsche Wort entfährt, wer die falsche Tat begeht, dem droht das Beil des Henkers. So war es damals, als es Königinnen gab, die riesige Reifröcke trugen, über Leib und Leben geboten und in verzweifelter Einsamkeit lebten. Und so ist es heute, in Russland, in Iran, in Saudi-Arabien – die Menschheit ist kaum einen halben Schritt weiter. Der Gedanken mag einem durch den Kopf schiessen, während man sich im Opernhaus Zürich die neue Produktion von «Roberto Devereux» zu Gemüte führt. Tatsächlich spielt die dritte der drei Opern Gaetano Donizettis über die in England herrschende Familie der Tudors im sechzehnten Jahrhundert, davon sprechen die prachtvollen Kostüme, mit denen Gideon Daveys Ausstattung prunkt. Ins Auge fällt aber auch die leicht gekrümmte, aus glattpolierten Steinblöcken gebildete Rückwand, die nicht nur den Spielraum ins Weite öffnet, sondern auch in aller Eindeutigkeit auf die Kälte der Gegenwart verweist.

Entschieden schliesst sich dem der Dirigent Enrique Mazzola an – und zwar gerade dadurch, dass er Donizettis Musik am Pult der hellwachen Philharmonia und des von Janko Kastelic hervorragend vorbereiteten Chors der Oper Zürich im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis zum Klingen bringt. Das ist längst keine Frage des verwendeten Instrumentariums mehr, wohl aber eine solche der Textbezogenheit. Mazzola entdeckte in der originalen Handschrift der Partitur Tempobezeichnungen des Komponisten, die in der verbreiteten, flächig gearteten Tradition der Wiedergabe verlorengegangen sind. Mazzola spielt diese Brüche kompromisslos aus – so scharf, wie er die Instrumentalfarben staffelt und dadurch Donizetti geradewegs als ein anderer erscheinen lässt. Die innere Zerrissenheit, welche die Figuren in «Roberto Devereux» durchs Band kennzeichnet, erscheint so in hellem, ja grellem Licht. Und hebt die Oper über jede Belcanto-trunkene Harmlosigkeit heraus.

Der Regisseur David Alden, der mit diesem Abend seine 2018 in Angriff genommene Zürcher Tudor-Trilogie beschliesst, bleibt da unbestimmter. Er denkt eher in Kategorien des szenischen Effekts als in solchen der psychischen Feinzeichnung. Das raumhohe, halbkreisförmige Element mit den Porträts aus der ungewöhnlich langen Regierungszeit Elisabeths I. – es zu bewegen dem Team der Bühnentechnik Schwerarbeit ab –, der steinerne Brocken, der aus Andreas Homokis Inszenierung der «Walküre» stammen könnte, der enorme Thron, das alles frappiert gehörig. In der Profilierung der handelnden Figuren bleibt jedoch manches beiläufig. Wenn der Strippenzieher Lord Cecil (Andrew Owens) als körperbehinderter Alter mit Stock und nervös wippenden Fingern auftritt, erscheint das als ein allzu wohlfeiles Déjà-vu. Und die Brutalität des Herzogs von Nottingham angesichts der Enttäuschungen, denen er sich gegenübersieht, wirkt in einem wenig überzeugenden Sinn opernartig. Das mag auch auf sängerische Defizite zurückgehen; Konstantin Shushakov arbeitet mit so viel Vibrato, dass die Tonhöhe oft nur schwer zu orten ist.

Auch nicht frei von Klischees bleibt das Profil, mit dem die titelgebende Figur des Roberto Devereux, des jungen Aufständischen, den die Königin an ihr Herz gezogen hat, versehen ist. Musikalisch lässt Stephen Costello dagegen keinen Wunsch offen; dank seinem leuchtenden, tragfähigen Timbre gerät die Arie, in der er seiner Verzweiflung Lauf lässt, überaus eindringlich. Grandios die junge Anna Goryachova als Sara, die Gattin Nottinghams und Geliebte Devereux’. Herrlich entfaltet sich ihr dunkler Mezzosopran, zu intensiver Verbindung finden das musikalische Gestalten und die szenische Verwirklichung. In der Titelpartie ist Diana Damrau, die bei «Maria Stuarda» wie bei «Anna Bolena» im Zentrum stand, nicht mehr dabei. An ihre Stelle trat Inga Kalna, eine Charakterdarstellerin von hohem Format. An der Premiere verlor die lettische Sopranistin in den Fortissimo-Eruptionen des Beginns die dynamische Kontrolle – mit einiger Wehmut kam da der Gedanke an die künstlerisch so erfüllten Zeiten mit Edita Gruberova auf. Mehr und mehr gelang es ihr jedoch, den stimmlichen Ausdruck ins Ganze ihrer Bühnenerscheinung einzubinden und die fatal folgenreiche Egozentrik der Königin zu erschreckender Wirksamkeit zu bringen.

Gold versus Silber

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit Berlioz
und Mendelssohn

 

Von Peter Hagmann

 

Beim Tonhalle-Orchester Zürich geht die Post ab. Eben hat sich die Formation zusammen mit ihrem Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter Paavo Järvi nach Wien, Luxemburg, Paris und Basel begeben, nachdem die Musikerinnen und Musiker bereits im November vergangenen Jahres für eine drei Abende umfassende Residenz nach Hamburg gereist waren. Projekte solcher Art stellen gerade im Künstlerischen besondere Anforderungen; die Programme sollen als Visitenkarte gelten, und die Interpretationen müssen auf Hochglanz poliert werden. Für die Tournee dieser Tage ist das voll gelungen. Mit «Harold en Italie», einer als Bratschenkonzert verkleideten Sinfonische Dichtung von Hector Berlioz, sowie Johannes Brahms’ Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll in der Orchestrierung Arnold Schönbergs standen zwei nicht eben oft gespielte, aber wertvolle Werke aus dem französischen beziehungsweise dem deutschsprachigen Kulturraum auf dem Programm – in gut schweizerischem föderalistischem Ausgleich, aber auch als Zeichen des Anspruchs, als Orchester das Herkunftsland insgesamt zu repräsentieren.

Ein Glanzstück bot die fiktive Reiseschilderung des zu seiner Zeit heftig umstrittenen, auch streitbaren französischen Zukunftmusikers schon allein deshalb, weil zu Beginn vom Solisten keine Spur zu sehen war; Paavo Järvi schritt allein zu seinem Podest und gab den Auftakt, der Bratscher Antoine Tamestit, einer der besten Vertreter seines Fachs, schlich erst später einem neugierigen Kobold gleich durch die Sitzreihen des Orchesters. Ein kleiner, witziger Hinweis darauf, dass es sich bei «Harold en Italie» nicht wirklich um ein Bratschenkonzert handelt, sondern eher um eine Art Sinfonie mit obligater Viola, dass also der Solist, der sich ausserdem als ein Wanderer sieht, nur mittelbar als solcher in Erscheinung tritt. Das stimmt freilich nur halb, denn die Hauptsache steuert gleichwohl die Bratsche bei.

Antoine Tamestit tat das mit unübersehbarer Lust und unüberhörbarem Gewinn. Seine für ihn persönlich hergestellte Viola hat er seit dem Gewinn des Young Artist Award der Credit Suisse 2008 zurückgelegt zugunsten einer 1672 von Antonio Stradivari erbauten Bratsche, die ihm von der Habisreutinger-Stiftung zur Verfügung gestellt wird. Was für ein herrliches Instrument, von opulenter Wärme in der Tiefe, von sonorer Kantabilität in der Höhe – und unerhört reich an Farben. Virtuos nutzt Tamestit dieses Potential in denkbar glänzender Weise; in der Zürcher Tonhalle zog er das Orchester, mit dem er gestenreich kommunizierte, voller Überzeugungskraft auf seine fiktive Reise mit. Das Ergebnis war stupend, zumal Paavo Järvi den Farben auf der Spur war und das Orchester die vielen überraschenden Effekte grossartig zur Geltung brachte.

So geriet das Zuhören bei Berlioz zum reinen Vergnügen – was sich vom «Lobgesang», eine Woche zuvor geboten, leider ganz und gar nicht sagen lässt. Die zweite Sinfonie, B-dur, von Felix Mendelssohn Bartholdy aus den Jahren 1839/40, in ihrem Aufbau mit einer ausführlichen orchestralen Einleitung und einem kantatenartigen zweiten Teil klar der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens von 1824 nachempfunden, feiert die Erfindung des Buchdrucks, die Verbreitung des Wissens und, über die Aufklärung wie die französische Revolution, die Emanzipation der Menschen von Untertanen zu mündigen Bürgern – kann man es von heute aus nicht so sagen? Das von der Stadt Leipzig bei Mendelssohn als dem Leiter des Gewandhauses bestellte Stück verbeugt sich auch vor der Reformation und jener daraus hervorgegangenen Konfession, zu der sich Mendelssohn nach seiner Abkehr vom Judentum emphatisch bekannte. Von diesem Hintergrund liess Paavo Järvi nun allerdings nichts hören, er zielte eher aufs Gegenteil.

«Alles was Odem hat, lobe den Herrn» – so ist das Thema der langsamen Einleitung zur Sinfonia später vom Chor textiert – kam daher, als gälte es einen weltlichen Herrscher, einen Fürsten zu feiern: pompös, mit dröhnenden Posaunen und in betäubender Lautstärke, obwohl nur forte vorgeschrieben ist, weil das Fortissimo erst später folgt. Dazu mit kantig artikulierten Punktierten und in einigermassen hochgetriebenem Zeitmass. Das wiederum mochte seinen Grund darin haben, dass Järvi das darauffolgende Allegro im gleichen Schlag, aber verdoppeltem Tempo nehmen wollte. Doch dieses verdoppelte Tempo, es war, so der Eindruck in der zweiten der beiden Aufführungen, entschieden zu schnell; die ersten Geigen fanden in den rasenden Sechzehnteln weder die erforderliche Genauigkeit noch die wünschenswerte Transparenz, die Hörner setzten bisweilen mit leichter Verspätung ein. Für die Musik Mendelssohns, zumal den «Lobgesang», ist dieser hochgetriebene, auf Druck basierende Duktus ungeeignet; das Angebot an Aufnahmen erweist, dass es valable Alternativen gibt.

Das auf den Einstieg folgende Allegretto geriet nicht nur «poco», sondern «assai agitato» – die tremolierende linke Hand des Dirigenten forderte immer wieder mehr und mehr. Sehr schön, ruhig und entspannt, dann aber das Adagio religioso, der dritte Teil der instrumentalen Einleitung. Danach schlug die Stunde des Chors, der von Florian Helgath einstudierten Zürcher Sing-Akademie. Obwohl mit professionellen Sängerinnen und Sängern besetzt, hinterliess sie, das allerdings auf höchstem Niveau, den Eindruck eines Bürgerchors. Der Klang war fest und kompakt, damit jenem des Orchesters angenähert, zudem kräftig unterstützt durch die Orgel, die den Bass verstärkte und den Gesamtklang füllte. Nun gut, mag sein dass Paavo Järvi den «Lobgesang» in historisch informierter Praxis aufzuführen gedachte – nämlich so, wie es zu Brahms Zeiten üblich gewesen sein mag. Ob der donnernde Lärm des Schlusses diesem interpretatorischen Ansatz oder gar der Intention Mendelssohns entsprochen hätte, darf dahingestellt bleiben.

Überzeugt hat vor allem eines: das Trio der solistischen Stimmen. Mit seiner klaren Linienführung und seiner ausgezeichneten Diktion empfahl sich der Tenor Patrick Grahl für jede Aufgabe im Konzertrepertoire, und Marie Henriette Reinhold brachte in der undankbaren Partie der zweiten Sopranistin ihr herrlich gerundetes Timbre ein. Als jedoch Chen Reiss in «Lobe den Herrn, meine Seele» ihren Sopran erklingen liess, ging musikalisch das Licht an. Hell und leicht ihr Timbre, klar und leuchtend ihre Tongebung, ohne jeden Druck die Formung der Linien – so muss es sein. Der «Lobgesang» braucht eben nicht feudales Gold, vielmehr aufgeklärtes Silber.

Im Tollhaus

Francesco Cavallis «Eliogabalo» in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Das Traumpaar Nerbulone (Daniel Giulianini) und Lenia (Mark Milhofer), im Hintergrund Eliogabalo (Yuriy Mynenko) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Er will sie, er will ihn, er will alle, und er will alles: So ist Eliogabalo, der ohne Zweifel verrückteste Kaiser im alten Rom. Als Vierzehnjähriger kam Varius Avitus Bassianus 218 nach Christus auf den Thron, trieb als Elagabal sein Wesen und tat dies äusserst heftig, wenn auch nur kurz: Vier Jahre nach der Thronbesteigung hauchte er, von der Hand eines Mörders getroffen, sein Leben aus. Richtiger Stoff für eine Oper also, weshalb Francesco Cavalli, eine Generation jünger als Claudio Monteverdi, zur Feder griff. Zum Jahreswechsel 1667/68 sollte das Stück in Venedig aus der Taufe gehoben werden – was aber aus welchen Gründen auch immer nicht geschah. Die Partitur verschwand in der Schublade des Komponisten, gelangte von dort in den Besitz einer Adelsfamilie und schliesslich in eine Bibliothek in Venedig. 1999 wurde sie wiederentdeckt und in der lombardischen Kleinstadt Crema zu später Uraufführung gebracht.

Richtiger Stoff auch für Calixto Bieito. Willkürliche Machtausübung, Gewaltanwendung, triebhaftes Begehren, dazu ein Durcheinander der Geschlechter – das reizt den katalanischen Regisseur, der Cavallis «Eliogabalo» im Opernhaus Zürich auf die Bühne gebracht hat. Wie sich der Vorhang hebt, sitzt der Kaiser (Yuriy Mynenko, der aus Odessa stammende, dank Sondergenehmigung nach Zürich gekommene Countertenor mit weichem, geschmeidigem Ton) hingeflätzt in einem Sessel, die Smokinghose windet sich noch um die Fussgelenke, denn eben hat er Eritea vergewaltigt, die Verlobte seines Ersten Offiziers.

Die vom Opfer eingeforderte Ehe als Wiedergutmachung interessiert ihn trotz dem fulminanten Einsatz der Sopranistin Siobhan Stagg kein bisschen, er hat vielmehr seine langjährige Vertraute Lenia losgeschickt, ihm neue Körper zu besorgen – der Tenor Mark Milhofer versieht diese umgekehrte Hosenrolle mit sprühendem Witz. Zu einer wirklichen Hosenrolle wird die Partie des Giuliano, des besagten Offiziers an der Seite des Kaisers, wird sie in Zürich doch nicht von einem Countertenor, sondern von der blendenden Mezzosopranistin Beth Taylor verkörpert. Umgekehrt wird sich später Eliogabalo selbst ins Deux-Pièce werfen – dann nämlich, wenn er den eigens von ihm eingerichteten Frauensenat besucht, um die im Bikini angetretenen Parlamentarierinnen in näheren Augenschein zu nehmen. Mann oder Frau, hoch oder tief: nach kurzer Zeit ist die Verwirrung vollkommen.

Die vom grossen Ensemble auf durchwegs hohem Niveau herbeigeführte Konfusion mag hintersinnig an die derzeit aufschäumende Genderdiskussion verweisen – die in neutraler Modernität gehaltene, ausgesprochen bewegliche Bühne von Anna-Sofia Kirsch und die dazu passenden Kostüme von Ingo Krügler, vor allem jedoch die Hinweise aus der Dramaturgie suchen das nahezulegen. Die Assoziation wirkt freilich erzwungen, geht die Dominanz der hohen Stimmen und damit die Verwischung der Grenzen zwischen den Geschlechtern doch auf das zur Entstehungszeit der Oper in voller Blüte stehende Kastratenwesen zurück. Schlagend in unsere Tage führt dagegen die Bemerkung Eliogabalos, der Respekt vor den Gesetzen erfülle sich in deren Verletzung – da darf ruhig an den abgewählten Präsidenten einer gewissen Weltmacht gedacht werden.

Zuviel des Guten bieten auch die Dauererregung und die explizite Körperlichkeit im ersten Teil des Abends. Da wird, so ist es eben bei Bieito, szenisch so viel Energie freigesetzt, dass die feinsinnige Musik Cavallis unter die Räder kommt – und das trotz dem fulminanten Einsatz des dem Opernhaus Zürich angegliederten Barockorchesters La Scintilla. Erst im dritten Akt findet die musikalische Seite der Produktion ihren Raum. Wird deutlich, was Cavalli in den klar sprechenden Rezitativen und den vielen Passacaglien an Ausdruck hervorbringt. Und tritt zutage, wie subtil hier interpretatorisch gearbeitet wurde. Zu verdanken ist das dem russischen Dirigenten, Geiger und Countertenor Dmitry Sinkovsky, der das Particell Cavallis farbenprächtig instrumentiert hat. Die von ihm eingestreuten Improvisationen auf der Geige wirkten an der Premiere beiläufig. Die musikalisch grandios gemeisterte, szenisch effektvoll dargebotene Arie des Sängers am Pult sorgte dagegen für ein veritables Glanzlicht.

Wenn der Herrscher bellt, jubelt das Volk

«Barkouf» von Jacques Offenbach in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Marcel Beekman (Bababek), Andreas Hörl (Gross-Mogul) und André Jung (Erzähler) in der Zürcher Produktion von Jacques Offenbachs «Barkouf» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Das Stück ist eine Sensation, in mehr als einer Hinsicht. In «Barkouf», einer Opéra-comique, zeigte Jacques Offenbach zusammen mit seinem damals als Grossmeister des Fachs verehrten Librettisten Eugène Scribe, wie weit zu gehen er wagte, wenn er zu weit gehen wollte. In ihrer Absurdität wirkt die Geschichte von einem Hund, der von einem der Aufmüpfigkeit seines Volkes überdrüssigen Herrscher zum Vize-König mit allen Vorrechten ernannt wird, durchs Band erheiternd. Dabei ist sie von unerhörter Bissigkeit. Denn dank der früheren Besitzerin des Tiers und deren zielsicherer Übersetzung des vize-königlichen Gebells werden die herrschenden Verhältnisse in der (Bühnen-)Monarchie ihrer Fragwürdigkeit überführt und kurzerhand auf den Kopf gestellt.

Das ist seinerzeit nicht gut angekommen. Mitten in den Vorbereitungen meldete sich die kaiserliche Zensur. Sie verbot die Aufführung des Stücks, wenn nicht einige durchaus substantielle Abmilderungen vorgenommen würden. Und nach der Uraufführung von «Barkouf» an der Pariser Opéra-Comique Ende 1860 kam es in den bürgerlichen Zeitungen zu scharfer, teilweise vernichtender Kritik. Nach wenigen Vorstellungen abgesetzt, verschwand das Stück in der Schublade – bis es der Offenbach-Spezialist Jean-Christophe Keck in einem Haus der Familie Offenbach entdeckt und in der Folge für die Bühne eingerichtet hat. Ende 2018 kam «Barkouf» an der damals von Eva Kleinitz geleiteten Rhein-Oper in Strassburg zu einer erfolgreichen Wiederbelebung (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.12.18). Die Folge davon ist die dritte Produktion des Stücks, die jetzt im Opernhaus Zürich zu sehen und zu hören ist – schon allein das ist der Rede wert.

So viel darf gesagt werden, obwohl «Barkouf» in Zürich auch gewisse Längen aufweist – anders als in Strassburg. Möglicherweise sind dort einige Striche vorgenommen worden, möglicherweise ist in Zürich das Stück tatsächlich zur Gänze gespielt worden, wer weiss. Zudem liegt das Werk in einer Partitur vor, die auf der Originalhandschrift basiert: auf einer Fassung, an die Offenbach vor der Uraufführung, gewiss aber nach ihr noch Hand angelegt hat – das ist unklar, weil, wie in dem informativen Programmbuch des Opernhauses nachzulesen ist, die Materialien zur Uraufführung bei einem Brand der Opéra-Comique 1887 zerstört worden sind. In welcher Weise Offenbach «Barkouf» haben wollte, wird man also nie erfahren. Vielleicht hat er nach den Verrissen, jener von Hector Berlioz soll ihn besonders geschmerzt haben, das Werk auch einfach seinem Schicksal überlassen.

Kein Zweifel kann jedoch daran herrschen, dass die Längen, die in Zürich zu Tage treten, mit der Textfassung des Stücks zu tun haben. Die gesprochenen Zwischentexte von Scribe wurden vom Produktionsteam als veraltet angesehen, sie wurden daher neu geschrieben, und zwar von Max Hopp, dem Regisseur des Abends. Vorgetragen werden sie von André Jung, der als Conférencier durch das Geschehen führt, die Figuren vorstellt, die Verwicklungen erläutert – und an Verwicklungen fehlt es fürwahr nicht. Wie der grosse Schauspieler mit seiner nicht eben einfachen Aufgabe umgeht, ist hinreissend. Seine Bühnenpräsenz, das Schreiten in seinem grünen Dreiteiler, hier eine kleine Handbewegung, dort ein Blick, vor allem aber seine Diktion – das alles macht die vom Komponisten nicht vorgesehene Partie zu einer zentralen Rolle. Und sein Solo, analog zu jenem des Frosch in der «Fledermaus», ist grosse Kunst. Nicht verschweigen mag ich aber, dass die Texte Hopps, so geschickt sie den Zuschauer an die Hand nehmen, merklich oberlehrerhaft daherkommen: Brechts Zeigefinger lässt grüssen. Ausserdem und vor allem üben sie eine retardierende Wirkung aus, die ins Gewicht fällt.

Dazu kommt, dass der Regisseur fast durchwegs mit der grossen Kelle anrührt. «Barkouf» ist eine Opéra-comique, und die lebt von scharfer Lineatur und schneidender Ironie. Max Hopp zeigt das Stück jedoch als Operette, vielleicht sogar als Operette im Berliner Stil. Es wird jedenfalls nach Massen auf die Pauke gehauen. In üppiger Farbenpracht und anspielungsreicher Formenvielfalt die von Ursula Kudrna entworfenen Kostüme, gerade jene für die von Martina Borroni geleitete, sagenhaft agile Tanztruppe – und natürlich gäbe es diese blendend ausstaffierten Tanzeinlagen nicht, enthielte die Partitur nicht die entsprechende Musik. Auch das Bühnenbild von Marie Caroline Rössle, ein verwinkeltes Treppengeflecht in Schwarz-Weiss, drückt sich etwas schwergewichtig aus. Wenn der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor in Aktion tritt, scheint kein Fleckchen Boden mehr freizubleiben.

Auch in der Ausgestaltung der Figuren dominiert der dicke Pinsel. Den machtgeilen Mundschenk Bababeck, der mit seinen Intrigen am Ende kläglich scheitert, gibt Marcel Beekman mit aller sprachlichen Virtuosität und bedeutender Singkunst, aber doch arg chargierend. Das lässt sich auch von Andreas Hörl behaupten. Als Grossmogul führt er einen Wanst spazieren, für den kein Hemd gross genug ist, während er im entscheidenden Moment ausschliesslich Rülpser ausstösst, die vom Conférencier übersetzt werden müssen, so wie später Barkoufs Bellen von seinem Frauchen zu Sprache gemacht wird. Als Versuch, die Schärfe von Offenbachs Kritik an den Mächtigen seiner Zeit sicht- und fühlbar werden zu lassen, erscheint der Ansatz legitim, in der szenischen Ausführung schiesst er klar übers Ziel hinaus. Der Witz, der erklärt wird, ist keiner mehr.

Allerdings fehlt es auch nicht an Inseln mit ironischer Anspielung, überraschendem Humor und hochstehendem künstlerischem Ausdruck. Was Brenda Rae als Maïma, als die selbstbewusste und effizient agierende Besitzerin des Hundes Barkouf, und was Rachael Wilson als ihre Freundin Balkis leisten, setzt der Produktion Glanzlichter auf – zumal der Kontrast zwischen dem hohen, ausserordentlich beweglichen Sopran und dem in der Tiefe verankerten, klangvollen Mezzosopran seinen eigenen Reiz hat. Als Maïmas unglücklicher Liebhaber Saëb tritt Mingjie Lee mit einer kultiviert und gefühlvoll vorgetragenen Arie in Erscheinung. Während Sunnyboy Dladla in der Partie des Xaïloum als äusserst kurzfristig aufgebotener Einspringer brillierte. Eine Hauptrolle spielt auch die grossbesetzte Philharmonia Zürich, die unter der Leitung von Jérémie Rhorer Offenbachs Musik in ihrer ganzen Farbenpracht hören lässt und im zweiten Teil des Abends frappant an Spannung gewinnt.

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus

Zürich

Lustvoll ins Heute projiziert

Mozarts «Nozze di Figaro» in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Gräfin (Anita Hartig) und Cherubino (Lea Desandre) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Was für ein Vergnügen. Auf der Bühne wird singend gespielt, dass sich die Bretter biegen. Im Graben wird Klang gegeben, dass es eine Art hat. Und im (voll besetzten) Zuschauerraum wird herzlich gelacht. Das Stück aber, es ist 236 Jahre alt und spiegelt eine gesellschaftliche Konstellation, die so nicht mehr gibt – oder eventuell doch? «Le nozze di Figaro», die Opera buffa Wolfgang Amadeus Mozarts, hat bei der Uraufführung in Wien gehörigen Wirbel ausgelöst – kein Wunder, verhandelt sie doch das Gebaren adliger Herrschaften dem weiblichen Geschlecht gegenüber, insbesondere das ius primae noctis, das es als kodifiziertes Recht nicht gegeben hat, als Gepflogenheit aber selbstverständlich gepflegt wurde und in den Jahren vor der französischen Revolution als Inbegriff des feudalen Machtanspruchs in Verruf geraten war.

Heute ist das Thema, wenn auch in der Gegenwart anverwandelter Form, wieder sehr en vogue. Nicht dass Jan Philipp Gloger, der Regisseur der neuen Zürcher Produktion von «Le nozze di Figaro», den Grafen Almaviva umstandslos zu einem Harvey Weinstein gemacht hätte, doch die Verwandtschaft zwischen den beiden Verkörperungen männlichen Daseins ist derart mit Händen zu greifen, dass der Regisseur sie nicht links liegen lassen konnte. Unterstrichen wird der Gegenwartsbezug durch den immer wieder auf dem Zwischenvorhang auftauchenden Kodex zur Begegnung zwischen Mann und Frau, wie ihn sich etwa das Opernhaus Zürich nach einer dunklen Affäre rund um ein Mitglied von dessen Direktion gegeben hat. Zu einiger Heiterkeit führen am Abend selbst die Versuche, diesen Text mit dem Finger auf dem tragbaren Bildschirm den eigenen Bedürfnissen gemäss zu editieren.

Gloger, der das Stück klar in der Jetztzeit verortet, arbeitet mit dickem Stift, was angesichts der Erscheinung des Grafen, einem Pfau, der in jede ihm zugedachte Falle tappt, am Platz ist. Der Regisseur ging in der Vorbereitung aber auch mit einer Nonkonformität und einer Virtuosität zu Werk, die das Ensemble verzaubert hat und in der Vorstellung zu grosser Form auflaufen lässt. Auch in kleineren Partien wie zum Beispiel jener des Bartolo, den York Felix Speer in seiner ganzen Körperfülle zu einer herrlichen Theaterfigur macht. Oder in jener des Richters Don Curzio, den Christophe Mortagne als pralle Karikatur eines Bürokraten gibt. Ein Glanzlicht auch der puerile Cherubino von Lea Desandre. Scharf gezeichnet ist das Quartett der Protagonisten. Der Graf, Daniel Okulitch nimmt sich der Partie mit virilem Timbre an, als ein Schnösel in den hochgezogenen Hosen, die ihm die Kostümbildnerin Karin Jud entworfen hat. Die Gräfin, von Anita Hartig mit grossem Ton, aber auch einiger Unsicherheit in der Intonation gesungen, als eine tragische Figur aus der alten Welt. In seinem schwarzen Dreiteiler ist Figaro ganz der Diener als Herr, mit seinen kernigen Stimmfarben lässt Morgan Pearse keinen Zweifel daran. Das Energiezentrum bildet jedoch die Susanna von Louise Alder, einer Sängerin von hoher Musikalität und einer bezwingend quirligen Darstellerin.

Entscheidend für die Wirkung all dessen sind jedoch die Räume für die vier Akte, die der Bühnenbildner Ben Baur bewusst eng gehalten hat. Das Finale mit der endgültigen Demaskierung des Schürzenjägers ereignet sich nicht im nächtlichen Park des gräflichen Schlosses, sondern auf dessen alle andere als geräumigem Dachboden – da prallen die Energien ungebremst aufeinander. Wesentlichen Anteil daran hat die Philharmonia Zürich, die historisch informierten, unerhört präsenten, bisweilen geradezu wollüstigen Klang hören lässt. Wie der Regisseur lässt Stefano Montanari, der das musikalische Geschehen, behänd zwischen Lesebrille und Taktstock wechselnd, vom kräftig verstärkten Pianoforte aus leitet, keine Gelegenheit zu einer ironischen Anspielung aus. Liebevoll und witzig legt er zusammen mit dem Cellisten Claudius Herrmann den Basso continuo aus, intensive Emotionalität erreicht er in den orchestral begleiteten Rezitativen, bezwingend die Tempogestaltung und die Wechsel des Tons zwischen der herrscherlichen Attitüde im Finale des ersten Akts und der listigen Nasführung des Grafen durch seinen Kammerdiener am Ende des zweiten. Ein kräftiger Stoss Frischluft für das althergebrachte Genre der Oper.

Schöne heile Theaterwelt

Wagners «Rheingold» als Vorabend zum neuen Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Aufführung ohne Interpretation, geht das? Immer und immer wieder ist es behauptet worden – von Igor Strawinsky, der seine Musik lieber dem mechanischen Musikinstrument Pleyela überantwortete als den Interpreten seiner Zeit, auch von einem unverdächtigen Dirigenten wie Günter Wand, der für sich in Anspruch nahm, in seinem Tun ausschliesslich auf den Notentext zu reagieren. Und nun hat auch Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses Zürich, diese Fährte aufgenommen. Seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen», die jetzt mit «Rheingold» eröffnet worden ist und im Lauf der beiden kommenden Spielzeiten vollendet werden soll, möchte nicht eine Deutung der von Wagner erdachten Vorgänge zeigen, sondern die Vorgänge selbst. Der Regisseur mithin nicht als Interpret, sondern als Spielleiter, der szenisch lebendig werden lässt, was Wagner zu Papier gebracht hat. Zurück zum Text selbst, zu den Ursprüngen, so lautet Homokis Maxime – eine Haltung, die sich nicht zuletzt an der Tatsache orientiert, dass Wagners «Ring» zu grossen Teilen in Zürich entstanden ist.

Wenn sich nach den ersten, noch im Dunkeln erklingenden Takten des Vorspiels die Szene erhellt, wird die Drehbühne sichtbar: der Ring als Kreis und das Kreisen als die Beweglichkeit der Fluten. Zu sehen sind in der Ausstattung von Christian Schmidt hochweiss gehaltene Räume klassizistischen Zuschnitts; später werden sie mit schwerem gründerzeitlichem Mobiliar bestückt – was vielleicht noch keine Interpretation darstellt, aber immerhin einen Hinweis auf die Entstehungszeit der Tetralogie vermittelt. Bald schon zeigt sich, wie der leere Raum der Bühne gefüllt werden soll: mit Bewegung und Plastizität der Körpersprache. Das ist überzeugend gelöst – ebenso trefflich, wie der Konversationston des Stücks herausgestrichen wird. Bisweilen werden allerdings Grenzen sichtbar. Die Kissenschlacht, die sich Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan und Siena Licht Miller als die fröhlichen Rheintöchter liefern, zieht sich merklich in die Länge, während Christopher Purves als ein unerhört stimmgewaltiger Alberich seinen Drang nach dem Weiblichen ziemlich dick auftragen muss und dabei an die Grenze zur Charge gerät.

Format kommt ins Spiel, wenn ab der zweiten Szene Wotan das Heft in die Hand nimmt. Die obligate Augenbinde trägt der Göttervater nicht, wohl aber den wallenden Mantel und in der Hand den Speer mit den Vertragsrunen. Mit Donnerstimme setzt Tomasz Konieczny seine Positionen durch – ein umwerfendes Rollenporträt. Fricka vermag ihrem herrscherlichen, erst wenige Zeichen der Schwäche zeigenden Gatten nicht das Wasser zu reichen, dafür bleibt Patricia Bardon zu unbestimmt, aber es folgt ja noch «Die Walküre» mit dem für Wotan ungünstig ausgehenden Ehestreit. Etwas schwach auch Matthias Klink, der die Partie des Loge aus dem neuen Stuttgarter «Ring» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.12.21) nach Zürich gebracht hat; der Scharfsinn seiner diplomatischen Winkelzüge gegenüber Mime (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und Alberich fällt ab vor dem Hüpfen und Springen, das ihm der Regisseur abverlangt.

Getragen wird die Produktion von einem sehr soliden Ensemble. Die musikalischen Überraschungen ereignen sich jedoch im Orchestergraben. Dort führt mit Gianandrea Noseda ein Neuling in den Gefilden von Wagners «Ring» und ein Dirigent italienischer Muttersprache das Zepter. Hervorragend tut er das. Kraftvoll und satt klingt die Philharmonia Zürich, aber in keinem Moment zu laut, die Verständlichkeit ist jedenfalls hoch. Das geht auf die Sprachpflege zurück, deren Einfluss nicht genug gewürdigt werden kann, vor allem aber auf den sorgsamen Umgang mit der musikalischen Struktur: mit der klanglichen Balance im verhältnismässig kleinen Raum des Zürcher Hauses und dem Netz der Leitmotive. Immer wieder und mit Erfolg ruft Noseda dem Zuschauer in Erinnerung, dass das «Rheingold» auch eine Art Sinfonischer Dichtung darstellt. Der Dirigent scheut denn auch nicht davor zurück, Motive an entscheidenden Stellen krass herauszuheben – was man da und dort auch als etwas penetranten Wink mit dem Zeigefinger empfinden mag.

Nur, es passt zu einer Inszenierung, die insgesamt doch nicht wenig an ihrer Ambition leidet – am Versuch, die schwer befrachtete Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» ausser Acht zu lassen und stattdessen mit heiterer Naivität und frischfröhlicher Vitalität zu Werk zu gehen. Das mag im Ansatz denkbar sein, in der Realität der Aufführung führt es zu Problemen. Was der Liebhaber und Kenner verlangt, wird ihm im neuen Zürcher «Rheingold» geboten. Haufenweise wird das Gold in angeblich schweren Klumpen auf der Bühne aufgeschichtet. Und lustig hüpft die Kröte, in die sich Alberich fatalerweise verwandelt, über den Boden. Zuvor versucht es der Nibelung noch mit einer monströseren Erscheinung, deren Wotan und Loge fürs erste nicht gewahr werden – bis sich dann eine furchterregende Schwanzspitze durch eine offenstehende Tür hineinschlängelt. Das wäre schon des Effekts genug gewesen. Doch leider lassen sich Andreas Homoki und Christian Schmidt das Untier nicht nehmen, weshalb einen Lidschlag später gleichwohl ein Theater-Drache mit Dampf und Gloria auf der Bühne erscheint.

So hat es Wagner niedergeschrieben, aber ist es sakrosankt? Entspricht es nicht einem heute etwas kindlich wirkenden Theaterbegriff – einem von vorgestern, der durch die Vielzahl anregender Deutungsversuche längst in die Jetztzeit übersetzt ist? Und erinnert es nicht an die seligen Zeiten der Bayreuther «Ring»-Inszenierungen Wolfgang Wagners? Wenn schon «Rheingold» in der Art, die Wagner vorschwebte, dann vielleicht doch eher konsequent, nämlich in historisch informierter Aufführungspraxis, wie es bei den «Wagner-Lesarten» in Köln versucht wird (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 08.12.21). Schliesslich: Wenn Wotan seine Gattin auffordert, in Walhall mit ihm zu wohnen, und die Götter feierlich der Burg zuschreiten, erscheint in Zürich weder Burg noch Brücke, sondern vielmehr ein überlanger weisser Tisch mit goldenem Rand. Obwohl rechteckig, erinnert das Möbelstück an einen anderen überlangen weissen, freilich ovalen Tisch, der dieser Tage, meist von zwei Männern in schwarzen Anzügen besetzt, vielerorts in den Medien erscheint. Die Ähnlichkeit, sie soll nicht als ein Moment deutenden Inszenierens empfunden werden?

Seligkeit und Absturz

Lorenzo Viotti erstmals beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein fulminantes Debüt. Kurz und bündig: drei Stücke in spannungsvoller Beziehung zueinander, ein konzentrierter Verlauf von eineinhalb Stunden ohne Unterbruch durch eine Pause, sorgfältig konzipierte und mit Verve ausgeführte Deutungen – so und nicht anders muss es sein. Und so erübrigt sich auch die regelmässig geäusserte Vorstellung, das Konzert mit «klassischer» Musik bedürfe der Auffrischung.

Zu verdanken ist das – nicht nur, aber auch nicht zuletzt – Lorenzo Viotti, der nun zum ersten und hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich getreten ist. Die Erwartungen waren hoch, denn seit er 2015 den Dirigentenwettbewerb der Salzburger Festspiele gewonnen hat, verfolgt der 32-jährige Schweizer Dirigent eine kräftig nach oben weisende Laufbahn, die ihn inzwischen an die Spitze der Oper Amsterdam und der mit ihr verbundenen Niederländischen Philharmonie geführt hat.

Wien und seine musikalische Seligkeit, das bildete den Faden, dem der Abend folgte. Er hob an mit dem verkannten Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds, das in zart schimmernden Jugendstil-Klängen schwelgt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg im amerikanischen Exil des Komponisten entstanden und dort nach Kriegsende revidiert, lässt das dreisätzige Stück die goldene Zeit der Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufleben. Immer wieder klingen die orchestralen Farben Franz Schrekers an, die Harmonik greift weit aus, jedoch ohne Verlust an tonaler Bodenhaftung, die Melodielinien kreisen in sinnlichen Bögen immer wieder höchsten Höhen zu. Veronika Eberle versah ihren Part mit betörenden Schwingungen, und das Tonhalle-Orchester stellte sich zusammen mit Lorenzo Viotti so akkurat an ihre Seite, dass die Bildhaftigkeit von Korngolds Musik in aller Farbenpracht heraustrat.

Erstaunlich und bemerkenswert, was der Dirigent mit dem ihm unvertrauten Orchester und in dem für ihn neuen Saal erzielte. Erst recht gilt das für die Suite aus dem «Rosenkavalier», die wohl nicht von Richard Strauss zusammengestellt wurde, den Geist des meisterlich rückwärtsgewandten Werks aber voll und ganz spiegelt. Lorenzo Viotti ist ein junger Musiker, den die durch Theodor W. Adorno geschürte Abneigung gegen Strauss in keiner Weise anficht. Mit dem Tonhalle-Orchester, das ihm in blendender Verfassung begegnete, kostete er die Schönheit dieser locker der Oper entlang gefügten Walzerfolge nach Massen aus. Immer wieder drosselte er die Tempi, als wollte er die Zeit anhalten, als wollte er seinem Publikum vielleicht aber auch Gelegenheit zu geben, in die Musik hineinzuhören, hineinzuhorchen. Der dunkel gefärbte Mischklang tat seine Wirkung; wenn auch noch bisschen mehr Transparenz geherrscht hätte, wenn das feingliedrige Spinnennetz, das Strauss‘ Musik auch ausmacht, noch etwas besser zu hören gewesen wäre, das Glück wäre vollkommen gewesen. Aber was soll schon vollkommenes Glück…

Weiter ging es mit dem Wiener Walzer im dritten Schritt des Abends – nämlich mit «la Valse» von Maurice Ravel, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und durchaus in Anspielung an den Zusammenbruch der kaiserlich-königlichen Wiener Monarchie verfasst. Ungeheuer die Energie, die Viotti aus dem Dreivierteltakt herausholte, blendend die Brillanz, in der er die Instrumentation leuchten liess. Auch hier hätte ein Plus an Innensicht, eine Schärfung der Klangereignisse im Einzelnen, den zerstörerischen Taumel noch stärker fühlbar gemacht.  Dessen ungeachtet schüttelten einen die überraschenden, heftig einfahrenden Schläge auf die grosse Trommel gewaltig durch. Und mit einem Mal stand das scheussliche Geschehen auf den Kriegsschauplätzen in unserer östlichen Nachbarschaft bedrohlich fassbar im Raum.

Das Vergangene als das Gegenwärtige?

John Adams beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

John Adams in der Zürcher Tonhalle / Bild Alberto Venzago, Tonhalle-Orchester Zürich

Tiefe Gräben liegen zwischen dem Musikdenken der Alten und der Neuen Welt – um es einmal so pauschal zu sagen. Als John Cage 1954 bei den Donaueschinger Musiktagen und vier Jahre später bei den Darmstädter Ferienkursen in Erscheinung trat, löste das lange anhaltende Schockwellen aus. Pierre Boulez, einer der Wortführer der Nachkriegsavantgarde, stellte einigermassen ernüchtert fest, dass die durch den Zufall gesteuerten Werke Cages kaum anders klängen als seine eigene, im Geist des Serialismus konzipierte Musik. Sozusagen über Nacht geriet das Gebäude der reinen, allein aus dem Material und seiner Entwicklung gewonnen Tonkunst in Schräglage – und tatsächlich wurde Cage mit seinem unorthodoxen Erfindungsgeist zu einer Galionsfigur jener heterogenen Bewegung, die sich zur Opposition gegen die Darmstädter Ästhetik formierte.

Ähnliche Erdbebenstösse löste die ebenfalls aus den USA stammende Minimal Music aus. Einfache Formeln in mehr oder weniger modifizierten Repetitionen, Verzicht auf einen Verlauf zwischen Anfang und Ende, stabile tonale Harmonik – Parameter dieser Art stiessen bei den Verfechtern der westeuropäischen Avantgarde auf entschiedenen Widerstand. «In C» von Terry Riley, «Drumming» von Steve Reich, «Glassworks» von Philip Glass – Stücke dieser Art wurden hierzulande angefeindet, in gleichem Masse jedoch Kult. Widerspruch regte sich gegen die angeblich geringe Handwerklichkeit, ja die offenkundige Ablehnung der akademischen Basis der europäischen Avantgarde wie auch, und vor allem, gegen die Annäherung der Kunstmusik an die Popmusik. Aus genau denselben Gründen freilich wurde die Minimal Music in Europa breit rezipiert – trotz dem Odium, das dieser musikalischen Richtung anhaftete.

Wenn nun das Tonhalle-Orchester Zürich John Adams, den zwar auch schon über siebzigjährigen, aber doch einer jüngeren Garde der Minimal Music angehörenden Komponisten und Dirigenten, in Residenz einlädt und ihm das Podium für eine ausführliche Werkschau öffnet, so mag das einen Zug ins Populistische aufweisen. «Mag», muss aber nicht. Denn die Begegnung mit Adams im Zürcher Konzertsaal war und ist von hohem informativem Wert. Mit der «Harmonielehre» von 1985, für die, wäre er gesundheitlich dazu in der Lage gewesen, David Zinman nach Zürich hätte zurückkehren wollen, für die dann aber Pierre-André Valade ans Pult gerufen wurde, erschien ein ikonisches Werk im Programm. Eines, in dem sich der Amerikaner als Enkelschüler Schönbergs mit dessen gleichnamigem Buch auseinandersetzt und das so anregend wie individuell tut. Im dritten der drei März-Konzerte mit Musik von John Adams wird dann Paavo Järvi einen bunten Querschnitt durch das Œuvre des Amerikaners vorlegen – von der «Tromba lontana», zwei verhältnismässig frühen Fanfaren (1986), bis hin zu «I Still Dance», dem Beitrag zum Abschiedskonzert von Michael Tilson Thomas 2019 in San Francisco.

Ja, John Adams, der mit seiner spektakulären zeitgeschichtlichen Oper «Nixon in China» von 1987 weit über die USA hinaus bekannt wurde, ist auch zu einer Art Staatskomponist geworden. Für manche Feierlichkeit schrieb er repräsentative Musik, zum Beispiel 2003 zur Einweihung des neuen Konzertsaals von Los Angeles, der von Frank Gehry entworfenen Disney Hall, ein Konzert für elektrische Violine und Orchester. Seinen Auftritt am Pult des gross besetzten Tonhalle-Orchesters Zürich eröffnete er mit «Short Ride in a Fast Machine», einem kurzen Stück von 1986, das er zur Eröffnung eines Musikfestivals in Massachusetts geschrieben hat. Dass die Partitur, wie Adams schreibt, auf der Erinnerung an eine offenbar halsbrecherische Fahrt als Nebensitzer in einem Sportwagen fusst, spielt hier keine Rolle, mit ihrem eingängigen Verlauf weiss die schräge Fanfare immerhin zu amüsieren. Und dass sie das kurz und bündig tut, kommt ihr nur zugute.

Da lag der deutlichste Nachteil der «Naive and Sentimental Music» von 1998 – einem Werk, das in der zeitlichen Ausdehnung und der Grösse der Besetzung an eine Sinfonie Bruckners heranreicht. «Naiv und sentimental» ist hier weder wörtlich noch ironisch gemeint, Adams schliesst vielmehr, intellektuell hochstehend und geradezu bildungsbürgerlich, an eine zur Zeit Schillers geführte ästhetische Diskussion zum Verhältnis zwischen der Kunst und der sie umgebenden Welt an. Sein im Programmheft abgedruckter Text erinnert im sprachlichen Duktus durchaus an die Beiträge, mit denen die Komponisten der Avantgarde an ihre Musik heranzuführen suchten – mit dem Hörerlebnis hatte er wenig zu tun.  Im Raum stand ein sinfonischer Entwurf in drei Sätzen, der in seinen repetitiven Mustern sehr wohl an die Minimal Music erinnerte – im gleichen Masse aber auch nicht, sind in die Wiederholungen doch Brechungen eingebaut, welche die Regelmässigkeit stören und zu komplexen rhythmischen Verläufen führen. War das von einigem Interesse, so wirkten die Anklänge an Gesten der westeuropäischen Spätromantik verbraucht und retrospektiv, aus zweiter Hand, wenn nicht sogar anbiedernd.

Ähnlich ambivalente Eindrücke hinterliess «Must the Devil Have All the Good Tunes?», Adams´ drittes Klavierkonzert von 2018. Zu bewundern gab es in diesem Totentanz einen horrend virtuosen Klavierpart, der das perkussive Element des Instruments brillant nutzt und der angesichts der ausgebauten Orchesterbesetzung ein wahrhaft stählernes Fortissimo verlangt – das Werk ist ja auch für Yuja Wang geschrieben. Víkingur Ólafsson, der kometenhaft aufsteigende, 38-jährige Pianist aus Reykjavik, blieb seiner Aufgabe nicht das Geringste schuldig. Er stieb förmlich durch seinen Part, hielt sich aber jederzeit trittsicher und glänzte mit farbenreicher, felsenfest in sich ruhender Kraft. Ganz besonders eindrücklich geriet ihm freilich die Zugabe, die der Pianist als ein Zeichen an die Adresse all jener ukrainischer und russischer Frauen, die ihre Männer und Söhne verloren haben, verstanden wissen wollte. Das «Ave Maria» des Isländers Sigvaldi Kaldalóns, ein kleines, hochemotionales Stück für Singstimme und Klavier, von Ólafsson für Klavier allein gesetzt, erklang als eine innige, warm leuchtende Preziose. Emphatisch, doch ohne jeden Zug ins Kitschige. Denn deutlich hörbar waren die Oberstimme und der Bass, während die Füllstimmen die Harmonie bildeten, das aber in differenziertester Ausgestaltung auf einer je eigenen klanglichen Ebene taten. So authentisch wahrgenommen, erwies sich das Vergangene als das Gegenwärtige.