«Gehorsam wie ein Kind»

«Arabella» von Richard Strauss in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ball, ausgerichtet von den bankrotten Waldners. Oben in der Mitte die Ballkönigin Arabella (auf dem Bild Julia Kleiter, an der Premiere im Opernhaus Zürich sang Astrid Kessler), unten in der Mitte ihr spielsüchtiger Vater Graf Waldner (Michael Hauenstein), links aussen ihr Bräutigam Mandryka (Josef Wagner) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Für eine bedeutende gesellschaftliche Schicht des ehemaligen k.u.k-Reichs lag nach 1918 nicht nur die Welt, sondern ihre Existenz ganz allgemein in Trümmern. Österreich war zu einem Rumpfstaat geworden, die Geldbeutel waren leer, die Ausrufung der Republik, das Aufstreben der Linken und die manifeste Emanzipation der Frauen hatten zu einer gesellschaftlichen Umwälzung sondergleichen geführt – und draussen vor der Tür scharrten die Unzufriedenen, die sich unterm Hakenkreuz eine bessere Zukunft erhofften.

In diesem Umfeld entstand «Arabella», die letzte Zusammenarbeit zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, der kurz nach Vollendung des Librettos 1929 starb. Für Strauss war die Vertonung des Textes Ehrensache, aber auch Pflicht, wie die nicht durchgehend attraktive Partitur hören lässt. Vielleicht standen dem Komponisten auch die Zeichen der Zeit im Weg. Bei der Uraufführung der «Lyrischen Komödie» im Sommer 1933 war Hitler ein halbes Jahr an der Macht und konnte Strauss trotz seiner Position als Präsident der Reichsmusikkammer nicht verhindern, dass am Opernhaus Dresden der Dirigent Fritz Busch wie der Intendant Alfred Reucker seiner Funktionen enthoben wurden. An Buschs Stelle stand bei der Uraufführung der von Hitler geschätzte Clemens Krauss am Dirigentenpult.

Etwas von diesem Umfeld sucht Robert Carsen in seine Inszenierung von «Arabella» am Opernhaus Zürich aufzunehmen – dies im Bemühen, dem in seiner dramaturgischen Anlage, vor allem aber in seiner Aussage schwierigen Stück einigermassen beizukommen. «Arabella» spielt in Zürich nicht, wie es Hofmannsthal gewünscht hat, um 1860, sondern um 1930, und zwar in der Halle jenes vornehmen Wiener Hotels, in das sich die Familie des ruinös spielsüchtigen Grafen Waldner zurückgezogen hat. In der erlesenen Ausstattung von Gideon Davey dominieren Kostüm und Dreiteiler, Robe und Frack sowie schwarze Nazi-Uniformen von eigener Eleganz, deren Träger am Ende, einen Lidschlag vor dem finalen Blackout, der verschreckten Gesellschaft mit gezogenen Pistolen zu verstehen geben, dass jetzt endgültig die neue Zeit angebrochen ist.

Der Versuch, das Stück aus den Jahren seiner Entstehung heraus zu verstehen, ist ehrenwert, gelingt aber nicht wirklich. Die Nazi-Symbole erscheinen als verharmlosende Opern-Staffage, obwohl das von Philippe Giraudeau choreographierte Ballett vor dem dritten Akt die Verbindung zwischen dem von der Fiaker-Milli repräsentierten Volkstum und dem Nationalsozialismus krass herausstellt. Im Vordergrund stehen trotz allem der irritierend ungebrochene Abgesang auf die Welt von gestern und das Feiern eines Frauenbilds, mit dem, wenn nicht kritisch, so doch wenigstens neutralisierend umzugehen wäre – so wie es Christof Loy 2014 in Amsterdam überzeugend getan hat. Für mein Dafürhalten gibt es auch eine Unschärfe im gedanklichen Ansatz der Inszenierung. Die Veränderung in der gesellschaftlichen Rolle der Frau, wie sie vom Roten Wien nach 1918 so energiegeladen und so erfolgreich vorangetrieben worden ist, sie ist genau von jenen konservativen Kreisen, denen sich die Nationalsozialisten verbunden fühlten, bekämpft und schliesslich unterbunden worden. Warum sollten ausgerechnet die Nationalsozialisten die frivole Gesellschaft rund um Arabella mit Waffengewalt zusammentreiben?

«Gehorsam wie ein Kind» wolle sie als Gattin sein, so singt Arabella. Ob sie es wirklich will, ob sie wollen soll – es bleibt auch bei Carsen offen. Astrid Kessler, die sehr kurzfristig für die erkrankte Julia Kleiter eingesprungen ist und damit die Premiere gerettet hat, bringt ihre Partie, die so gern als die seelische Reifung eines jungen Mädchens aus gutem Hause gesehen wird, mit untadeliger Technik, mit bestechender Disposition der Kräfte und allem Liebreiz in der Stimme zum Ausdruck. Nicht immer dringt sie durch. Das in die Höhe strebende Bühnenbild schafft den Darstellern akustische Probleme, und nicht zuletzt greift die Philharmonia Zürich (Leitung: Fabio Luisi) immer wieder zu dickem Pinsel.

Etwas zu schaffen macht das auch Daniel Behle, der als Matteo durchgängig am Rand des Nervenzusammenbruchs zu stehen hat. Grossartig Valentina Farcas als Zdenka, die von ihren Eltern aus finanziellen Gründen zum Buben gemachte Schwester Arabellas, die recht eigentlich als das Zünglein an der dramaturgischen Waage wirkt. Ein Rollenporträt von enormer psychologischer Spannbreite und grandioser stimmlicher Ausstrahlung schafft Josef Wagner als der neureiche Gutsbesitzer Mandryka, der zum Schluss von Arabella das Glas Wasser überreicht bekommt, mit dem die Braut dem Bräutigam ihre Unterwerfung anzeigt. Ihm stehen mit Gräfin Adelaide, der witzig karikierenden Judith Schmid, und mit dem bankrotten Grafen Waldner, dem imposanten Michael Hauenstein, zukünftige Schwiegereltern gegenüber, die am Gefälle zwischen den Schichten wenig Zweifel lassen. «Arabella» ist auch eine Komödie über den Sozialstatus, und der Sozialstatus ergibt sich hier eins zu eins aus dem Portemonnaie. Insofern hat das Stück keineswegs nur mit der Welt von gestern zu tun.

Theater zu Musik

Massenets «Manon» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Nicht uninteressant, was der Regisseur Floris Visser zu «Manon», der Oper Jules Massenets, zu berichten hat. Er nimmt die Titelfigur ernst; er versucht, ihr Sein und ihr Tun zu ergründen. Allein, wenig, viel zu wenig davon hat seinen Weg auf Bühne gefunden. Was in der jüngsten Inszenierung von «Manon» am Opernhaus Zürich zu sehen ist, entstammt über weite Strecken einer aus den Tiefen des Fundus hervorgeholten Mottenkiste. Nichts gegen die Verlegung der Handlung von der Zeit des Ancien Régime in die Belle Epoque; das Jahrhundert der Distanzierung, das Massenet für die Pariser Uraufführung von 1884 vorgesehen hat, ist damit auch für uns Heutige gewahrt. Das ist darum von Belang, weil die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Massenet in seine Oper eingelassen hat, mit subtil ironischer Schärfe vorgetragen wird. Wie überhaupt Massenet, auch in der Ausgestaltung der einzelnen Figuren, als ein Meister des Silberstifts zu Werk geht.

Auf der von Dieuweke van Reij gestalteten Zürcher Bühne kommt davon kaum etwas zur Geltung. Die Ansiedlung der dem Anschein nach sentimentalen, in Wirklichkeit jedoch tragischen Geschichte in der Entstehungszeit von Massenets Oper führt geradewegs zu tumber Operettenhaftigkeit; die Lust auf den langen Opernabend – und er ist besonders lang, weil das selten zu sehende Ballett gezeigt wird – kommt einem deshalb rasch abhanden. Das gilt nicht für die Auftritte des alten Comte des Grieux, einer würdevollen Erscheinung; wenn Alastair Miles durch ein kleines Zeichen seines mit einem Silberknauf versehenen Gehstocks das Geschehen wendet, stockt einem der Atem. Aber dort, wo sich de Morfontaine mit dem sprechenden Vornamen Guillot (Eric Huchet), de Brétigny (Marc Scoffoni) und Lescaut (Yuriy Yurchuk) mit ihren Kurzzeitpartnerinnen vergnügen, hauen sie arg und ärgerlich auf den Lukas. Nötig wäre es nicht, die Musik erzählt ja so viel – aber wir sind im Theater, da muss es auch etwas zu schauen geben. Und etwas zu lachen, bevor es ernst wird und an die Gefühle geht.

An diesem Abend freilich geht von der Musik deutlich weniger aus, als es der Fall sein könnte. Piotr Beczała ist ein gewiefter Chevalier des Grieux; Höhe und Schmelz stehen ihm absolut sicher zur Verfügung, aber in der Verkörperung dieses jungen, unfertigen, auch in seinem Gefühlsleben noch ganz am Anfang stehenden Mannes bleibt er merklich aussen vor. Schablonenhaft wirkt er, routiniert, etwas sehr im Bann seines Könnens stehend. Seine Lineatur bleibt darum an manchem Moment unerfüllt – ausser dort, wo er als angehender Priester mit seiner Vergangenheit hadert und um seine Zukunft ringt. Auch die noch sehr junge Sopranistin Elsa Dreisig mit ihrer fürwahr bezaubernden Stimme kann noch besser in ihre Partie hineinwachsen; sie wird es ohne Zweifel tun, wenn ihr ein Regisseur wirklich Hand bietet. Und ihr ein Dirigent mit Empathie zur Seite steht.

Genau das fehlt in dieser Produktion. Marco Armiliato erweist sich ein tüchtiger Kapellmeister italienischer Bauart; Massenets feingliedrige Musik steht ihm denkbar fern. Heftig und kurzatmig schlägt er den Takt, statt dass er die Philharmonia Zürich, die an diesem Abend unter ihrem Niveau spielt, an der langen Leine führte, der Bogenbildung Raum schüfe und die für Massenet absolut zentralen Farbwerte entstehen liesse. Grob klingt die instrumentale Seite des Abends darum, überdies wieder einmal viel zu laut. Angesichts des dramaturgischen Stellenwerts, der dem Orchesterpart in «Manon» zukommt, ist das sehr zu bedauern.

Der Weltuntergang – umständehalber verschoben

«Le Grand Macabre» von György Ligeti im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Jens Larsen (Astradamors), Alexander Kaimbacher (Piet vom Fass), Leigh Melrose (Nekrotzar) und der Zeppelino im neuen Zürcher «Macabre» / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Wenn die Lichter im Saal erloschen sind, platzen sie aus dem Nichts in die Ohren: die Autohupen, die krass klingen, aber in Rede und Gegenrede ein artiges Ensemble bilden. Der fulminante Einstieg mitsamt seiner Fortsetzung, mit dem Röhren der tiefen Blechbläser und des Kontrafagotts, mit dem knarzenden Brummen der Kontrabässe, schliesslich mit dem Auftritt des dauerbesoffenen Piet vom Fass (Alexander Kaimbacher) und mit der vor nichts zurückschreckenden Fäkalsprache – es ist immer wieder eine Gaudi. Seinen Pfeffer hat das Ding allerdings verloren. Die zwei amüsante Stunden lang ausgelebte Unanständigkeit von György Ligetis Oper «Le Grand Macabre» aus den Jahren 1974 bis 1977 hat längst Züge hoher Kunst angenommen – und wenn das Stück an einem respektablen Ort wie dem Opernhaus Zürich zur Aufführung kommt, wird die Domestizierung erst recht spürbar. «Le Grand Macabre» scheint da ganz in der Oper angekommen.

Das muss nicht unbedingt so sein. Vor knapp zwei Jahren wurde «Le Grand Macabre» vom Luzerner Theater in einer Weise realisiert, die durchaus etwas von der ursprünglichen Sprengkraft des Werks lebendig werden liess. Ligetis Oper ist damals über alles hinausgeschwappt: aus dem Orchestergraben in die Proszeniumslogen und auf die Bühne, von der Bühne in den Zuschauerraum. Der engen Verhältnisse im Stadttheater Luzern wegen bildete das enorme Arsenal an Schlaginstrumenten, unter ihnen die vier Autohupen, den einheitlichen Spielort. Und als sein eigener Ausstatter hatte der Regisseur Herbert Fritsch so grelle Farben (der Kostüme) und so wirbelnde Aktion (der Darsteller) entworfen, dass die Frechheiten, die sich Ligeti in ungebremster Lust ausgedacht hat, in aller Schärfe wirksam wurden. Übrigens auch musikalisch, was nicht zuletzt auf den Dirigenten Clemens Heil zurückging.

Im Vergleich dazu ist in Zürich alles eine Spur grösser, alles ein Grad distanzierter. Die Philharmonia, das Orchester der Oper Zürich, sitzt tief unten im Graben und bringt dort eine weit grössere Streicherbesetzung ins Spiel, als es in Luzern möglich ist. Das bindet den Klang und mildert ihn – auch wenn sich hie und da Instrumentalisten aus den Logen heraus vernehmen lassen. Dazu kommen die vergleichsweise langsamen Tempi, die der fabelhafte, an die Stelle des ursprünglich angekündigten Generalmusikdirektors Fabio Luisi getretene Dirigent Tito Ceccherini wählt. Sie fördern die Textverständlichkeit, die bei diesem Werk von besonderer Bedeutung ist. Und mehr noch: Die ruhigen Zeitmasse schaffen den Raum für das genaue Zuhören und für das Entdecken der hochgetriebenen Kunstfertigkeit, die Ligetis scheinbar so vordergründigen Klamauk trägt. Es ist schon so: Jedes Mal, wenn man dem «Grand Macabre» begegnet, glaubt man sich in nur zu vertrauten Gefilden – und kann man dennoch immer wieder Neues entdecken. Jedenfalls macht die Zürcher Produktion nachhaltig bewusst, dass «Le Grand Macabre» nicht nur scharfsinniger Grand Guignol ist, sondern vor allem als ein Meisterwerk erster Kategorie gelten darf.

Auch die Regisseurin Tatjana Gürbaca scheint es so zu sehen. Gewiss sorgt sie dafür, dass sich die Figuren einen Abend lang voll ausleben können. Zugleich versucht sie aber, sie ernst zu nehmen und hinter ihre Fassaden zu blicken. Mescalina zum Beispiel ist hier nicht die keifende Domina, die den hilflosen Hofastrologen Astradamors (Jens Larsen) nach Massen drangsaliert; sie wird vielmehr als eine zutiefst liebende Frau gezeigt, die mit gewiss etwas eigenwilligen Mitteln ihrem ermatteten Gatten auf neue Sprünge zu helfen sucht. Die Spinne beispielsweise, vor der es Astradamors so offenkundig graust, ist nicht Mescalinas Haustier, sondern ihr Schamhaar, zu dem sie die Hand des schaudernden Gatten führt. Am Premierenabend erhielt das seine besonders pikante Note, weil Judith Schmid, die diese Partie einstudiert hatte, mit einer Grippe ins Bett gesunken war und Tatjana Gürbaca höchstselbst an ihre Stelle trat. Blendend, wie das die Regisseurin mit ihren tänzerischen Fähigkeiten tat. Das Singen allerdings, das überliess sie Sarah Alexandra Hudarew, die als Mescalina schon in der Luzerner Produktion mitgewirkt hatte; äusserst kurzfristig aus der Karibik nach Zürich gekommen, bewährte sie sich dort ohne Fehl und Tadel.

Dennoch fehlt es auch in dieser Produktion nicht am prallen Effekt. Wenn der bedrohliche, sich jedoch im Alkohol vergessende Nekrotzar auf der Erde erscheint, entsteigt er einem niedlichen, von zwei Propellern gesteuerten Zeppelin, wie ihn der Bühnenbildner Henrik Ahr ersonnen hat. Der Boden der Zürcher Bühne gerät bei seinem Auftritt zwar heftig ins Schwanken, doch Leigh Melrose hält sich tapfer und schleudert die Frohbotschaft vom unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang klangvoll in den Raum. Als Fürst Gogo ist der famose Countertenor David Hansen der Nachbar von nebenan (die Kostüme stammen von Barbara Drosihn); in seiner kindischen Veranlagung hätte er auch der Präsident einer Grossmacht sein können, doch genau das hat sich Tatjana Gürbaca dankenswerterweise versagt. Seine beiden Minister (Oliver Widmer und Martin Zysset) indessen wirken trotz ihrem Alphabet der Schimpfwörter etwas brav. Phantastisch dafür die Norwegerin Eir Inderhaug, welche die halsbrecherische Partie des Gepopo virtuos bewältigt. Wenn sich mitten in den herausgeschleuderten Warnrufen des Geheimdienstchefs das Volk zu Wort meldet, erheben sich adrett gekleidete Damen und Herren im Parkett und auf den Rängen. Es ist der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor, der hier für den vielleicht überraschendsten Einfall des Abends sorgt.

Schauerliches Thema, schönste Musik

«L’incoronazione di Poppea» von Claudio Monteverdi im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Über vierzig Jahre sind vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Jean-Pierre Ponnelle auf der Bühne die Opern Claudio Monteverdis in Zürich wieder ans Licht gebracht haben. Sie taten es auf Anregung des damaligen Opernhaus-Direktors Claus Helmut Drese, und es darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass damals in Gang kam, was heute selbstverständlich wirkt. «Orfeo», «Il ritorno d’Ulisse in patria» und «L’incoronazione di Poppea» gelten längst nicht mehr als Raritäten, die drei Stücke gehören in Europa vielmehr zum Standard-Repertoire. Allerdings ist die Aufführung der Opern Monteverdis noch immer mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die Partituren enthalten nämlich nur ein Skelett, meist bloss Singstimme und Bass, alles andere darf und muss, das war im 17. Jahrhundert Tradition, von den Interpreten eigenhändig eingerichtet werden. So ist es auch bei «L’incoronazione di Poppea», der letzten Oper Monteverdis, die jetzt im Opernhaus Zürich Premiere gehabt hat – knapp fünfzehn Jahre nach einer zweiten Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt am Pult.

Fast vierhundert Jahre alt ist dieses Stück, und es wirkt, als stamme es von heute. Tatsächlich zeigt «L’incoronazione di Poppea», entstanden wohl 1642, eine Versammlung von Menschen, die nichts anderes kennen als: das Ich. Sei es im Rom Kaiser Neros einige Jahrzehnte nach Christi Geburt, sei es im mächtigen, übersatten Venedig des Komponisten Claudio Monteverdi, sei es heute, im Zeitalter der Willkürherrscher und des Selfiesticks – die Verhaltensmuster sind dieselben. Im Opernhaus Zürich legt Calixto Bieito den Finger nun genau darauf, und er tut das so unbarmherzig, wie es seine Art ist. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ihm einen ovalen Laufsteg der Eitelkeiten entworfen; er läuft aus der Bühne heraus über den Orchestergraben in den Zuschauerraum und von dort wieder zurück.  Das schafft eine ungewohnte Nähe – die noch dadurch unterstützt wird, dass die Video-Einrichtung von Sarah Derendinger das Geschehen scharf heranzoomt und auf zwei Mal sieben Bildschirmen links und rechts im Raum vergrössert. Die Bühne selbst ist dominiert von einem steil ansteigenden Podest mit zusätzlichen Sitzplätzen für Zuschauerinnen und Zuschauer sowie einer Mitteltreppe, über die auf- wie abgetreten werden kann.

Die Wirkungsmacht dieses vervielfachten Raumtheaters hat den Vorteil, dass das Egomane der Figuren in Monteverdis Oper krass zutage tritt. Mit seiner unerhört klangvollen Höhe zeigt der Sopranist David Hansen, der an die Stelle des erkrankten Valer Sabadus getreten ist, den Nerone als einen Nihilisten der ersten Stunde; für diesen wahrhaft zügellosen Machthaber zählt einzig das momentane Bauchgefühl, sei es Lust oder Wut. Zuckt es ihm zwischen den Beinen, nimmt er sich, was er braucht, und sei es der Erste Offizier seiner Garde (Thobela Ntshanyana), der nach vollzogenem Akt mit einem lautlosen Kopfschuss beseitigt wird. Wer ihm jedoch widerspricht, wie es der salbungsvolle Philosoph Seneca tut (und wie es Nahuel Di Pietro mit wohlklingender Tiefe hören lässt), dem versucht der Tyrann mitten unter den Zuschauern eigenhändig die Zunge auszureissen – ein einigermassen blutiges Unterfangen wie stets bei Bieito. Abhanden kommt dem Kaiser die Macht allein vor Poppea, die ihren Weg nach oben noch eine Spur kaltblütiger verfolgt; die Domina nimmt man der ausgezeichnet singenden Julie Fuchs allerdings nicht restlos ab. Da wirkt Deanna Breiwick mit ihrem hellen Sopran als die unverstellt mit ihren Reizen spielende Drusilla doch noch eine Spur packender.

Allein, so intensiv Monteverdis Oper über die Rampe gebracht wird, so rasch zeigt der Ansatz der Produktion seine Grenzen. In ihrer blinkenden Bilderflut geht die szenische Einrichtung über eine durchschnittliche Aufnahmekapazität hinaus; vor lauter Zuschauen gerät das Zuhören bald einmal ins Hintertreffen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass die Bühnenarchitektur akustisch nicht eben zu überzeugen vermag. Delphine Galou, die den von Poppea verschmähten Liebhaber Ottone verkörpert, muss mit ihrer im Leisen verankerten Stimme merklich pressen, was bisweilen auch für Stéphanie d’Oustrac gilt, die als die von ihrem Gatten verstossene Kaiserin Ottavia einen ebenso majestätischen wie berührenden Auftritt hat. Noch schwieriger ist die Lage im Graben. Koordiniert von Ottavio Dantone, der die Partitur eingerichtet hat und den Abend vom Cembalo aus brillant leitet, bringt La Scintilla, das mit der Musik Monteverdis bestens vertraute Originalklangorchester der Oper Zürich, gewiss ein Optimum an instrumentalem Reiz ein, doch derart versenkt im Inneren des ovalen Laufstegs vermögen die Musikerinnen und Musiker ihre Vorzüge, gerade etwa im reich besetzten Generalbass, nicht wirklich zur Geltung zu bringen.

Dennoch herrscht trotz des grausigen Sujets fast durchwegs gute Laune. Das liegt an den komischen Einlagen und dem witzigen Spielen mit dem Genderismus. Die tragende Figur des Nerone wird von einem in hoher Kopfstimme singenden Mann verkörpert, während des Kaisers rasch abgehalfterter Nebenbuhler Ottone von einer tief klingenden Frau gespielt wird. Die beiden Ammen wiederum, tief liegende Frauenpartien, sind in Zürich Männern übertragen, die nicht als weibliche Vertraute, sondern als (wenigstens halb) männliche Berater erscheinen: Emiliano Gonzalez Toro als Arnalta an der Seite Poppeas, Manuel Nuñez Camelino als Nutrice an jener Ottavias. Dennoch bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass die neue Zürcher «Poppea» nicht immer das erreicht, was sie erreichen könnte – weder in der Flexibilität der Prosodie noch in der instrumentalen Agilität, weder in der orchestralen Farbigkeit noch in vokalen Qualität. Die Erinnerung an die sensationelle halbszenische Aufführung, die John Eliot Gardiner letzten Sommer beim Lucerne Festival geboten hat, steht übermächtig im Raum. Auch an das Elementare der Zürcher Wiederentdeckung von 1977 kommt sie nicht heran. Angesichts der Tatsache, dass heute vertraut ist, was damals neu wirkte, ist das aber vielleicht kein Wunder.

Heinz Holligers Traumoper

Uraufführung von «Lunea» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Dichter und seine Frauen: Heinz Holligers Oper «Lunea» in Zürich / Bild Paul Leclaire, Opernhaus Zürich

Was für ein wunderschönes Stück. Was für ein anregendes Stück. Ein Stück von heute. Eine Oper. Was heisst hier «Oper»? «Lunea» widerspricht ungefähr allem, was man gemeinhin mit Oper verbindet. Zu erleben ist vielmehr Musiktheater der dichtesten Art.

Dunkel ist’s. Rabenschwarz. Eine quadratische Öffnung lässt sich erahnen; sie nimmt Kontur an, wenn das Licht, das Franck Evin von oben hereinfallen lässt, den Blick freigibt auf die mit wenigen Strichen gezeichneten, sparsam bewegten, in einen silbernen Ton gefassten Bilder, die der Regisseur Andreas Homoki erdacht hat. Zu sehen sind Damen im Reifrock mit Schirm und Herren im Gehrock mit Zylinder – scharf charakterisieren die Kostüme von Klaus Bruns. Dazu hat der Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann hier einen Salontisch, dort ein Biedermeiersofa, bisweilen auch nur einen Sessel bereitgestellt. Mehr braucht es nicht, es spricht deutlich genug.

Mag sein, dass es so ausgesehen hat im Kopf des Nikolaus Lenau – des berühmten Dichters der Schumann-Zeit, dessen einzigartiger Ruf nicht zuletzt auf die zahlreichen Vertonungen seiner Verse zurückging. Immer wieder dieses Dunkel, immer wieder diese Erinnerungsfetzen, zum Beispiel an die diversen Frauen, denen der Dichter zugetan war, denen er aber doch nicht nahe kommen konnte. Und dann dieser Blitz, wohl ein Schlaganfall, der am 29. September 1844 den in geselliger Runde singenden Lenau traf, ihm die eine Hälfte des Gesichts lähmte und ihn auf eine Schleuderfahrt hinab in die Unterwelt des Wahnsinns trieb.

Ver-rückt war er, so sagten sie damals, so sagen wir heute. Auch Heinz Holliger sagt es – obwohl er für die geläufige Verbindung zwischen Wahnsinn und Genie wenig übrig hat. Wenn etwas Aussergewöhnliches entstehe, sei immer eine Spur Verrücktheit im Spiel; ohne diese Spur komme zum Beispiel ein Komponist nicht über das Niveau von Czerny hinaus. Es gibt genügend Beispiele in dieser Richtung, Heinz Holliger kennt sie. Dem im Turm eingesperrten Hölderlin galt seine Aufmerksamkeit im «Scardanelli-Zyklus», dem internierten Robert Walser in seiner 1998 in Zürich uraufgeführten Oper «Schneewittchen», dem Maler und Geiger Louis Soutter im Violinkonzert von 2002. Jetzt also Nikolaus Lenau, der 1850 im Alter von nur 48 Jahren in einer psychiatrischen Klinik bei Wien starb.

Den Dichter kannte Holliger schon lange. Dem Patienten begegnete er, als ihm vor Jahren Lenaus «Notizbuch aus Winnenthal» in die Hände fiel. In diesen Aufzeichnungen aus einer psychiatrischen Klinik bei Stuttgart finden sich Lebens-Sätze, die in Form wie Inhalt weit über die Gedichte Lenaus hinausgehen. An ihnen hat sich Holligers Phantasie entzündet; einige hat er zur Grundlage für einen Vokalzyklus mit dem Titel «Lunea» gemacht. Die 23 Sätze für Bariton und Klavier oder 23 Instrumentalisten von 2013 bilden das Gerüst von «Lunea», der abendfüllenden Oper Holligers, die vom Opernhaus Zürich bestellt und jetzt zu bejubelter Uraufführung gebracht worden ist. Händl Klaus, der ebenso versierte wie phantasiebegabte Librettist, hat die Leitsätze neu angeordnet und durch weitere Satzfragmente ergänzt. In einem Akt berührender Empathie hat sich der Librettist in das Leben und das Schreiben Lenaus eingegraben; jedes Wort im Textbuch zu «Lunea» stammt von Lenau.

Eine Geschichte wird nicht erzählt. Jenseits jeder Logik, vielmehr nach der Art eines Traums werden Situationen evoziert, die sich mit dem Leben Lenaus in Verbindung bringen lassen. Einige seiner Frauen ziehen vorbei, etwa die verheiratete Sophie von Löwenthal, die Lenau besitzen, aber nicht haben wollte, die manisch verehrte Mutter oder der unverbrüchlich treue Schwager Anton Schurz. Das fügt sich in Zürich zu einem Bilderbogen, der durch eine schwarze Wand gegliedert wird. Formal bestimmend ist dabei das Verfahren der Symmetrie, wie es sich schon im Werktitel, einem Anagramm des Dichter-Namens, niederschlägt. Ihren Ursprung findet diese Idee im Wirken des Psychiaters und Schriftstellers Justinus Kerner, eines Freundes von Lenau, der Tintenkleckse auf einem Papier durch dessen Faltung verdoppelt hat (was ein knappes Jahrhundert später im Rorschachtest wiederaufgenommen wurde). Ab der Mitte der Oper läuft vieles rückwärts, werden auch Schlüsselworte in ihre buchstabengetreue Umkehrung gesetzt. Und die teilende Wand, die in der ersten Hälfte des Abends von links über die Szene fährt, nimmt ihren Weg im zweiten von rechts. Selbst die Logik der Zeit, so Holliger, sollte in seiner Oper aufgehoben sein.

Als Rezipient wird man durch das Stück in eine Art Schwebezustand versetzt, was die Musik in ihrer Weise nachhaltig unterstützt. Schon allein durch ihre Langsamkeit, die der Komponist am Dirigentenpult mit einer Radikalität sondergleichen realisierte. Vor allem aber fesselt die Partitur durch den Reichtum ihrer Assoziationen. Holligers Musik, so enigmatisch sie in einem ersten Höreindruck erscheinen mag, wirkt in ihrer Weise doch sehr beredt, und das auf vielen Ebenen, strukturell wie klanglich. Manche Einzelheit der musikalischen Formung reflektiert das Leben Lenaus (oder jenes des Komponisten). Und durch die Verwendung tradierter Modelle wie der barocken Floskel des passus duriusculus, des Abstiegs in Halbtönen als Ausdruck höchsten Schmerzes, werden mit kleinen Zeichen grosse Wirkungen erzielt. Das alles in einem äusserst delikaten Klangbild. Leise, farbenreich und äusserst vielgestaltig kommt die Musik daher; sie fordert höchste Aufmerksamkeit und belohnt den Zuhörer durch eine Sinnlichkeit, wie sie sich in der neuen Musik nicht von selbst versteht. Ein Spätwerk ist Holligers «Lunea», getragen von in langen Jahren gereiftem Handwerk, belebt durch nicht versiegende Inspiration, hochgetrieben bis zum Manierismus. Eben: überaus anregend und wunderschön.

Der Regisseur Andreas Homoki und seine Mitstreiter haben absolut bezwingend, um nicht zu sagen: genau richtig auf die Partitur reagiert, nämlich musikalisch. Wie der Komponist und sein Librettist arbeiten sie mit Assonanzen und Andeutungen, konkret in der Erscheinung und abstrakt in der Bedeutung. Und Christian Gerhaher in der Titelpartie ist darum eine Idealbesetzung, weil dieser Tage kein Sänger so ausgeprägt von der Sprache her denkt wie der deutsche Bariton mit seinem herrlich zeichnenden Timbre. Ebenbürtig stehen ihm Juliane Banse als Sophie von Löwenthal und Ivan Ludlow als Anton Schurz, aber auch Sarah Maria Sun und Annette Schönmüller zur Seite. Die von Raphael Immoos geleiteten Basler Madrigalisten und die 34 Mitglieder der Philharmonia Zürich tragen das Ihre zu einer Produktion bei, die von der ungebrochenen Gegenwärtigkeit des Musiktheaters zeugt.

Weitere Vorstellungen am 8., 13., 15., 18., 23. und 25. März 2018.

Opera seria als Chance und Gefahr

Mozarts «Idomeneo» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Vor dem Opfer: Idomeneo (Joseph Kaiser) und sein Sohn Idamante (Anna Stéphany) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Das Beste am jüngsten Premierenabend im Zürcher Opernhaus geschah gleich zu Beginn. Es war die Ouvertüre. Da befanden sich Wolfgang Amadeus Mozart und sein «Idomeneo», das Orchester «La Scintilla» und der Dirigent Giovanni Antonini in Übereinstimmung: in einem sehr persönlichen und hochanregenden Einklang. In markigem Ton nahm Antonini den Eintritt in die tragische Verstrickung, denen die fünf Figuren des Geschehens ausgesetzt sind. Die Bässe, nur zwei an der Zahl, aber ausserordentlich präsent, liessen drohendes Unheil anklingen, die liegenden Töne erhielten durch den Verzicht auf das Vibrato klar umrissene Konturen. Und dann die Holzbläser, insbesondere die von Mozart hier erstmals eingesetzten Klarinetten, sie traten deutlich heraus und schufen farbliche Vielfalt. Über allem herrschte der spezifische Geist, für den Antonini steht: ein Klima des pointierten Kontrasts, der deutlichen, aber stets elegant federnden Formulierung.

In der Folge freilich ging der vielversprechende Ansatz nach und nach verloren. Was spannend begann, wurde behäbig, ja verströmte bisweilen jenen Anflug an gepflegter Langeweile, der so rasch mit der Opera seria verbunden wird – selbst das grosse, eindrucksvolle Quartett im dritten Akt entbehrte der Ausstrahlung. Ursache für den Spannungsverlust waren die spürbar langsamen Tempi, die der Dirigent anschlug. Mag sein, dass sie Antoninis Vorstellungen entsprachen; vielleicht suchte der Dirigent dem genialen Jugendwerk Mozarts – der Komponist war bei der Münchner Uraufführung 25 Jahre alt – in der klanglichen Verwirklichung Tiefe und Würde zu verschaffen. Indes widerspricht das doch merklich dem Temperament Antoninis, wie es aus seinem Umgang mit Haydn und Beethoven bekannt ist. Plausibler erscheint darum die Vermutung, dass die Gründe weder beim Dirigenten noch bei dem hellwach mitwirkenden Orchester zu suchen sind, dass sie vielmehr bei der Besetzung liegen, die hier im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen des Opernhauses Zürich suboptimal geraten ist.

Fast alle Sängerinnen und Sänger des Abends hatten ihre liebe Mühe mit der stilgerechten Ausführung ihrer Partien; sie kämpften mit technischen Problemen, vor allem mit der Beweglichkeit der Stimme – was den Dirigenten dazu bewogen haben mag, die Tempi zu senken. Trotz dieser Massnahme blieb eine eigenartige Differenz zwischen der rhythmischen Präzision, die aus dem Orchestergraben kam, und dem Genuschel auf der Bühne. Die Ausnahme bildete Hanna-Elisabeth Müller (Ilia), die, wiewohl eher im romantischen Repertoire beheimatet, ihre Stimme so schlank zu führen wusste, dass die Perlenketten in ihrer Partie als solche wahrzunehmen waren und die Triller tatsächlich Triller wurden. Auf der anderen Seite der Skala steht Joseph Kaiser als Idomeneo. Die Majestät des Helden und die Winzigkeit des verzweifelten Menschen verkörperte er eindrucksvoll, aber im stimmlichen Vermögen, zumal in der Zeichnung der Lineaturen, blieb er weit hinter der szenischen Darbietung zurück – was mutatis mutandis auch für Anna Stéphany (Idamante) gilt. Deutlich unter der Schwelle Airam Hernandez (Arbace), der Mühe mit der Intonation hatte und zudem nicht über ausreichend Tiefe für diese Partie verfügt, weshalb Antonini das Orchester an den entsprechenden Stellen überraschend drosseln musste. Wenig befriedigend auch Guanqun Yu (Elettra), deren starkes, schnelles Vibrato die Klarheit der Tonhöhen beeinträchtigte.

Gleichwohl wurde gerade an der Figur der Elettra deutlich, in welcher Weise sich die Regisseurin Jetske Mijnssen diesem schwierigen Stück näherte. In der sehr zurückhaltenden, gerade darum attraktiven Inszenierung ist Elettra nicht die manische Furie, als die sie oft genug erscheint, sondern eine heftig verliebte Frau, die nach ihrer Niederlage von dem ebenfalls relegierten Idomeneo getröstet wird. Und sie ist eine Frau von heute, wie der glänzende Hosenanzug erweist, den ihr Dieuweke van Reij hat schneidern lassen. Nichts lässt in dieser Inszenierung von «Idomeneo» auf den Schauplatz in der Antike schliessen, die Figuren lieben und leiden in der Gegenwart: in Anzug und Krawatte. Und sie tun dies in einer Weise, welche die tiefe Empathie der Regisseurin erkennen lässt und von berührender Wirkung ist. An die klassische Tragödie erinnert vielleicht der Einsatz des Chors – der freilich ebenfalls nicht als das kommentierende Volk, sondern in echt Felsensteinscher Manier als eine Gemeinschaft mitleidender Individuen erscheint. In der Ausgestaltung des Einzelnen liegt der Lebenskern der Inszenierung – die im übrigen (und abgesehen von einigen szenischen Assoziationen) auf jeden Ausstattungsprunkt verzichtet. Die von Gideon Davey gestaltete Bühne bleibt leer, begrenzt durch die in den Farben des Meeres gehaltenen Wände, die sich dann heben, wenn der Moment besonders wird. Würde etwas angemessener gesungen, es hätte durchaus etwas werden können aus dem neuen Zürcher «Idomeneo».

«Orest» von Manfred Trojahn im Opernhaus Zürich

Kreative Aneignung und pralles Theater

 

Von Peter Hagmann

 

Verlöscht ist das Licht, Stille verbreitet sich – da: ein gellender Schrei. So ist es im Theater, wenn es gut ist: wenn es vom scharfen wie vom geistreichen Effekt lebt. Und so ist es bei Hans Neuenfels, der jetzt für die Oper Zürich «Orest» von Manfred Trojahn auf die Bühne gebracht hat. Der Radikalinski von einst geht dem Einakter des 1949 geborenen Deutschen sorgfältig denkend wie kreativ deutend auf den Grund und setzt ihn in Bilder um, die er sensibel aus der Sache selbst, vor allem aus der Musik entwickelt. Das hochinteressante, musikalisch ausgesprochen attraktive Stück zeigt hier seine ganze Plausibilität – und es tut das deutlicher als bei der Amsterdamer Uraufführung von 2011 (https://www.nzz.ch/taten-und-ihre-folgen-1.13683501). Wesentlichen Anteil daran tragen die Philharmonia Zürich, die unter der Leitung von Erik Nielsen, dem Musikdirektor des Theaters Basel, zu prononcierter Formulierung findet, sowie ein vorzüglich zusammengestelltes Team an Sängerinnen und Sängern auf der Bühne.

Orest (Georg Nigl) im Fieberwahn / Bild Judith Schlosser, Opernhaus Zürich

Was zu Beginn ins Dunkel fährt, ist der Schrei Klytämnestras, die von ihrem Sohn aus Rache für den Mord an dessen Vater Agamemnon den tödlichen Streich empfängt. Der Schrei stammt aus einem anderen, gut hundert Jahre älteren Einakter; tatsächlich schreibt Manfred Trojahn fort, was in «Elektra» von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ausgeführt ist. Gleich, wie es Heinz Holliger in seiner grossartigen, viel zu selten gespielten Oper «Schneewittchen» tat, und doch anders. Denn Holliger sann dem bekannten Märchen mit Hilfe eines Textes von Robert Walser nach, während sich Trojahn sein eigenes Libretto geschrieben hat. Er eröffnet sich so die Möglichkeit, den Mythos in ein persönlich gefärbtes Licht zu rücken.

Niedergedrückt und beinah zum Wahnsinn getrieben, so erscheint Orest mit seinen Schuldgefühlen zu Beginn des Stücks. Dort hat Apollo (Airam Hernandez) noch Verfügungskraft über den Muttermörder – mit einer Macht, die er am Ende verliert. Nachdem Orest dem Blick der jungen, unversehrten Hermione begegnet ist, weiss er, dass er seinen eigenen Weg gehen muss: ganz allein, in selbst verantworteter Autonomie. Auch ohne seine Schwester Elektra (Ruxandra Donose), die ihn für ihre Rache zu instrumentalisieren sucht. Insofern eignet Trojahns Oper durchaus ein aufklärerischer Zug, wofür man in diesen Zeiten der Reaktion und der Demagogie nicht dankbar genug sein kann. Mag sein, dass der sensationelle Erfolg, den das Stück an seiner Zürcher Premiere erzielt hat, auch damit zu tun hat.

Der Blickwechsel zwischen Orest und Hermione, dieser Schlüsselmoment des Stücks, wird von Hans Neuenfels ohne jede Aufregung, ganz natürlich aus den beteiligten Personen entwickelt. Hermione – Claire de Sévigné, eine junge Sängerin aus dem Opernstudio, erfüllt diese Partie gerade stimmlich mehr als überzeugend – sucht die Augen Orests, der weicht aber aus, bis er schliesslich doch den Kontakt wagt. Worauf es weder zum Auftritt eines Deus ex machina noch zum lieto fine kommt, sondern zum ruhigen Abgang Orests dem nun offenen Hintergrund zu. Da kommt ein Mensch zu sich selbst, der zu Beginn als krank vor Gram gezeigt wird. Aus dem ganzen Raum rufen die Erinnyen – es sind sechs Frauenstimmen und sechs Solo-Violinen – die Schuld in Erinnerung, die verstummte Klytämnestra liegt im Hintergrund der Bühne in ihrem blutverschmierten Laken, während Orest nicht weiss, wohin mit seiner Verzweiflung. Wie Georg Nigl das fasst, welche Spanne an stimmlichem Vermögen er ausschreitet und wie furchtbar er seinen stechenden Blick dahin und dorthin richtet, das raubt einem den Atem.

Auch darum, weil es von so eminent theatralischer Wirkung ist. Wie überhaupt an diesem Abend eine Theaterlust sondergleichen herrscht. Wenn Apollo, begleitet von den tiefen Tönen eines Heckelphons davon träumt, wie er Helena als Sternbild am Himmel fixiert, erscheint die schönste Frau der damaligen Welt in Person: hochtoupiert, blondiert, mit Sonnenbrille – und einem Kostüm, das exakt den vom Gott besungenen Sternenhimmel darstellt.

Helena (Claudia Boyle) und die Mannen / Bild Judith Schlosser, Opernhaus Zürich

Wenig später lässt Claudia Boyle, die diese Partie glänzend meistert, das Kostüm stehen und tritt aus ihm heraus wie aus einem Kleiderkasten. Schon öffnet sich der Bühnenhintergrund und lässt ein enormes Trojanisches Pferd sehen, aus dem sich ein Krieger in Vollmontur nach dem anderen abseilt: So wie Orests Schuld präsent ist, so gegenwärtig bleibt der mythologische Zusammenhang. Und so gesichert ist neben allem visuellem Effekt die Verständlichkeit des Geschehens, die in der durchwegs ausgezeichneten Diktion der Darsteller ihre Entsprechung findet.

Auch lässt die von Katrin Connan entworfenen Bühne immer wieder sehen, dass Trojahns Musik nicht durch Zitate, aber durch Assonanzen Kontakt aufnimmt zu Meilensteinen der Operngeschichte. Helena erscheint als ein Urweib wie Lulu, und so ist diesem Frauenzimmer ein Groom beigesellt, der rote Teppiche ausrollt, im entscheidenden Augenblick aber die Contenance verliert wie sein Pendant in Bergs Oper. Menelaos wiederum, von Andrea Schmidt-Futterer in einen scharf charakterisierenden Mantel von schwarzem Samt gehüllt, der in schwarze Handschuhe ausläuft, auf denen unzählige Goldringe blinken – Menelaos wird von Raymond Very pointiert als der opportunistische Politiker der Stunde gezeigt, zugleich aber auch als Ebenbild von Ägisth aus «Elektra» oder Herodes aus «Salome» von Strauss. Dabei tut sich weder hier noch sonstwo ein Widerspruch zu der vielschichtigen, sehr persönlichen Musik Manfred Trojahns auf. Weshalb man sich mit grossem Gewinn auf diese grandiose Produktion einlassen kann.