«Guercœur» von Albéric Magnard
an der Opéra national du Rhin in Strassburg
Von Peter Hagmann
Die Idee muss man haben. Die richtigen Künstler sind zu gewinnen. Die Produktion muss gegen Bedenken verteidigt werden. Das alles ist Alain Perroud gelungen – und so hat der derzeitige Intendant der Strassburger Nationaloper (und designierte Nachfolger Aviel Cahns am Genfer Grand Théâtre) seinem Haus einen überwältigenden Erfolg beschert. Und dem Komponisten Albéric Magnard (1865 bis 1914) wie seiner vollkommen vergessenen Oper «Guercœur» (1901) – sie ist seit der Pariser Uraufführung von 1931 in Frankreich nie mehr gespielt worden – möglicherweise den Eintritt ins Repertoire eröffnet.
Magnard? «Guercœur»? Da muss zunächst die Faktenlage geklärt werden, was anhand des umfangreichen, informativen Programmbuchs der Opéra national du Rhin ohne Schwierigkeit getan werden kann. Auf dem Hügel von Montmartre als Sohn eines Pariser Journalisten geboren, wächst Albéric Magnard nach den massiven Umwälzungen von 1870/71 in den turbulenten Jahren der Troisième République auf. Eine grossbürgerliche Jugend. Er studiert Jurisprudenz, absolviert seinen Militärdienst – und fährt 1886 nach Bayreuth, wo er «Tristan» und «Parsifal» hört und sich danach zu einem Leben als Komponist entscheidet. Nach der Ausbildung am Pariser Konservatorium und als Privatschüler bei Vincent d’Indy baut er in stetem Fluss sein Œuvre mit Opern, Sinfonien, Kammermusik, Liedern. Und wird auch aufgeführt. Daneben schreibt er Musikkritiken im «Figaro», der vom Vater als Chefredaktor geleiteten Tageszeitung. Von der Pariser musikalischen Gesellschaft mit ihren Salons und ihren Eitelkeiten hält er sich fern, was sich nach dem frühen Tod des Vaters 1894 rächt – jedenfalls wird dann seine Musik in Paris kaum mehr gespielt.
Mehr und mehr zieht sich Magnard von der tonangebenden Schicht in Paris zurück. Er beendet seine Tätigkeit als Musikkritiker, stellt sich dafür aktiv hinter den Schriftsteller Emile Zola nach dessen Artikel «J’accuse…!», der die von Antisemitismus geprägte Affäre rund um den Offizier Alfred Dreyfus auslöst. Und er schliesst er sich der Schola Cantorum an, unterrichtet kurze Zeit dort und veröffentlicht, um den Musikverlagen aus dem Weg zu gehen, seine Werke im Eigenverlag, dies im Rahmen einer von der Schola betriebenen Genossenschaft. 1904, unterdessen ist die Oper «Guercœur» entstanden, bezieht Magnard mit seiner Familie ein Haus in Baron, einem kleinen Dorf nördlich der Capitale.
Dort ereilt ihn sein tragisches Schicksal. Wie am 4. September 1914, die Familie hatte der Komponist bei Verwandten in Sicherheit gebracht, deutsche Soldaten auf dem Einmarsch in Frankreich vor dem verbarrikadierten Haus erscheinen, erschiesst Magnard deren zwei, worauf die Deutschen das Anwesen in Brand setzen und der Komponist mitsamt einem Grossteil der unveröffentlichten Werke verbrennt. Nach Kriegsende wird er als Held gefeiert, wird die Rue Richard Wagner im Seizième auf Anregung von Anwohnern in Rue Albéric Magnard umbenannt. Seinem Werk bringt das wenig.
Raub der Flammen wurde damals auch die handschriftliche Partitur von «Guercœur». In Abschrift erhalten blieb der zweite von drei Akten, von den Eckteilen gab es nur mehr den Klavierauszug – den der Dirigent Guy Ropartz, ein enger Freund Magnards, aus der Erinnerung orchestrierte und damit eine Aufführung überhaupt erst ermöglichte. Am 24. April 1931 wurde «Guercœur» an der Opéra de Paris aus der Taufe gehoben. Nach elf Vorstellungen verschwand das Werk in der Versenkung. Aus der hat sie die Strassburger Rheinoper nun ans Licht geholt und mit einer mustergültigen, ebenso anregenden wie bewegenden Produktion gezeigt, was für ein Meisterwerk in den Kanon aufzunehmen wäre.
Unter der Leitung von Ingo Metzmacher klingt das Orchestre philharmonique de Strasbourg so akkurat, ja brillant wie schon lange nicht mehr; und keinen Wunsch lässt der von Hendrik Haas trefflich vorbereitete Opernchor offen. Metzmacher spielt Magnards sehr individuelle Reaktion auf die Musiksprache Wagners voll aus, der Dirigent lässt auch den symphonischen Zug der Partitur, die zahlreiche Orchesterzwischenspiele enthält, ungeschmälert zur Geltung kommen. Zugleich arbeitet er aber ebenso sogfältig an der französischen Klanglichkeit, die vielleicht am ehesten in der Behandlung der Bläser zu Ausdruck kommt. Man muss sich etwas einhören; ist das gelungen, kann man hier schönste Musik der französischen Spätromantik entdecken – Musik jenseits des «wagnérisme» eines César Franck, aber auch fern der Tendenzen zum Aufbruch bei Debussy und Ravel. Durchwegs höchststehend auch die Besetzung der Vokalsolisten mit Stéphane Degout an der Spitze, der mit seinem hell strahlenden Bariton und seiner starken szenischen Ausstrahlung die Titelpartie mit einem eindrucksvollen Profil versieht.
Das ist darum von Bedeutung, weil sich in der Figur von Guercœur, der eigenartige Name setzt sich zusammen aus «Krieg» und «Herz», in gewisser Weise der Komponist selbst spiegelt – mit seinem Naturell und seinen Idealen. Das von Magnard selbst erdachte und verfasste Libretto erzählt von einem Mann, der die Liebe seines Lebens gefunden und als Politiker sein Volk von Tyrannei und Knechtschaft befreit hat, der aber auf der Höhe seiner Existenz einen plötzlichen Tod erleidet. «Guercœur» beginnt also mit einem toten Helden, schon das ist ungewöhnlich. Und der erste Akt spielt im Himmel, aber nicht bei Gott und den Engeln, das wäre dem erklärten Laizisten Magnard zuwider gewesen, vielmehr in einem Paradies, in dem Zeit und Raum aufgehoben sind und aus der Mythologie genährte Figuren wie La Vérité (imposant Catherine Hunold), La Bonté (Eugénie Joneau), La Beauté (Gabrielle Philiponet) und La Souffrance (Adriana Bignagni Lesca mit klangvollem Alt) den Ton angeben. Dort, im Kreis der Schatten, ist es Guercœur herzlich langweilig, er möchte zurück ins Leben und seine Mission wiederaufnehmen. Was ihm von La Vérité gewährt wird.
Der Regisseur Christof Loy zeigt diesen Beginn vor einer schwarzen Wand. Quer zieht sie der Bühnenbildner Johannes Leiacker durch den ansonsten leeren Raum. Und in choreographischer Personenführung bewegen sich die von Ursula Renzenbrink gewandeten Darstellerinnen und Darsteller durch das sich langsam entwickelte Geschehen. Umso herber die Rückkehr Guercœurs im seinerseits dreiteilig gehaltenen zweiten Akt, für den die Wand weiss wird und durch einen Spalt ein Stück heiler Natur sehen lässt. Zwei Jahre nach seinem Tod findet der Held seine so innig geliebte Gattin Giselle (Antoinette Dennefeld) in den Armen seines Schülers und Nachfolgers Heurtal (Julien Henric), und der vertritt das Gegenteil der bei seinem Meister erlernten Ideale der Aufklärung. Heurtal ist vielmehr ein Populist, der fies manipuliert, brutal nach der Macht greift und sich vom Volk erst zum Konsul und dann zum Tyrannen ernennen lässt. Was Christof Loy hier an Spannung zwischen den Figuren erschafft , wie er den Akt aufheizt, bis die Masse ihren Retter von ehedem zu Tode schlägt, ist von einer Wirkung sondergleichen. Geläutert kehrt Guercœur ins Paradies zurück, wo ihm La Vérité die Utopie eines wahrhaft menschlichen Daseins vor Augen führt – eines Daseins ohne Konflikte, in einem Gleichgewicht der Kräfte, im Zeichen von Freiheit und Wertschätzung für Nächsten.
Spätestens hier, nach einem intensiven Opernabend, ist nicht zu übersehen, was «Guercœur», das Werk Albéric Magnards von 1901, mit dem hic et nunc zu tun hat.