Alte weise Männer – fast

Auftritte des Tonhalle-Orchesters Zürich
und des Berner Symphonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konstellation war zu verlockend. Wie es beim Tonhalle-Orchester Zürich nun mal so Sitte ist, war David Zinman, der erfolgreiche Chefdirigent zwischen 1995 und 2014 und heutige Ehrendirigent, für einen Abend nach Zürich eingeladen. Vorgesehen war Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5, später ist daraus die Nr. 4 geworden. Für fast denselben Zeitpunkt war beim Berner Symphonieorchester dessen langjähriger Chefdirigent Mario Venzago für einen Abend des Wiedersehens angekündigt. Auch bei ihm stand eine Sinfonie Bruckners auf dem Programm, nämlich die Dritte, die Venzago vor fast zehn Jahren mit dem Berner Orchester aufgenommen hat. Im Raum stand also ein reizvoller Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Kunst des Dirigierens und das Lebensalter auf der Basis der bekanntlich nicht gerade einfachen Musik des Meisters von Sankt Florian.

Allein, es hat nicht sollen sein. David Zinman, inzwischen 86 Jahre alt, war von ärztlicher Seite empfohlen worden, auf die Reise nach Europa und den Auftritt auf dem Konzertpodium zu verzichten, was der Dirigent so selbstverständlich wie bedauerlicherweise respektierte. In aller Eile musste denn auch für Ersatz gesorgt werden; gefunden wurde er in der Person des 27-jährigen Österreichers Patrick Hahn, der schon in vieler Munde ist und jetzt in der Grossen Tonhalle Zürich debütiert hat. Derzeit wirkt er in Wuppertal, und dort lässt er sich als «jüngster Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum» vorstellen. Aus dem Spaziergang mit zwei alten weisen Männern wurde darum nichts, es kam vielmehr zur Begegnung zwischen einem hocherfahrenen Könner und einem Nachrückenden, der mit Mut nicht nur das Konzert, sondern sogar das Programm gerettet hat.

An sich will das Lebensalter nichts heissen. Legt ein junger Dirigent Wert auf seine Jugendlichkeit und wagt er sich an ein Stück wie die Vierte Bruckners, hört man jedoch mit besonderer Genauigkeit hin. Zu sagen ist: Sehr ordentlich, wie Patrick Hahn die wohl beliebteste der Sinfonien Bruckners gemeistert hat, aber für eine Erleuchtung reichte es nicht; es kam zu einer respektablen Wiedergabe, aber nicht zu einer Interpretation im eigentlichen Wortsinn. Mit seinem abgespreizten kleinen Finger an der rechten, den Taktstock führenden Hand gab sich Patrick Hahn als ein Dirigent alter Schule zu erkennen, der dem Orchester distinguiert, aus einer Position der Übersicht heraus vorangeht. Wirklich im Griff hatte Patrick Hahn die Zürcher Formation allerdings nicht, und die Konturen einer Meinung des Dirigenten zum Werk blieben merklich unscharf.

Zu wünschen übrig liess etwa die Balance. Die Posaunen bliesen sich immer wieder in den Vordergrund, was nun einmal ausgesprochen unschön klingt. Und in den letzten Takten der Sinfonie war der berühmte Hornruf, der das Werk eröffnet hat und sich an dieser Stelle als Krone auf das dreifache Forte des gesamten Orchesters zu setzen hätte, nicht der Spur nach zu vernehmen. Die Zeichengebung mit den beiden meist parallel geführten Händen, die Fokussierung der Blickrichtung des Dirigenten auf die Ersten Geigen, die Beiläufigkeit der Phrasierung, die auf wenig Gespür für das Atmen der Musik zurückgeht, der brave Umgang mit den Tempi – Symptome solcher Art zeigen, dass es hier noch reichlich Luft nach oben gibt. An der Begabung Patrick Hahns ist freilich kein Zweifel.

An jener der Geigerin Noa Wildschut erst recht nicht. Keck ging die erst 22-jährige Musikerin aus den Niederlanden das Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219, an: im Kopfsatz mit noch etwas viel Mainstream-Vibrato, im weiteren Verlauf aber mit immer mehr überraschenden Einfällen, zum Beispiel mit spannend gestalteten Trillern. Auch wenn noch nicht alles restlos gefasst erschien, trat da doch ein ganz eigener Ansatz zutage; er nimmt viel von jenen Energien auf, die das Mozart-Bild im späten 20. Jahrhundert so entschieden aufgefrischt haben. Wie genuine Vitalität in Kunst übergeführt werden kann, erwies aber ganz besonders Sol Gabetta. Innig verbunden mit dem Berner Symphonieorchester und Mario Venzago gab sie das selten gespielte, weil technisch wie gestalterisch anspruchsvolle Cellokonzert Nr. 2 in d-Moll, p. 119, von Camille Saint-Saëns. Dass das Stück als etwas spröde gilt, konnte man gleich vergessen, so überzeugend, mit so viel Schwung, so reichem Klangspektrum, so vielfach differenziertem Vibrato und ausserdem ohne jedes unnötige Portamento bewältigte sie ihren Part.

Eröffnet wurde der Abend im Berner Stadtcasino – er hätte schon längst stattfinden sollen, musste der Pandemie wegen aber verschoben werden – mit der Uraufführung von «Hymnus», einem Auftragswerk des Baslers Balz Trümpy: einer Verneigung vor Anton Bruckner und einer Reminiszenz an die Avantgarde von ehedem in persönlicher Handschrift. So lag denn nahe, dass nach der Pause Bruckners Dritte, in d-Moll wie das Cellokonzert von Saint-Saëns, auf den Pulten lag. Keineswegs von selbst versteht sich die Individualität, in der Mario Venzago an die Musik Anton Bruckners herangeht. An Klangfülle fehlte es nicht in der an Wagner orientierten Sinfonie, doch blieb das Blech jederzeit sinnvoll ins Ganze eingebunden und erschien die Farbenpracht der Partitur in hellem Licht. Nicht wenig zum lebendigen Bild beigetragen hat die Erhitzung der Spannungsverläufe durch die Arbeit mit Tempo und Attacke, eine Anleihe an Auffassungen des frühen 20. Jahrhunderts, und andererseits durch die Integration des geraden, ohne Vibrato versehenen Tons, wie er in der alten Musik wiederentdeckt worden ist. Mario Venzago ist ein wacher Geist, offen für die Geschichte wie die Gegenwart, und seine langjährige Erfahrung lässt ihn aus einem opulenten Fundus schöpfen – als ein alter weiser Mann.

Kinderschmerzen, erfolgreich gelindert

«L’Enfant es les sortilèges» von Ravel und Tschaikowskys «Iolanta» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger als noch intakte Teetasse, Michał Prószyński (Teekanne) und Amelie Baier in voller Zerstörungswut / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Natürlich weiss das Kind, dass es seine Hausaufgaben zu erledigen hätte, die Mutter hat es ausdrücklich daran erinnert. Nur hat das Kind darauf absolut keine Lust; Lust hat es vielmehr darauf, böse zu sein, der Mutter die Stirn zu bieten und das wohlgeordnete Heim zu attackieren. Das geht anfangs gut, doch mit einem Mal verändert sich die Umgebung. Sie belebt sich. Die ihres Deckels beraubte Teekanne beginnt zu sprechen (natürlich auf Englisch, der Tea ist ja über das Commonwealth auf uns gekommen), der immer wieder zu Boden geworfene Wecker, der aufgeschlitzte und nach Massen ausgeweidete Teddybär, das zahme, aber nichtsdestotrotz malträtierte Eichhörnchen, sie alle beklagen sich über die ihnen zugemutete Behandlung. Ein Katzenpaar führt dann allerdings vor, wie das geht: lieb sein. Das Kind, nicht wenig erschrocken über sein bisheriges Verhalten, hat ein Einsehen. Ob es die Hausaufgaben erledigt, bleibt offen, aber immerhin zeigt es tatkräftiges Mitleid.

«L’Enfant et les sortilèges», die von Colette erfundene Geschichte, ist und bleibt entzückend, das finden auch die nicht wenigen Kinder, die an diesem Sonntagnachmittag an Vaters und/oder Mutters Hand ins Stadttheater Bern gefunden haben und dort gebannt dem Geschehen folgen. Es wird von den Bühnen Bern in einer sympathisch kindergerechten, zugleich nirgends anbiedernden Weise vorgestellt. Patrick Bannwart (Bühne) und Moana Stemberger (Kostüme) haben das Kinderzimmer, das sich später in einen nächtlichen Garten weitet, so stimmungsvoll eingerichtet, wie es das Libretto andeutet: die Welt der Erwachsenen übergross, die für das Kind erschreckenden Erscheinungen witzig und effektvoll. Und David Bösch führt als Regisseur das grosse, durchwegs ausgezeichnet besetzte Ensemble hin zu lebendiger, aber diskreter Bewegung.

Getragen wird die Aufführung auch von der Musik Maurice Ravels, der in diesem Einakter nicht nur seine Einfallskraft, nicht nur seine Handschrift, sondern vor allem einen prägenden Zug seiner Persönlichkeit herzeigt. Das Kleine, das Verspielte, das Naturhafte, das Kindliche, ja die Kinder überhaupt und mit ihnen die Tiere und die Blumen – all das lag dem Komponisten besonders nahe, und in «L’Enfant et les sortilèges» hat er es in hellen, sehr charakteristischen Klang gefasst. Barockes gesellt sich zum Jazz, die Assonanz an den Opernton zur Revue; manch schräger Ton, manch überraschender Auftritt eines Instruments sorgt für Erheiterung – Postmoderne avant la lettre findet hier statt, freilich fern jeder Nostalgie, vielmehr stets ironisch distanziert. Dass man das so klar wahrnimmt, geht zuvörderst auf das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Nicholas Carter zurück. Trocken geht der Berner Co-Operndirektor die Partitur an, er erzählt sie etwas knorrig, nahe beim Fagott des Grossvaters in Prokofjews «Peter und der Wolf». Amelie Baier als das schreckliche, doch rasch gesundende Kind macht hierbei genau die richtige Figur.

Verity Wingate (Iolanta) in ihrem gläsernen Verliess / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Allein, damit hat es sich nicht, es geht ja noch weiter – und wie. Ganz und gar andersartig, obgleich auf ähnlicher Schiene. Auch die Titelfigur in «Iolanta», dem Einakter von Peter Tschaikowsky, ist ein Kind, ein etwas älteres Kind, eine Königstochter an der Schwelle zur Adoleszenz. Sie sieht nichts, und das ist darum halb so schlimm, weil sie nicht weiss, dass Menschen sehen. Sie darf es nicht wissen, ihr Vater René will es so, und wer gegen diesen Willen verstösst, ist des Todes. Das hat Gewicht, denn der Herrscher über die Provence ist in Bern eine überaus machtvolle Erscheinung. Der König sitzt zwar im Rollstuhl, weil seine Kräfte, wie er von sich selber sagt, zu schwinden beginnen. Aber das bezieht sich keineswegs auf die Stimme, daran lässt Matheus França nicht den geringsten Zweifel. Selten ist derart prachtvoll gerundetes Volumen zu hören wie bei dem 36-jährigen Bass aus Brasiliens. Und kaum je kommt es zu so genuinen Theatermomenten wie hier.

Auch in diesem zweiten Teil der jüngsten Berner Opernproduktion gibt es einen Garten mit duftenden Blumen und ein Zimmer – einen gläsernen Kubus, in dem König René seine Tochter Iolanta in ihrem Unwissen gefangen hält. Doch die Geschichte wendet sich gegen die Autokratie. Der Herrscher hat den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert; dieser Vertreter des im Mittelalter auch in Spanien ansässigen, kulturell wie wissenschaftlich hochentwickelten Islam, Thomas Lehman gibt ihn mit geschmeidigem, sonorem Bariton, soll die Tochter von ihrer Blindheit erlösen. Zum Teil ist das freilich bereits geschehen. Denn mit Robert, dem Herzog von Burgund (Jonathan McGovern), und seinem beigeordneten Ritter Vaudémont sind angeblich zufällig zwei unerwünschte Gäste in den verbotenen Garten eingedrungen. Iolanta und Vaudémont, das ist ein coup de foudre, wie er im Buch steht. Er eröffnet ihr ihre Blindheit und im gleichen Atemzug seine unbedingte Liebe, sie erwacht und ist voll des Feuers, Blindheit hin oder her – wie das Verity Wingate mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und James Ley mit seinem geschmeidigen Tenor darbieten, ist schlechterdings hinreissend.

Kein Wunder, gelingt die Heilung, lässt der König im Rollstuhl auf dringendes Anraten des weitsichtigen Arztes seine Tochter frei und kann das überglückliche Ende eintreten, zu dem auch der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor der Bühnen Bern mit seinem klangmächtigen Gotteslob seinen nicht unbeträchtlichen Teil beiträgt. Überhaupt lebt diese «Iolanta» von einer sehr ausgeprägten Musikalität. Engagiert unterstützt durch das Berner Symphonieorchester schlägt Nicholas Carter am Pult einen ganz anderen Ton an als bei Ravel. Warme Homogenität und vibrierende Lebendigkeit stellen sich da ein. Sorgfältig und in souveräner Übersicht steuert der Dirigent die Spannungskurven, aus überzeugender Vorstellung heraus mischt er die Klangfarben, natürlich atmend entfalten und verbinden sich die Tempi – und das alles ohne jeden Druck. Da kann einem die Musik Tschaikowskys fürwahr ans Herz gehen.

Zuckersüss? Nein: bitterbös – und sehr amüsant

Ein «Rosenkavalier» aus Luzern

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

«Der Rosenkavalier» – ein Wagnis? Für Luzern schon. Das Haus von 1839 verfügt über rund 500 Sitzplätze im Parkett und auf zwei Rängen; weder von der Raumakustik noch von den Dimensionen des Orchestergrabens her scheint es möglich, hier die orchestral grossbesetzte Komödie für Musik aus dem Jahre 1911 in einer vertretbaren Weise zu verwirklichen. Oder stimmt das etwa nicht? Das von Ina Karr als Intendantin geleitete Luzerner Theater wollte es wissen. Es brachte den «Rosenkavalier» schnurstracks zur Luzerner Erstaufführung – und bietet damit einen Musiktheaterabend, der einen überrascht, nachdenklich macht, aber auch in bester Weise amüsiert.

Kein Wunder, am Regiepult sass Lydia Steier, ihres Zeichens Co-Operndirektorin am Luzerner Haus – und eine Theaterzauberin erster Güte. Es beginnt damit, dass dem Mariandl, der Kammerzofe der Feldmarschallin, eine zentrale Rolle zukommt. Kleingewachsen und tonlos, aber vielsagend in Blick und Geste führt Valérie Junker durch den Abend, öffnet und schliesst den Vorhang und ist stets zur Stelle, wenn es einen dienlichen Handgriff zu leisten gilt. Rasch stellt sich Zirkus-Atmosphäre ein, was im Lever des ersten Aktes nach Massen ausgekostet wird. Ein wild gewordener Affe lässt sich kaum bändigen. Und als Lakai des Ochs auf Lerchenau zeigt Daniel Foltz-Morrison stupende Fussfertigkeit. Gegen Ende des Aktes aber legt sich Schwermut über die Szenerie, betrauert die Feldmarschallin (Eyrún Unnarsdóttir) das unvermeidliche Weiterziehen des jungen Octavian, während sich der von seiner Mutter-Geliebten nicht zu emanzipieren vermag. Und dies, obwohl im Schlussbild hinten oben die Zukunft sichtbar wird, ein junges Ding mit Bubikopf: Sophie.

Sie sind beide hinreissend, die kesse, strahlend singende Tania Lorenzo, die ihrem Vater, dem Edlen von Faninal (Jason Cox), die Kaugummiblase ins Gesicht platzen lässt, und die hochemotionale, dunkel klingende Solenn‘ Lavanant Linke als der doch schon etwas reifere Quinquin. Fast misslingt sie, die Übergabe der silbernen Rose im zweiten Akt. Auf beiden Seiten herrscht verklemmte Zurückhaltung, wenn nicht Widerwillen, und unter der Leitung von Robert Houssart will im Luzerner Sinfonieorchester, das im Konzert bessere Eindrücke hinterlässt, als es an diesem Abend geschieht, kein Zauber aufkommen. Allein, das mag Absicht sein: Die zartschmelzende Süsse, die so manche «Rosenkavalier»-Deutung kennzeichnet, soll diesmal ausgespart bleiben. Hand dazu bietet die kompromisslose Einrichtung der Partitur durch den Dirigenten und Komponisten Eberhard Kloke; in seiner Version «für mittelgrosses Orchester» ist nicht nur einfach die Zahl der Streicher verkleinert, sondern sind auch die Klangfarben neu geordnet, da reduziert und aufgelichtet, dort erweitert. Manches tritt überraschend heraus, geradezu schockierend ist indessen der bedrohliche, bisweilen harsche Grundton, der von Anfang an im Raum steht. Er erzeugt ähnliche Wirkung wie «La Valse», das Orchesterstück von Maurice Ravel, wo der unbeschwerte Wiener Walzer unerbittlich in die Katastrophe geführt wird. In die vom Komponisten vorausgeahnte Katastrophe der Grande Guerre.

So ist Lydia Steier nun einmal. Fabelhaft unterstützt durch die szenischen Gestalter Blake David Palmer (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme), lässt sie ihrer Energie als genuines Theatertier freien Lauf, dies jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern ganz und gar im Dienst einer hellsichtigen, schonungslos zugespitzten Interpretation. Für den verklärten Blick in ein entschwundenes Rokoko, für den retrospektiven Anklang an eine goldene Zeit, die den «Rosenkavalier» als Bleigwicht der Rezeption belastet, hat die Regisseurin wenig Verständnis. Nahe am Text Hugo von Hofmannsthals stellt sie vielmehr heraus, in welchem Endzustand das feudale Gesellschaftssystem vorgeführt wird. Die autoritären Grundstrukturen sind noch in Kraft, die Menschen, denen die herrschende Ordnung zu Nutzen ist, taumeln freilich degeneriert ihrem Untergang entgegen. Hauptfigur ist hier der unflätige Baron Ochs auf Lerchenau, der nichts anderes im Sinn hat als sein Geschlechtsteil zu aktivieren und seinen Magen zu füllen. Ihm geht es in der Chambre séparée des dritten Akts beispiellos an den Kragen. Er hat sich einem von seiner angeblichen Gespielin, in Wirklichkeit von Octavian durchgeführten sadomasochistischen Ritual zu unterziehen, aus dem er so restlos zerfleddert hervorgeht, als breche für ihn sein persönliches 1918 aus. Christian Tschelebiew, der sich seinen Aufgaben ohne Schonung der Ressourcen hingibt, gelingt ein fabulöses Rollenportrait. Und die musikalische Modernität das dritten Aktes tritt selten so stark heraus, wie es hier der Fall ist.

Im Vordergrund der Bühne ist ein Swimmingpool zu sehen, in dem das echte Wasser nicht fehlt. Das Programmheft erwähnt dazu den Jungbrunnen auf dem berühmten Bild von Lucas Cranach. Tatsächlich steht am Ende des dritten Akts die Feldmarschallin als eine erstarrte Theaterfigur im kaiserlichen Ornat an jener Stelle, an der sich zwei Akte zuvor die junge Sophie gezeigt hat. Derweil sich die beiden Youngsters, die Zukunftsmenschen Sophie und Octavian, im Pool ungehemmt ihren Wasserspielen hingeben. Womit dann Zeit ist für die beiden Ensembles, welche die Oper beschliessen. In ihrer sehnsüchtigen Versöhnlichkeit, der das Orchester nichts schuldig bleibt, verfehlen sie ihre Wirkung nicht.

Glückliche Hand

Mahlers Neunte mit Jonathan Nott und dem
Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 hatte sich Jonathan Nott im Herbst 2014 dem Orchestre de la Suisse Romande als neuer Chefdirigent (und Nachfolger des nur kurze Zeit präsenten Esten Neeme Järvi) empfohlen. Anfang 2015 wurde er dann auch gewählt – mit Amtsantritt im Januar 2017. Sechs Jahre sind seither vergangen, die Beziehung zwischen dem Genfer Orchester und seinem Directeur musical et artistique steht in voller Blüte. Die Konzerte in der altehrwürdigen Victoria Hall (das Projekt eines neuen Konzertsaals ist in einer Volksabstimmung 2021 durchgefallen) sind gut besucht, auch dank den Initiativen des Intendanten Steve Roger. CD-Aufnahmen für das Label Pentatone machen auf sich aufmerksam; eine der jüngsten mit einer von Nott selbst eingerichteten Suite aus Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.01.22) erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Die Beziehung zum Grand Théâtre de Genève, in dessen Graben das Orchester wirkt, ist nicht zuletzt dank dem Einvernehmen zwischen Nott und Aviel Cahn, dem Direktor des Grand Théâtre, zu beiderseitigem Gewinn verfestigt worden. Inzwischen ist Notts Vertrag verlängert worden, ohne zeitliche Begrenzung notabene. Wie sagte Herbert von Karajan, als er von den Berliner Philharmonikern für das Amt des Chefdirigenten angefragt wurde: Gerne, aber auf Lebenszeit…

Dass es mit Mahlers Siebter geklappt hat, ist kein Wunder, der Komponist steht Nott besonders nahe, und so kommt er immer wieder auf ihn zurück. In Genf war jetzt war die Reihe an der neunten – für das Orchester ein Parforceritt der Sonderklasse. An diesem Abend galt das besonders, ging der knapp neunzig Minuten dauernden, nach allen Seiten hin anspruchsvollen Musik Mahlers doch noch das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy inklusive Pause voraus. Das war definitiv zu viel des Guten. Und das umso mehr, als das Orchester zwar ganz ausgezeichnet begleitete, die junge Solistin Alexandra Conunova ihren Part aber im Geist der russischen Schule anging, was zu den bekannten Missverständnissen und Geschmacklosigkeiten führte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es denn auch zu Einbrüchen in der Konzentration, was sich in einer erhöhten Frequenz von Hustenanfällen niederschlug. Das fiel deshalb ins Gewicht, weil Jonathan Nott gerade in den Momenten des allerleisesten Verklingens am Schluss des ersten Satzes wie am Ende des Finales mit letzter Konsequenz zu Werk ging. In spannungsvoller, ausgesprochen mutiger Ruhe zog er die Prozesse der Verlangsamung und der Auflösung durch. Und das Orchestre de la Suisse Romande, dessen Streicher in diesen Momenten der Zurücknahme ins Piano-Pianissimo extrem gefordert waren, blieben mit bewundernswertem Engagement an des Dirigenten Seite.

Insgesamt bot die Aufführung freilich ein sehr bewegendes Wechselbad der Gefühle. Nott nimmt Mahler beim Wort. Und das Orchester gibt seinem Dirigenten, war er braucht. So herrscht denn nicht jene Abgeklärtheit, die bei so grossartigen Mahler-Dirigenten wie Claudio Abbado und Bernard Haitink das Geschehen im Zaum gehalten hat. Vielmehr schiessen die Emotionen immer wieder mit erschreckender Urgewalt hoch; explizit spricht die Musik von dem in vielerlei Weise zerrissenen Innern des Komponisten – das so direkt, so greifbar mitgeteilt zu bekommen, führt zu Hörerlebnissen eigener Intensität. Bei aller Emotionalität bleibt Nott aber doch der in Kategorien der Moderne denkende Musiker, der er seit jeher ist (die jüngste CD-Publikation des Genfer Orchesters mit dem fabulösen Tessiner Pianisten Francesco Piemontesi gruppiert Klavierkonzerte von Maurice Ravel und Arnold Schönberg um die «Oiseaux exotiques» für Klavier und Ensemble von Olivier Messiaen). In gleichem Mass, wie er auf den zugespitzten Gefühlsausbruch hinsteuert, hat der Dirigent die strukturelle Seite des musikalischen Geschehens im Blick – und die ist im Falle von Mahlers Neunter von besonderer Vielschichtigkeit. Mit Blicken, mit den Händen, dem Oberkörper ist Nott zur Stelle, wenn es ernst gilt. Das bringt musikalische Energie zutage, sorgt aber auch für jene Trennung der Farben, die das Stimmengeflecht zum Leuchten bringt. Besondere Spannung trug den zweiten Satz, und das bis zum Schluss, wo Elçim Özdemir, die Stimmführerin der Bratschen, mit ihren kernigen solistischen Interventionen das Bild wesentlich prägte. Überhaupt fehlte es nicht an glanzvollen Leistungen einzelner Orchestermitglieder; einmal mehr war zu begreifen, wie sehr die Wirkung des Ganzen bei der Beteiligung des Einzelnen beginnt.

Zweimal sieben Todsünden

Brecht und Weill in Biel und Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Christiane Boesiger in Solothurn (Bild Suzanne Schwiertz, Konzert-Theater Biel-Solothurn)

«Die sieben Todsünden» von Kurt Weill auf einen Text von Bertolt Brecht aufzuführen – was für eine gute Idee. Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, dem es an guten Ideen bekanntlich nicht fehlt, hatte sie. Gut ist die Idee, weil das Stück, weder Schauspiel noch Oper, sondern ein Ballett mit Gesang, sehr selten auf den Spielplänen erscheint – wo es in seiner ganz eigenartigen Gegenwärtigkeit doch das Gegenteil verdient hätte. Allein, der guten Idee widersetzen sich Schwierigkeiten, denn wie soll sich die halbe Stunde, in der «Die sieben Todsünden» verhandelt werden, zu einem tragfähigen Abend werden? Mit anderen Worten: Was soll dazugestellt werden? Auch zu solchen Fällen hat es in Biel und Solothurn schon gute Ideen gegeben, unvergessen zum Beispiel «La notte di un nevrastenico», ein hinreissender Spass von Nino Rota, vor Puccinis «Gianni Schicchi» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Diesmal aber entschieden Dieter Kaegi und der von ihm engagierte Regisseur Olivier Tambosi, dass nichts dazukommen soll. Dafür wird das Stück zweimal gespielt, einmal in der deutschen Originalsprache, einmal in einer Übersetzung ins Englische.

Das ist eine ebenso aufschlussreiche wie witzige Anspielung an die Rezeptionsgeschichte der «Sieben Todsünden». Tatsächlich geriet die Pariser Uraufführung von 1933 zum Misserfolg; der im Original gegebene Text blieb dem Grossteil des Publikums unverständlich. Weshalb schon rasch eine neue Fassung in den Blick genommen wurde, eine den Zeitläuften entsprechend in englischer Sprache. Beim Zuhören anlässlich der Premiere im Stadttheater Solothurn entstand der Eindruck, dass sich das Englische besser, wenigstens müheloser, mit der Musik Weills verbindet als das für Brecht kennzeichnende, etwas kantige Deutsch. Dafür kommt bei der Begegnung mit dem ursprünglichen Text die unzweideutige Botschaft Brechts mit ihrer Aktualität kraftvoller zur Geltung als im Englischen, wo sich eine wohlige, leicht verharmlosende Musicalatmosphäre einstellt – was vielleicht auch auf die reduzierte Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel mit ihren Anklängen an den Ton der «Dreigroschenoper» zurückgeht. Wer vorwärtskommen will, so die Maxime der von Brecht in seinem Stücktitel ausdrücklich angesprochenen Kleinbürger, muss kompromisslos Fleiss zeigen, keine Zeit für Gefühle verschwenden, sein Selbstgefühl unter den Scheffel stellen und erfüllen, was die Umgebung wünscht – es könnte von heute sein. Zum Beispiel, umgelegt auf Medien aller Art: Klickzahl als Zeichen der Anpassung an den Publikumsgeschmack vor Qualität des Produkts und der Aussage.

Um die Botschaft auf der Bühne fassbar zu machen, hat Brecht in die Trickkiste gegriffen. Im Zentrum steht Anna, die von ihrer Familie im armen Süden der Vereinigten Staaten auf eine Reise in den Norden geschickt wird, um Geld für den Bau eines eigenen Häuschens zu erwirtschaften. Die Familie ist von brutaler Zielgerichtetheit, weshalb sie Männerstimmen gesungen wird (Remy Burnens, Konstantin Nazlamov, Félix Le Gloahec und Jean-Philippe McClish bewältigen das blendend). Anna wiederum ist aufgeteilt auf zwei Figuren, auf Anna I, die den Katalog der Todsünden verkörpert, und Anna II, die diesen Todsünden noch so gerne nachlebt, von ihrer Schwester aber immer wieder in den Senkel gestellt wird. In Analogie zur Besetzung der vier Familienmitglieder werden die beiden Annas von einem Mann wie einer Frau verkörpert, wobei die Rollen in der Wiederholung des Stücks gewechselt werden. Das schafft erheiternde Wirkung. Zu Beginn, während die fünfzehn Mitglieder des Sinfonieorchesters Biel-Solothurn unter der Leitung von Iwan Wassilevski mit Schwung zur Sache gehen, bleibt der Vorhang geschlossen. Ein weiss geschminktes Frauengesicht schiebt sich durch den Spalt und singt das eröffnende «Lied der Schwester». Nur, so gleich die Frage, hat Christiane Boesiger inzwischen eine so tiefe, verrauchte Diseusenstimme?

Natürlich nicht. Es ist Christian Manuel Oliveira, der noch unsichtbar das «Lied der Schwester» singt, während Christiane Boesiger bloss die Lippen bewegt, das aber in derart perfekter Übereinstimmung tut, dass man unversehens ins Spiegelkabinett der kleinbürgerlichen Todsünden hineintaumelt. Im ersten Durchgang, auf Deutsch, erscheint Christian Manuel Oliveira als Anna I und zeigt, dass er nicht nur zu agieren, sondern auch zu singen versteht. Erst recht gilt das für Christiane Boesiger, die diese Aufgabe im zweiten Durchgang übernimmt und dabei mit ausgezeichnet verständlichem Englisch und gepflegtem kleinem Vibrato auffällt. Anna II dagegen ist als stumme Rolle anwesend; die Partie, so wollten es Brecht und Weill, so mussten sie es 1933 der Umstände wegen wollen, ist für eine Tänzerin gedacht, was in der Produktion von Biel und Solothurn nicht beim Wort genommen wird. Hier schlägt vielmehr die Stunde von Olivier Tambosi, der sich nicht nur als Regisseur, sondern auch Bühnenbildner eingebracht hat. Elegant arbeitet er mit verschiebbaren Transparenten, was auf den kleinen Bühnen der beiden Häuser Raum lässt, aber auch diskret auf die Schrifttafeln in Brechts Epischem Theater verweist. Hochbeschäftigt sind die Protagnisten wie die Familie, deren Mitglieder den Nibelungen gleich Würfel um Würfel zum Bau des Häuschens herbeischleppen. Das alles in einer zirkusartigen Umgebung, wie sie die Kostümbildnerin Lena Weikhard in grellen Farben herausstellt. Die Doppelbödigkeit, ja der Zynismus von Brechts Vorlage findet darin adäquate Spiegelung.

Entdeckungen, Überraschungen

In den Schweizer Konzertsälen herrscht Leben

Von Peter Hagmann

 

Biel – und Joseph Lauber

Sechs Sinfonien hat er geschrieben, keine einzige ist bekannt, keine wird gespielt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich jetzt allerdings nachprüfen – und vielleicht hat das Folgen. Denn das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und sein Chefdirigent Kaspar Zehnder haben es sich zusammen mit dem von Graziella Contratto geleiteten Label Schweizer Fonogramm zur Aufgabe gemacht, Joseph Lauber der musikalisch interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lauber? Nie gehört, noch vergessener als Joachim Raff oder Hans Huber. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Als Sohn eines Schneidermeisters im Luzerner Hinterland geboren und bei Neuchâtel aufgewachsen, konnte Joseph Lauber (1864-1952) dank einem von den Chocolatiers Suchard gewährten Stipendium in Zürich bei Friedrich Hegar, in München bei Josef Gabriel Rheinberger und in Paris bei Jules Massenet studieren. Bald zog es ihn nach Genf, wo er am Theater als Kapellmeister wirkte und am Konservatorium Komposition unterrichtete – zu seinen Schülern, allerdings auf privater Ebene, zählte auch Frank Martin. In der Schweizer Musikszene wurde seine Stimme gehört, die grosse Karriere suchte er jedoch nicht. Dafür schrieb er über zweihundert Werke, die in der Universitätsbibliothek Lausanne aufbewahrt werden.

Mit Hans Huber, dessen Name immerhin noch einen Basler Konzertsaal ziert und dessen Sinfonien in den 1990-er Jahren von dem schwedischen Label Sterling vorgelegt wurden, teilt Joseph Lauber die Verankerung in der deutschen Spätromantik und die Nähe zu Johannes Brahms – wobei Laubers Musik durchaus auch französische Farben kennt. Seine sechs Sinfonien, zwischen 1895 und 1918 mit einem Nachzügler 1949 entstanden, gehören zum Anregendsten aus dem Bereich der Schweizer Musikgeschichte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. In ihnen verbindet sich ästhetische Weltläufigkeit mit dem Duft der Heimat – eigenartig schweizerisch, jedoch ohne eine Spur ohne Enge klingt diese Musik. Und leicht geht sie ins Ohr, denn das Material ist geschickt erfunden und ebenso geschmeidig wie vielschichtig verarbeitet.

Auf den drei Compact Discs von Schweizer Fonogramm lässt sich das ausgezeichnet nachvollziehen. Nicht zuletzt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik von Frédéric Angleraux. Schweizer Fonogramm sieht sich als «ein Label von Musikern für Musiker». Im Vordergrund stehen Sachbezogenheit und Qualitätsanspruch, wovon auch die informativen Booklets zeugen. Ausserdem wird konsequent an der Studioaufnahme und an der CD als netzunabhängigem Tonträger festgehalten, obwohl die Aufnahmen, wenigstens zum Teil, auch im Internet greifbar sind. Zentral bleibt jedoch die interpretatorische Qualität. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn zeigt sich von allerbester Seite, es legt Zeugnis ab von dem erfolgreichen Weg, den es mit Kaspar Zehnder in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt hat. Jetzt strebt der Chefdirigent nach neuen Ufern. Unter seiner Leitung hat das Orchester einen deutlichen Qualitätssprung vollzogen, das war in vielen der unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel in engen räumlichen Verhältnissen entstandenen Opernproduktionen zu erfahren, das war auch im Abschiedskonzert Kaspar Zehnders zu hören (hier vermerkt als Abend in dem wunderschönen Konzertsaal von Solothurn). Sehr bildhaft die Rumänische Rhapsodie Nr. 2 von George Enescu, farbenreich und brillant die «Nächte in spanischen Gärten» von Manuel de Falla mit der virtuosen Pianistin Judith Jáuregui, vital und klangschön die Achte Sinfonie Antonín Dvořáks. Der Leistungsausweis darf gezeigt werden.

 

Zürich – Streichquartett im sakralen Raum

;on wegen «Konzertsaal»: In Zürich wird für manches Konzert, für Kammermusik zumal, nicht die Kleine Tonhalle gemietet, sondern in die Kirche St. Peter ausgewichen. Der barocke Raum verfügt über eine reiche, füllige Akustik, die gerade das Streichquartett herrlich umhüllt, ohne die Transparenz zu erschweren. Eben erst bestätigte es sich wieder in einem der vier Quartettprogramme, welche die von Jürg Hochuli betreute Neue Konzertreihe Zürich von Frühsommer bis Frühherbst in St. Peter anbietet. Angesagt war das Schumann-Quartett, eines der berühmtesten unter den Ensembles jüngerer Generation. Es hat einen neuen Bratscher; Veit Herstenstein heisst er, und er passt haargenau zu den drei Brüdern Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello). Hertenstein passt darum so gut, weil er als Kammermusiker äusserst aktiv mitwirkt. Mit seinem kernigen Ton und seiner pointierten Artikulation verhilft er zusammen mit dem ohnehin aussergewöhnlich präsenten Sekundgeiger den Binnenstimmen zu einem Profil, das dem musikalischen Geschehen im Quartett spannendes Gleichgewicht verschafft. Nicht Erste Geige und Cello geben den von Zweiter Geige und Bratsche grundierten Ton an, alle vier gemeinsam tun es – das trifft man in dieser Ausprägung nicht alle Tage.

Geschwister auch im Programm: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, ging ihrem gut drei Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Weg der Musik voran. Eine schöne Idee, die in der Verwirklichung jedoch nicht aufging. Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy hatte es bekanntlich nicht leicht. Als Frau blieb ihr die musikalische Laufbahn versagt, nämlich von der Familie untersagt, und als Künstlerin stand sie hinter ihrem Bruder zurück. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie ihr Streichquartett in Es-dur von 1834 ahnen liess. Die Begabung ist klar zu hören, zugleich schliesst das Werk aber auch immer wieder und unverkennbar, in einzelnen Wendungen wie im Tonfall, an das neun Jahre zuvor entstandene Streicherokett in Es-dur des Bruders an. Dennoch setzte sich das Schumann-Quartett mit Verve für Fanny Hensel ein, besonders in der Romanze des dritten Satzes, in der die Viola voranging. Mit mehr Erfolg tat es Ensemble beim späten, nach dem Tod der Schwester komponierten Streichquartett in f-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Interpretation orientierte sich eindeutig an der biographischen Situation, das geradezu orchestrale Forte, zu dem das Schumann-Quartett in der Lage ist, bot es an; ein weiter Bogen spannte sich zwischen dem zornigen Tränenausbruch im Kopfsatz und dem Grabgesang im Adagio. Beispielhafte Kammermusik war das. Am 21. August folgt das Pavel Haas-Quartett, am 11. September das Simply Quartet.

 

Basel – weiterhin im Aufbruch

Besonders quirliges Leben herrschte im grossartig renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos, in dem das Sinfonieorchester Basel zusammen mit dem Gastdirigenten Jukka-Pekka Saraste zum Abschluss seiner sinfonischen Saison auftrat. Gut gefüllt der Saal und besetzt mit auffallend vielen jungen Menschen – wie schaffen das Hans-Georg Hofmann als Künstlerischer Direktor und Franziskus Theurillat als Orchesterdirektor? Vor mir drei Girls, die Mahlers Erste gewiss noch nie gehört hatten, die nach den Beckenschlägen aufgeregt wisperten und beim stürmischen Einsatz des Finales nach dem gemessenen Trauermarsch des dritten Satzes sichtbar erschreckten – die aber das Gebotene mit aller Aufmerksamkeit aufnahmen und heftig applaudierten. Ach ja, es wird bald aussterben, das Sinfoniekonzert…

Auch auf dem Podium wird in Basel das Gegenteil bewiesen. Das Sinfonieorchester Basel lebt weiterhin im Zeichen des Aufbruchs, obwohl (oder gerade weil?) sein Chefdirigent Ivor Bolton mehr durch Abwesenheit glänzt als durch das Gegenteil. In seiner Existenz als freies, wenn auch von der öffentlichen Hand unterstütztes Orchester gibt es seine zehn bisweilen doppelt geführten Abonnementskonzerte, bietet es aber auch ein breites Spektrum an Konzertformaten anderer Art, in denen es direkt auf sein angestammtes Publikum zugeht und gleichzeitig neue Hörerschichten anzusprechen sucht. Vor allem aber erwies es bei seinem Saisonbeschluss (vor einem wegen der Pandemie verschobenen Chorkonzert mit Hans Hubers Oratorium «Erfüllung und Weissagung» am 20. August) seine anhaltend hochstehende Form, und zwar in klanglicher wie in technischer Hinsicht.

Ganz eng an der Seite des Solisten Steven Isserlis stand das Sinfonieorchester Basel beim Cellokonzert von William Walton, einem für kontinentaleuropäische Ohren etwas seltsam wirkenden und dementsprechend selten gespielten Werk. Was Isserlis, ein Ausdrucksfanatiker erster Güte, aus der Partitur herausholte, wie er aus ihrer Schrägheit kein Hehl machte und, umgekehrt, ihre Kantabilität zu ungeschmälerter Wirkung brachte, war schon eindrücklich genug. Vollends trat das aber bei der Sinfonie Nr. 1, D-dur, von Gustav Mahler heraus, die Jukka-Pekka Saraste in gelassener Souveränität, dabei aber mit allem Temperament anging. Und als im Finale die Hornisten nicht nur ihre Schalltrichter in die Höhe hoben, sondern sich, wie es der Komponist verlangt, von ihren Sitzen erhoben, gab es sogar Ungewöhnliches zu sehen.

Im Bann der Netzwerke

Puccinis «Turandot» im Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Magali Dougados, Grand Théâtre de Genève

Im Genfer Grand Théâtre haben jetzt die Architekten das Sagen. Die Bühnenarchitekten. Im Februar dieses Jahres war die Reihe an Ulrich Rasche, der natürlich kein Architekt ist, sondern – wie soll man sagen: ein Bühnenbildner, der auch Regie führt, oder ein Regisseur, der seine Ausstattungen selbst entwirft? Für «Elektra» von Richard Strauss hat Rasche ein raumgreifendes Stahlgerüst auf die grosse Genfer Bühne gestellt, einen schräg einfallenden, kreisrunden, von der Drehbühne bewegten Turm mit mehreren Stockwerken, auf der sich die Tragödie ereignet. Ein Abend des ganz ins Grosse gedachten Bildertheaters war das, überwältigend in seiner Wirkung – und dies, obwohl der Dirigent Jonathan Nott die aufbrausende Musik Strauss’ so in die Tiefe auslotete, dass man sie bis in letzte Einzelheiten aufzunehmen vermochte, also zu wachem Zuhören eingeladen war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.02.22).

Nun also «Turandot», Giacomo Puccinis letzte, unvollendete Oper, in einer ähnlichen Konstellation. Auch hier sind nicht Architekten im eigentlichen Sinn am Werk, aber irgendwie doch, denn teamLab Architects, das für die Ausstattung verantwortliche Ensemble, begreift den Raum als ein Ganzes und begegnet ihm mit aus Netzwerkdenken entwickelten Methoden. teamLab, vor gut zwanzig Jahren von Toshiyuki Inoko gegründet und heute international äusserst erfolgreich unterwegs, besteht aus Künstlern und Ingenieuren, Informatikern und Architekten, welche die gemeinsame Kreativität und die Synergie zwischen den verschiedenen Ausdruckswegen suchen.

Für «Turandot» hat teamLab eine vergleichsweise konventionelle, das Prinzip der Guckkastenbühne sogar noch unterstreichende szenische Einrichtung entworfen. Vom herkömmlichen Bühnenbild unterscheidet sie sich zunächst dadurch, dass sie ausgeprägt in die Höhe strebt, indem sie nicht nur verschiedene Ebenen übereinanderlegt, sondern auch dramaturgisch aussenstehende Figuren aus dem Schnürboden herunterkommen lässt. Führt das schon wie beim Turm Ulrich Rasches zu einer Erweiterung der optischen Wahrnehmung, so kommt beim teamLab der unkonventionelle Umgang mit dem Licht dazu. Mit dem Laserlicht vor allem. Eingesetzt wird es zur Schaffung äusserst beweglicher Farbwirkungen auf einem als Prospekt eingesetzten Hintergrund, vor allem aber auch durch die Erzeugung einer Art 3D-Wirklichkeit, weil die Strahlen den Zuschauerraum miteinbeziehen und den Blick in die Tiefe lenken.

Das alles ist als erweiterte Lightshow von unbestreitbarer Wirksamkeit. Worin nicht die technische, vielmehr die künstlerische Innnovation liegt, ist aber weniger klar zu fassen. Im Grunde nämlich unterscheidet sich die Genfer «Turandot» in der optischen Anmutung nur graduell von einer Inszenierung in der Tradition des italienischen Ausstattungstheaters, etwa der mit Gold und Statisterie prunkenden Produktion von Giuseppe Verdis «Aida» unter der Federführung von Franco Zeffirelli im Dezember 2006 an der Mailänder Scala. Wie dort wird auch in Genf unerhörter Aufwand an Personal und Kostüm (Kimie Nakano) betrieben, was blendet, im Erkenntnisgewinn jedoch bescheiden bleibt.

Zumal die Inszenierung von Daniel Kramer als eine solide Arbeit erscheint, eine klar definierte theatrale Handschrift aber schuldig bleibt. Dass die Minister Ping, Pang und Pong (Simone del Salvio, Sam Furness, Julien Henric) als Figuren der Commedia dell’Arte entstammen, wird in denkbar erheiternder Weise deutlich. Schon weniger zu begreifen ist, warum den Herren, die um die Hand der Prinzession Turandot anhalten, die drei von ihr gestellten Fragen aber nicht zu beantworten wissen und darum geköpft werden – warum diesen Herren in Genf die Genitalien ausgerissen werden. Allerdings nicht die Genitalien in natura, sondern versinnbildlicht durch eine Dolde an Weintrauben, ja, vielleicht Weintrauben. Gewiss, Puccini hatte sein eigenes Ding mit der genitalen Betätigung, darauf im Rahmen der insgesamt wenig gezielten Personenführung so ausdrücklich einzugehen, erscheint allerdings ziemlich aufgesetzt.

Überhaupt hat sich das Szenische, das Sichtbare, an diesem Abend wieder einmal mächtig aufgeplustert, ein verbreitetes Grundübel im heutigen Opernbetrieb. Dass es auch bei «Turandot» nicht nur um Theater, sondern auch und eigentlich vor allem um Musik geht, wäre um ein Haar vergessen gegangen. Sehr erfolgreich dagegen arbeitet der Dirigent Antonino Fogliani, der die Massen straff in der Hand hält und durch stimmige Tempogestaltung das Geschehen grossartig in Fluss bringt. Das Orchestre de la Suisse Romande sorgt für unerhört süffigen Klang, der von Alan Woodbridge vorbereitete Chor für herrliches Volumen. Und durchwegs hochstehend das Ensemble mit Ingela Brimberg als stimmgewaltige Turandot, Francesca Dotto als eine mit strahlendem Timbre einsteigende, im zweiten Auftritt aber sorgsam berührende Liù und Teodor Ilincai als ein Calaf, der zu unglaublicher Kraftentfaltung in der Lage ist. Dass für das fehlende Ende nicht auf Franco Alfano, sondern auf Luciano Berio zurückgegriffen wird, dass das kraftstrotzende Stück also ultraleise endet, spricht für sich. Trotz allem Spektakel gibt es in der Genfer «Turandot» auch etwas zu hören. Und wie.

Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Der Mann, der aus dem Cheminée kam

«Perelà» von Pascal Dusapin am Luzerner Theater

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Die Musik ist erkennbar von heute – kein Wunder: «Perelà» von Pascal Dusapin ist 2003 an der Pariser Oper aus der Taufe gehoben worden. Aber was der 66-jährige Franzose erdacht hat, klingt so wohl, dass eingefleischte Avantgardisten die Augenbrauen heben; die neue Musik aus Frankreich trägt eben, man denke nur an die Spektralisten, bei allem strukturellen Bewusstsein doch ausgesprochen freundliche Züge. Phantasievoll und verspielt, anregend und sinnlich, so erscheint «Perelà» auch in Luzern, wo das Theater Dusapins Stück auf dem Spielplan hat. Wie das? Gibt es Platz im Graben des kleinen Hauses an der Reuss für das opulent besetzte Orchester, das Dusapin in der fünften seiner bisher neun Opern verlangt? Natürlich nicht, aber der französische Dirigent Franck Ollu, ein Spezialist der neuen Musik, hat eine reduzierte Orchesterfassung erstellt, die dem Original, so die Erinnerung nicht trügt, in keiner Weise nachsteht. Unter der Leitung des Mainzer Generalmusikdirektors Hermann Bäumer hat es das Luzerner Sinfonieorchester in blendendem Farbenreichtum hörbar gemacht.

Bäumer wurde gerufen, weil er schon 2015 am Pult stand, als die nun in Luzern gezeigte Produktion im Staatstheater Mainz herauskam. Mit Bäumer im Boot war damals die Regisseurin Lydia Steier, die inzwischen in Luzern die Opernsparte mitbetreut und hier für die Übernahme ihrer Mainzer Inszenierung plädiert hat. Ausgezeichnete Idee; wer dieser Produktion nicht begegnet ist, hat fürwahr etwas verpasst. Perelà, so nennt sich der Protagonist in dem vom Komponisten selbst geschriebenen Libretto nach einem Roman von Aldo Palazzeschi, ist zwar nichts als Schall und Rauch, lässt das aber in denkbar zauberhafter Weise erleben. Nachdem das Feuer, das ihn erzeugt hat, erloschen ist, steigt der Rauch mit dem seltsamen Namen kurzerhand aus dem Kamin, schwebt zu Boden und findet dort zwei Märchenstiefel vor, die ihn mit der Schwerkraft verbinden. Was er auf der Erde erlebt, verwundert, entzückt, erschreckt ihn und endet derart nicht zu seinem Guten, dass er sich flugs wieder in die Lüfte erhebt.

Splitternackt steht Ziad Nehme, der mit seiner biegsamen, samtenen Stimme leicht und mühelos in luftige Höhen steigt, auf der Bühne – was nicht nur einen kleinen Schreck auslöst, sondern ganz und gar der Situation entspricht: Als Mensch gewordener Rauch ist er bar jeder Erfahrung. Genau das macht ihn so interessant für den Hofstaat in der kleinen, engen Residenzstadt, in der sich Perelà, inzwischen mit einer Hose versehen, unter lauter Edelleuten findet. Eine prächtig ausstaffierte Gesellschaft wird hier vorgeführt, Damen wie Herren mit mächtigen Stirnen, immensen Frisuren und aufgeplusterten Bekleidungen – der Kostümbildner Gianluca Falaschi hat hier ganze und herrliche Arbeit geleistet. Da gibt es zum Beispiel eine Königin, die einen Vogel hat – nein, deren zwei: einen Papagei (Nora Bertogg), der als einziges das Wort «Dio» dazwischenzukrächzen weiss, und einen stummen in einem Käfig, den die Dame auf ihrem Kopfe trägt. Immens die Schleppe, Perelà muss sie immer wieder zurechtlegen. Und grandios die Gesangskunst wie die Körpersprache, mit denen Misaki Morino glänzt.

Umgeben ist die Königin von einem König, der ihr, da noch ein Knabe, nicht einmal bis zum Kinn reicht, von einem kräftig dem heiligen Wein zusprechenden Erzbischof (Georg Bochow) und manch anderen schrägen Figuren – erstaunlich, was das wunderbare Ensemble, aber auch der von Mark Daver einstudierte Chor hier bieten. Alle bewegen sie sich auf der Drehbühne, die nicht nur um die eigene Achse kreist, sondern sich auch in ihrem Inneren bewegt. Der Bühnenbildner Flurin Borg Madsen hat für den Abend ein gewaltig in die Höhe strebendes Gestell entwickelt, das hier die Fassade des Schlosses, dort eine breite Treppe sehen lässt – alles farbenfroh und diskret von Herren aus der Bühnentechnik gesteuert. In diesem Ambiente kommt es dann zum Ende mit Schrecken. In seinem Bestreben, ganz so wie der bewunderte Perelà zu werden, zündet sich der älteste Diener des Königs (Vladyslav Tlushch) eigenhändig an, wird aber zu Kohle statt zu Rauch, was den Hofstaat gegen Perelà aufbringt. Eine Gerichtsverhandlung wird anberaumt, sie steht unter der Leitung eines monströsen Richters (Christian Tschelebiew). Wie das Urteil trotz der Verteidigung durch die Marquise Bellonda (Marcela Rahal) ausfällt, ist leicht zu erraten – Perelà, den Rauch, kümmert es wenig. So einfach ist es im Märchen. Und kann es sogar in einer Oper aus der jüngsten Vergangenheit sein.