Ohne Live kein Life

Lucerne Festival (3):
Die Wiener Philharmoniker
als Verkörperung neuer Diversität

 

Von Peter Hagmann

 

Die Saxophonistin Valentine Michaud und der Dirigent Esa-Pekka Salonen am Werk / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Keine Frage: Als das Lucerne Festival 2016 den Sommer der Frau, nicht zuletzt der Frau am Dirigentenpult, ausrief, ergab sich ein Wellenschlag von nachhaltiger Wirkung. Nicht dass das damals lebhaft verfolgte Festival-Motto der eigentliche Katalysator gewesen wäre, dafür lag das Thema zu sehr in der Luft. Doch ist ebenso wenig zu übersehen, dass die Frau in leitenden musikalischen Funktionen inzwischen eine viel weiter verbreitete, auch selbstverständlicher akzeptierte Erscheinung darstellt als noch vor fünf, sechs Jahren. Dass Joana Mallwitz, ab 2023 Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin, bei den Salzburger Festspielen Mozarts «Così fan tutte» leitet, notabene mit den Wiener Philharmonikern, dass bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth Oksana Lyniv aus Lemberg, Generalmusikdirektorin am Teatro Comunale in Bologna, den «Fliegenden Holländer» dirigiert und ihr im kommenden Jahr Nathalie Stutzmann mit «Tannhäuser» folgt, dass die Sopranistin Barbara Hannigan nicht nur singt, sondern auch das sie begleitende Orchester anführt – all das gehört heute zum courant normal. Dass das Gleichgewicht hier wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch keineswegs erreicht ist, steht auf einem anderen Blatt.

Diesen Sommer lautet das Schlagwort nun «Diversity» – englisch, wie es beim Lucerne Festival üblich ist und wie es in diesem Fall sogar angebracht sein mag. Diversität wurde hier nämlich nicht etwa ästhetisch verstanden als Vielfalt in der Einheit der Kunstmusik, wie sie etwa in den Sinfonien Gustav Mahlers erscheint. Das Motto verstand sich vielmehr in rein gesellschaftlicher Sicht als Aufruf zu vermehrter Inklusion vermeintlicher Minderheiten in den Bereich der musikalischen Kunst – ja als Forderung, zum Beispiel Menschen mit farbiger Haut mehr Teilhabe an dieser Kunst zu ermöglichen. Die Reaktionen auf das Motto fielen äusserst kontrovers aus. Auf der einen Seite wurde in gewissen Medien geradezu hyperventiliert, wurde ultimativ das Aufbrechen der sogenannt elitären, also ausschliessenden Kunst verlangt, wurde die Rolle des schöpferischen oder leitenden Individuums in Frage gestellt, das Luzerner Intendantenmodell als veraltet bezeichnet und Michael Haefliger, der das Festival seit 1999 leitet, als Sesselkleber verurteilt. Die Gegenseite wiederum hat das Thema als imageschädigende Anbiederung an den Zeitgeist und als peinliche, ausserdem wenig geglückte Kopie eines vom Davos Festival im letzten Sommer entwickelten Denkansatzes gegeisselt.

So geriet «Diversity» unter dem Strich zu einem Schuss in den Ofen. Das Motto führte zu einer Verschiebung des Fokus vom Künstlerischen auf das Gesellschaftliche, wo es beim Lucerne Festival doch in erster Linie um Musik ginge. Über das am Eröffnungsabend von Anne-Sophie Mutter gespielte Geigenkonzert von Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, wurde weniger unter musikalischen Gesichtspunkten diskutiert als unter dem Aspekt der Hautfarbe: dass dem sogenannten schwarzen Mozart nun endlich Gerechtigkeit widerfahren sei. Übersehen wird dabei, dass Diversität längst gelebt wird, etwa beim Philadelphia Orchestra, beim London Symphony Orchester, selbst bei den Wiener Philharmonikern. Und nicht zuletzt präsentierte die Kasse die Quittung. Die vergleichsweise schwache Auslastung der Sinfoniekonzerte von 74 Prozent mag auf Angst vor Ansteckung durch schniefende Sitznachbarn, auf Entwöhnung in den bisher gut zwei Jahren der Pandemie, auf die Sorgen rund um Krieg, Inflation und Klimawandel zurückgehen; keineswegs auszuschliessen ist aber auch, dass das Motto, das so eng mit den heiklen Fragen der Migration verbunden ist, in stärkerem Mass abschreckend gewirkt hat als gedacht.

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Diversität, nun aber im ästhetischen Sinn, führten die Wiener Philharmoniker vor. Ihr wie stets zweiteiliges Gastspiel absolvierten sie unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen, dem das Orchester mit auffallender Wertschätzung begegnete – mit seiner jugendlichen Ausstrahlung, seiner mitreissenden Bühnenpräsenz und seiner Kompetenz war der 64-jährige Finne für die beiden Programme genau der Richtige. Wer am zweiten Abend den Saal im KKL Luzern betrat, sah sich empfangen von Schwaden an Bühnennebel, aus denen dann der Festivalintendant Michael Haefliger und die Saxophonistin Valentine Michaud erschienen. Die noch nicht 30-jährige Französin, die seit über zwanzig Jahren in der Westschweiz lebt, wurde von Haefliger vorgestellt als die Trägerin des Credit Suisse Young Artist Award von 2020, die ihren Preis und damit ihr Debüt mit den Wiener Philharmonikern in Luzern aus bekannten Gründen mit einer Verspätung von zwei Jahren erhielt. Mit wenigen, sehr sympathischen Worten stellte sie vor, was sie danach zu bieten gedachte. Danach heisst: nach «Le Tombeau de Couperin» von Maurice Ravel, einem Herzensstück Salonens, schon 2010 hat er es in Luzern vorgestellt, damals mit dem Philharmonia Orchestra. Sehr verinnerlicht, geradezu still liess er diese Musik vorbeiziehen, wenn auch alles andere als unbeteiligt, das gab seine Körpersprache bei aller Sparsamkeit zu erkennen. Die Wiener Philharmoniker wiederum glänzten mit ihrem transparenten, leuchtenden Ton.

Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Dann schlug die Stunde von Valentine Michaud – und ging es zur Sache. Aber wie. Für ihr Début mit den Wienern hatte sie sich die «Peacock Tales» des 68-jährigen Schweden Anders Hillborg ausgesucht, ein unkonventionelles, in unendlich vielen Farben des Pfauenrads schillerndes, auch aberwitzig virtuoses Stück. Ursprünglich als Klarinettenkonzert für Martin Fröst geschrieben, hat Hillborg das Werk auf Anregung und Wunsch der Solistin in eine verkürzte Fassung für Sopran-Saxophon und Orchester gegossen. Da gibt es ebenso zu sehen wie zu hören, vor allem aber zu staunen. Denn hier herrscht nicht nur ein freier, verspielter Tonfall, die Anweisungen für die Aufführung lehnen sich auch ungeniert an die Praktiken im Bereich der Popularmusik an: Diversität der anderen Art. In völliger Dunkelheit tastete sich Valentine Michaud auf das Podium; wie die gezielt eingesetzte, durch besagte Rauchschwaden unterstützte Erhellung eintrat, war eine Musikerin in ausladender, wohl gewiss wieder selbst entworfener Robe zu sehen, deren wehende Teile an einen Vogel denken liessen – und tatsächlich hatte sich Valentine Michaud, so will es der Komponist, auch eine Tiermaske aufzusetzen. Sie tanzte, spielte um ihr Leben und liess sich von den Wienern einen wunderschön gesummten Dreiklang servieren. Was Anders Hillborg, ein talentierter Eklektiker, der von der «Sadomoderne» zu sprechen liebt, von der Solistin verlangt, es ist nicht zu fassen. Ebenso wenig, wie souverän, gleichsam selbstverständlich sie mit den Anforderungen umging.

Darauf die zweite Sinfonie von Jean Sibelius, welche die Wiener Philharmoniker auf der Höhe ihres Vermögens darboten. Esa-Pekka Salonen wandte das Stück, in dem eine eigenartig kreisende Lebenskraft gegen die Melancholie anzukämpfen und sich am Ende durchzusetzen scheint, ohne Scheu, doch jederzeit kontrolliert ins Grosse – hinreissend war das. Ähnliches gilt für den ersten Abend, an dem die «Turangalîla-Sinfonie» Olivier Messiaens angesagt war, ein zehnteiliges Riesenwerk von knapp eineinhalb Stunden Dauer, in dem sich kompromisslose Nachkriegs-Modernität mit der Sinnlichkeit der französischen Spätromantik verbindet. Anstelle der am Handgelenk verletzten Yuja Wang zog der Franzose Bertrand Chamayou, dem bekanntlich nichts zu schwer ist, in bewundernswerter Weise durch die Multiplikation der Töne, während sich an den Ondes Martenot, dem frühen elektronischen Instrument, Cécile Lartigaut bewährte – hie und da vielleicht etwas zu leise. Wer glaubte, die Wiener Philharmoniker könnten nicht laut und schön zugleich klingen, durfte sich durch die üppigen Akkorde in Quintlage mit Sixte ajoutée eines Besseren belehren lassen – Esa-Pekka Salonen machte es möglich. Und klar: Eine derartige Farben- und Formenwelt ist in ihrer Eindringlichkeit nur live im Konzertsaal zu erleben.

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Während Wien sich gerne, und nicht immer zu Recht, als Welthauptstadt der Musik, natürlich der Kunstmusik, versteht, darf sich Luzern, das hat sich in diesem Sommer wieder eindrücklich bestätigt, als Welthauptstadt der Orchesterkultur sehen. In den 33 Sinfoniekonzerten dieses Sommers gab es wieder eine Vielzahl an Überraschungen (vgl. dazu «Mittwochs um zwölf» vom 26.08.22 und vom  02.09.22). Zum Beispiel beim Luzerner Sinfonieorchester, das mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling einen enormen Qualitätssprung hingelegt hat. Die Sinfonie Nr. 6 in h-moll von Peter Tschaikowsky, die «Pathétique», geriet jedenfalls überaus eindrücklich: in vollem, gerundetem Klang der grossen Besetzung und in berührender, nie überschiessender Emotionalität. Zuvor hatten die «Vier letzten Lieder» von Richard Strauss erwiesen, dass Diversität noch keine Qualität garantiert: Die Sopranistin Joyce El-Khoudry stammt zwar aus dem Libanon und zeigte dunklere Hautfarbe, blieb in ihrem vokalen Vortrag jedoch bestenfalls gepflegt. Mitreissend wenig später auch die «Scheherazade» von Nikolai Rimsky-Korsakow, die Antonio Pappano mit dem hochstehenden Orchestra Nazionale di Santa Cecilia aus Rom in einen schwungvoll durchgezogenen musikalischen Erzählfluss band. Und das so geschickt tat, dass die Redseligkeit von Rimskys Handschrift für einmal gar nicht auffiel.

Einen ganz eigenen Glanzpunkt an orchestraler Kultur brachte das London Symphony Orchestra mit seinem Noch-Chefdirigenten Simon Rattle ein. Die Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 in E-dur litt unter einem erschreckenden Beginn, fiel doch ein Hornist dort im Kopfsatz, wo das Hauptthema zum zweiten Mal aufscheint, einem Schwächeanfall zum Opfer und musste vom Podium geführt werden. Ersetzt wurde er sur place von der assistierenden fünften Hornistin, was der jungen Musikerin beim Schlussbeifall einen von Rattle mit der Hand über ihrem Kopf gezeichneten Heiligenschein einbrachte. Der zweite Anlauf führte dann ins Glück. Die Orchestermitglieder hören einander zu und bilden eine unverbrüchliche Einheit mit ihrem Dirigenten. So klang Bruckner trotz grosser Besetzung, übrigens mit auffallendem Frauenanteil, kammermusikalisch leicht und hell, sogar in den Momenten gesteigerter Lautstärke. Und so traten die Instrumentalfarben deutlich heraus, jene der Trompeten bisweilen zu scharf, jene der beiden Flöten hochgradig sinnlich. Mit vorbildlicher Sorgfalt wurde abphrasiert, im raschen Dreivierteltakt des Scherzo waren die Gewichte innerhalb des Taktes klar gegliedert – beides versteht sich keineswegs von selbst, führt aber mit zu jener Lebendigkeit, welche die Wiedergabe auszeichnete.

Lebendigkeit und Intensität brachen auch im Auftritt des Philhadelphia Orchestra aus. Yannick Nézet-Séguin, sein Chefdirigent seit zehn Jahren, weiss sich und das Orchester effektvoll zu inszenieren. Die Damen und Herren ganz in Schwarz. Rot dagegen die Unterlagen auf den Notenpulten, rot der Teppich auf dem eigens aus den USA herbeigeschafften Podest für den Dirigenten, und rot die Sohlen unter dessen Lackschuhen. Das hat seine amüsante, weil ironisch verspielte Seite, steht ihm aber vielleicht etwas im Weg – wo Nézet-Séguin doch ein genuin begabter, ausgezeichnet informierter Musiker ist, wie auch seine vor kurzem bei der Deutschen Grammophon erschienene Gesamtaufnahme der Sinfonien Ludwig van Beethovens hören lässt. Mit aller Feinfühligkeit begleitete er Lisa Batiashvili im ersten Violinkonzert von Karol Szymanowski wie im Poème für Geige und Orchester von Ernest Chausson – und dann setzte er sich ans Orchesterklavier, um der Geigerin bei einer Zugabe zu assistieren. Nach der Pause schliesslich eine feurige Wiedergabe von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 in d-moll. An Effekt fehlte es nicht, und doch verkam das Werk nicht zur Showpiece. Wie kaum je liess es vielmehr die Urkraft spüren, die in dieser Musik steckt.

Grossartig. Wo, wenn nicht am Lucerne Festival, lässt sich solches erleben?

Reiz und Sinn der Exzellenz

Lucerne Festival (2):
die Berliner Philharmoniker
zwischen Höhenflug und Diensterfüllung

 

Von Peter Hagmann

 

Nach wie vor, und trotz all der wahrhaft aufwühlenden Diskussionen um Hautfarbe und Geschlecht in der sogenannten klassischen Musik, gilt beim Lucerne Festival das Primat der Kunst. Unbarmherzig, wie der Stand der besetzten Sitze im Saal des KKL Luzern erweisen. Und unbeirrbar, was die künstlerische Qualität betrifft. Beispiel dafür war das Klavierrezital des 38-jährigen Isländers Vikingur Ólafsson: neunzig Minuten unterbrechungslose Konzentration, die das Publikum am Ende sogleich von den Sitzen aufspringen liess. Wie er es auf seiner 2021 bei der Deutsche Grammophon vorgelegten CD tat, schuf er ein klingendes Porträt Wolfgang Amadeus Mozarts in seinen späteren Jahren, dies aber nicht nur mit Werken des Komponisten, sondern auch und vor allem mit Stücken aus dessen künstlerischer Umgebung.

Namen wie die von Carl Philipp Emanuel Bach, Domenico Cimarosa, Baldassare Galuppi tauchten da auf – Namen, die nie auf Konzertprogrammen erscheinen. Und Stücke erklangen, die von auffallender Originalität waren, die gleichzeitig aber auch das Genie Mozarts nur umso deutlicher aufscheinen liessen. Und das in einem wunderbar geschlossenen, im Inneren jedoch vielfältig bewegten Bogen. Der Grund für diese Geschlossenheit lag in dem Umstand, dass das Programm streng nach den Regeln des Quintenzirkels gebaut war, dass die Werke also in verwandten Tonarten zueinandergestellt waren. Nur zweimal gab es Rückungen, anfangs einmal von a-Moll nach h-Moll, am Ende einmal von c-Moll nach h-Moll – das fuhr in dieser wohltemperierten Anordnung überraschend ein.

So erzeugte die Werkfolge nach allen Regeln der Kunst einen Bann sondergleichen – auch und gerade nach den Kriterien der Interpretation. Vikingur Ólafsson kann nicht nur unerhört schnell spielen; das kann er selbstverständlich auch. Und er kann nicht nur unerhört grossen Ton hervorbringen, auch das kann er natürlich. Noch beeindruckender ist aber sein dynamisches Spektrum im Leisen: Was kann der Mann flüstern auf dem Konzertflügel, und welche Ruhe herrscht dann im Saal – es entstehen da Momente der Introspektion, die es im Kosmos des Klavierspiels selten genug gibt. Nicht weniger hinreissend des Pianisten Vermögen, die Verläufe beim Wort zu nehmen, sie gegebenenfalls bis fast in zum Zerreissen zu dehnen und dabei dem Einzelnen nachzuhorchen, nachzuspüren. Das führte in Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 oder seiner Sonate in c-Moll KV 457 zu unglaublicher Vertiefung und stellte auch ein Werk wie die sattsam bekannte Sonata facile in C-dur KV 545 in ganz neues Licht. Joseph Haydns h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 ging Ólafsson an, wie es auf einem Steinway möglich und erlaubt ist, nämlich jenseits jeder Annäherung an den Klang des Hammerklaviers. So wie es Franz Liszt in seiner Adaption des «Ave verum» aus Mozarts Requiem getan hat; zu Bergen wohlklingender Kraft erhob sich hier die Musik Mozarts, um schliesslich im Verstummen zu enden. Das ist Exzellenz, wie sie für das Lucerne Festival steht.

Das Nämliche ereignete sich einige Tage später, am ersten der beiden Gastspiele der Berliner Philharmoniker, die wie stets den Höhepunkt des Festivals darstellten. Damit verbunden war freilich einiges Pech. Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner, hatte sich am rechten Fuss verletzt, wurde erfolgreich operiert und muss sich nun im Interesse der vollständigen Wiederherstellung Schonung auferlegen. So konnte er nur eines der beiden Konzerte dirigieren. Im zweiten Auftritt glänzte Tabea Zimmermann mit einer intensiven, auch wohlklingenden Auslegung des Bratschenkonzerts von Alfred Schnittke, worauf die vierte Sinfonie Anton Bruckners erklang. Die Berliner gaben das Stück auf ihrem Niveau, am Pult stand Daniel Harding, der dazu den Takt schlug, ohne Nennenswertes zu erzielen. Harding zeigte Dinge an, die im Orchester nicht geschahen, dort wiederum geschahen Dinge, denen er beflissen folgte. Das Tutti war eine Katastrophe; weder am Schluss des Kopfsatzes noch am Ende der Sinfonie war der kennzeichnende Hornruf zu vernehmen, er ging im Getöse unter. Genug; mit Exzellenz hatte das nichts zu tun, mit Dienst allerdings schon.

Gerade umgekehrt war es bei Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 am Abend zuvor, einem zerklüfteten, dementsprechend selten gespielten Stück (in Luzern stand es, wie das einmal mehr sehr informative Programmheft mitteilt, erst 85 Jahre nach seiner Prager Uraufführung von 1908 auf dem Programm). Wie es Vikingur Ólafsson gelang, band Kirilll Petrenko die fünf Viertelstunden in einen schlüssigen Verlauf, ohne die Individualität der fünf Sätze zu unterspielen oder ihre Diskontinuitäten auszuebnen. Im Gegenteil, er stellte die Schärfe der Partitur, ihre Gebrochenheit, auch ihren Zeitbezug in aller Unerbittlichkeit heraus und blieb, auf der anderen Seite, der sehrenden Melancholie und ihrer fast schon gläsernen Schönheit nichts schuldig.

Die Eröffnung des Kopfsatzes breitete gleich die grandiose Farbpalette der Berliner Philharmoniker aus. Das zweite Thema nahm Petrenko langsam, und schon da war zu hören, welche Flexibilität der Tempogestaltung er anstrebt und ihm das Orchester verwirklicht. In bewundernswerter Übersicht zog er durch den Satz, Drängen stellte sich neben das Schwelgen, scharfe Blitze fuhren in die gelöste Ruhe. Den Marsch am Ende des Satzes nahm Petrenko so schneidend, dass mit Händen zu greifen war, was der Komponist im Augenblick der Niederschrift ahnte. Darauf der Mittelteil mit den beiden Nachtmusiken und dem schattenhaft dahinhuschenden Scherzo. Grossartig in der ersten Nachtmusik das eröffnende Hornsolo und sein Echo, atmosphärisch treffend die Herdenglocken, ungeheuer die diskrete, untergründige  Spannung, die nicht zuletzt durch die explizite Körpersprache des Dirigenten erzeugt wie unterstützt wurde. Freundlicher Serenadenton und ausgefeilte Kammermusik prägten die zweite Nachtmusik, in der die Gitarre und die Mandoline, rechts aussen platziert, einmal nicht nur als Geräusch, sondern mitsamt ihren Tonhöhen zu hören waren. Dies auch darum, weil die Berliner Philharmoniker nicht nur über ein glänzendes Forte verfügen, sondern auch über eine Kultur des Leisen, deren Wurzeln im Wirken Claudio Abbados liegen. Im Rondo-Finale schliesslich brach der selbstbewusste Lärm der Jahrhundertwende von 1900 aus, freilich jederzeit kontrolliert durch vorzügliche Balance, so dass auch Nebensachen zu gebührender Wirkung kamen. Höchste Orchesterkultur und sinnreiche Imagination des Interpreten am Pult kamen da in bezwingender Weise zusammen.

Notfallsternstunde

Lucerne Festival (1):
Riccardo Chailly und Jakub Hrůša beim
Lucerne Festival Orchestra

 

Von Peter Hagmann

 

Diversität hin, Putin her – die Hauptsache am Lucerne Festival sind noch immer die Abende mit den bedeutenden Orchestern der Welt. Zum Beispiel mit dem Lucerne Festival Orchestra – das am vierten seiner fünf Konzerte eine Sternstunde erlebte, die sich geradewegs ins Geschichtsbuch eingetragen hat. Und das kam so.

Als Chefdirigent des Orchesters hatte sich Riccardo Chailly für ein Programm mit Musik von Gustav Mahler entschieden, mit den «Liedern eines fahrenden Gesellen» und der Sinfonie Nr. 1 in D-dur. Das war eine Herausforderung eigener Art, denn die Musik Mahlers bildete den zentralen Nervenstrang im Wirken Claudio Abbados als Initiant des Lucerne Festival Orchestra. Die Probenarbeit muss in der für Chailly charakteristischen Sorgfalt abgelaufen, die Generalprobe am Abend vor dem Konzert soll zu einem Moment des Glücks geworden sein – und dann, am Morgen darauf, die Hiobsbotschaft: Riccardo Chaillly musste sich krankmelden und den abendlichen Auftritt absagen. Da war guter Rat teuer, sehr teuer.

Bereits in Luzern angekommen war an jenem Tag Jakub Hrůša, der Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, der für das fünfte Konzert des Lucerne Festival Orchestra verpflichtet war. Es geschah, was niemand zu träumen gewagt hätte: Hrůša übernahm das Konzert, er dirigierte den Abend als Einspringer in denkbar wörtlichem Sinn, nämlich ohne jede Probe, wenn auch mit den Partituren Chaillys auf dem Pult. Das Orchester stand dem Dirigenten in jeder Sekunde in beispielhafter Solidarität bei, die Musikerinnen und Musiker gaben allesamt ihr Letztes an Können und Achtsamkeit – und so kam es zu einer Aufführung von Mahlers Erster, die das Publikum förmlich von den Sitzen riss. Das war wieder einmal das Lucerne Festival. Und das Lucerne Festival Orchestra.

Mit gutem Recht kann man Mahlers Erstling (inklusive seines mehr oder weniger geheimen Programms unter dem ironischen Titel «Titan») als ein Gebilde im Zeichen des Jugendstils sehen, als eine äusserst fein ziselierte Zeichnung, wie sie der Beginn des Kopfsatzes vorgibt. Man kann, muss aber nicht, wie Jakub Hrůša auf der von Riccardo Chailly gelegten Grundlage gezeigt hat. Mit dem Tschechen am Pult erschien das Werk als ein stürmisch jugendlicher Geniestreich, als ein Gebilde mit griffiger Kontur und pointierten Kontrasten. Nach dem «Naturlaut» mit seinen wunderbar von Ferne herklingenden Trompetenfanfaren kam er erste Satz weniger gemächlich als burschikos in Gang, die Steigerung der Temperatur gelang darum ebenso heftig wie zwingend. Während der zweite Satz logisch anschloss und durchführte, was der erste angelegt hatte – die Agilität des Orchesters und seine klangliche Wandelbarkeit ermöglichten es beispielhaft. Besonders ausgeprägt der Trauermarsch des dritten Satzes mit dem tadellos gelungenen Kontrabass-Solo zu Beginn. Er führte im Finale zu einem Ausbruch sondergleichen, und hier kam die Körperlichkeit des Klangs, die Hrůša zu erzielen weiss und die er mit fulminanter Zeichengebung beförderte, zu herrlichster Wirkung. Die Aufführung lebte von starker atmosphärischer Wirkung, und vor allem liess sie wieder einmal hören und fühlen, was das ist: ein schönes Fortissimo.

Vorab hatte es die vier «Lieder eines fahrenden Gesellen» gegeben – den Zyklus Mahlers, der aus der gleichen Lebensphase des Komponisten stammt und in enger Verbindung mit der ersten Sinfonie steht. Der junge, enorm aufstrebende Bariton Andrè Schuen setzte mit allem Gewinn auf sein warm leuchtendes, samtenes Timbre und brachte die vier so unterschiedlich schimmernden Lieder zu bester Geltung. Insgesamt blieb er im Ausdruck vielleicht ein wenig zu verhalten, doch mochte das der Aufregung der Situation geschuldet sein.

In seinem zweiten Konzert, einige Tage zuvor, waren das Lucerne Festival Orchestra und Riccardo Chailly weitergegangen in ihrem Zyklus zum genius loci, zu Sergej Rachmaninow, seinen Klavierkonzerten und seinen Sinfonien. Dieses Jahr hatte das seine besondere Sinnfälligkeit, wird doch das Haus, das sich der Komponist nächst Luzern erbauen liess, strukturell neu aufgestellt und unter der Leitung der Flötistin und Kulturmanagerin Andrea Loetscher mit Leben erfüllt. Zwei Mal die Nummer zwei bot der Rachmaninow-Abend im Luzerner KKL. Zuerst das Klavierkonzert Nr. 2 in c-moll op. 18 von 1901 – das hier leider zu einem Konzert für Orchester mit Klavierbegleitung wurde. Der junge Japaner Mao Fujita mag für die Klaviersonaten Wolfgang Amadeus Mozarts, die er demnächst bei Sony herausbringen wird, der Richtige sein, im Konzert Rachmaninows erschien er als wenig geeignete Besetzung.

Schon die Einleitung zum Kopfsatz, dem Klavier allein überlassen, liess die Begrenzungen seiner Kraftreserven deutlich werden – und Kraft, ja Metall, vor allem auch Obertöne braucht es für dieses Stück allemal. Gewiss liesse sich darüber nachdenken, ob sich das c-moll-Konzert Rachmaninows auch in etwas lyrischerem Licht darstellen liesse, nur müsste dann das Orchester dabei mitmachen. Riccardo Chailly, der als Dirigent direkt hinter dem Flügel steht und die akustische Wirkung im Saal vielleicht zu wenig in Rechnung stellte, liess das Lucerne Festival Orchestra aber prächtig aufrauschen, so dass dem Solisten nur mehr die Rolle des murmelnden Kommentators blieb. Die erfüllte er freilich tadellos: mit aktivem Konzertieren, mit geschmeidigem Rubato, mit perlender Geläufigkeit.

Klangrausch, weit ausschwingend, dann auch bei der 1907 abgeschlossenen Sinfonie Nr. 2 in e-moll op. 27 – aber, und das macht die Besonderheit aus, jederzeit sorgfältig kontrollierter Klangrausch. Kontrolle im Hinblick auf die Ausstrahlung des Orchesters, das hier tatsächlich seine ganze, nach wie vor einzigartige Farbenpalette erstrahlen liess. Kontrolle aber auch mit dem Zweck, die formalen Verläufe fassbar zu machen. Ein Leichtes ist es, sich den stetig wiederholten Klangwellen Rachmaninows hinzugeben und sich mit ihnen aufschaukeln zu lassen, nur ist das nicht alles. Das Stück an die Kandare zu nehmen, seine Redseligkeit zu bändigen und erlebbar zu machen, dass auch diese Musik ihren Plan hat, das ist weitaus schwieriger. Nicht zuletzt darum, weil neben der Einlässlichkeit, ohne die eine packende Interpretation nicht gelingen kann, ein hohes Mass an Distanz und Übersicht gefordert ist. Die Verbindung zwischen diesen beiden Polen ist Riccardo Chailly hervorragend gelungen. Mit seinen dunklen Violinen, den satten Hörnern und dem tragenden Bassfundament hatte das Lucerne Festival nicht wenig Anteil daran.

Temperament oder Struktur?

Das Lucerne Festival wirft Licht auf
Felix Mendelssohn Bartholdy

 

Von Peter Hagmann

 

Das ist es nun also, das neue Frühlings-Wochenende des Lucerne Festival. Es ersetzt das 1988 von Ulrich Meyer-Schoellkopf eingerichtete, beim Publikum gut eingeführte, 2019 jedoch eingestellte Osterfestival, das seinen Schwerpunkt eher bei geistlicher Musik suchte und in den letzten Jahren das hervorragende, inzwischen leider ganz aus den Luzerner Agenden verschwundene Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München als Residenzformation führte. Ganz anders das neue Frühlings-Wochenende. Es  gehört dem Lucerne Festival Orchestra, das hiermit zum ersten Mal ausserhalb der Sommerfestivals auftrat – nur richtig, dass bei dieser Neuorientierung des Luzerner Festivals auf seine grundlegende Strategie zurückgegriffen, dass auf die Eigenproduktion gesetzt und die zentrale Errungenschaft des von Claudio Abbado und Michael Haefliger Festivalorchesters ans Licht gehoben wird. Und wenn das in einer derart spannenden Programmdramaturgie geschieht, wie es hier der Fall war, dann ist für kreative Anregung gesorgt.

Die Aufmerksamkeit galt Felix Mendelssohn Bartholdy, wenn auch nicht ihm allein, sondern ihm und seinem Umfeld. Gebildet wurde dieses Umfeld am ersten Abend des neuen Kurz-Festivals von – Richard Wagner. Ja, tatsächlich: von Richard Wagner, der sich in einem berühmt gewordenen Pamphlet äusserst abschätzig über seinen vier Jahre älteren Kollegen geäussert hat. Die Juden, schrieb er dort in Anspielung an Mendelssohn, seien nicht in der Lage, zu den Wurzeln von Musik als einer das Innerste berührenden Kunst vorzudringen; sie vermöchten auch nicht Kreativität im eigentlichen Sinn zu entfalten, es bliebe ihnen, Papageien gleich, allein das Kopieren. Jude war Mendelssohn insofern, als er einer jüdischen Familie entstammte. Allerdings ist er rein christlich erzogen und als Siebenjähriger 1816 protestantisch getauft worden; als sechs Jahre später auch die Eltern zum Christentum übergetreten waren, liess der Vater den Familiennamen um den Beinamen Bartholdy erweitern. Dessen ungeachtet sah Wagner in Mendelssohn eine Zentralfigur des jüdischen Künstlertums, gegen die sich sein antisemitischer Furor richtete. Nicht zu übersehen ist freilich, dass dabei, ähnlich wie im Konflikt, den Wagner mit Giacomo Meyerbeer austrug, auch eine gute Portion Neid im Spiel war. Neid auf den Erfolg des anderen und zugleich eine eigenartige Anziehung. Musikalisch scheint sich Wagner tatsächlich gar nicht selten durch Mendelssohn angeregt haben zu lassen.

Drastisch vor Ohren geführt wurde das durch den ersten Teil des gut besetzten Abends im KKL Luzern. Folgte dort doch dem Vorspiel zu Wagners «Parsifal» die fünfte Symphonie Mendelssohns, die vergleichsweise selten gespielte «Reformationssymphonie». Das 1839 vollendete Werk, von Mendelssohn zum 300. Jubiläum der «Confessio Augustana» geschrieben, stellt ein emphatisches Bekenntnis des zwanzigjährigen Komponisten zum Christentum lutherischer Ausprägung dar; er tut das zum Beispiel mit dem Anklang an eine religiös konnotierte Tonfolge, die als «Dresdener Amen» bekannt ist, und verwendet im Finalsatz den Choral «Ein’ feste Burg ist unser Gott». Ebenso findet sich das «Dresdener Amen» in «Parsifal»; dort wird es «Gralsmotiv» bezeichnet. Ist es Zufall? Ist es Absicht? Wagner hat die «Reformationssymphonie» nachweislich gekannt, eine Übernahme der Tonfolge durch den Komponisten in sein 1882 fertiggestelltes Bühnenweihfestspiel ist zumindest nicht auszuschliessen. Indessen gehört das «Dresdener Amen» zu den musikalischen Formeln von allgemeiner Bekanntheit; Richard Wagner, der lange und wichtige Jahre in Dresden verbracht hat, wird sie nicht entgangen sein.

Zu solchen Überlegungen konnte man sich angeregt fühlen – wenn man mit Riccardo Chaillys extrem gedehnten Tempi im «Parsifal»-Vorspiel und seinem robusten Ton in der «Reformationssymphonie» seinen Frieden gemacht hatte. Das Lucerne Festival Orchestra, in dem die Holzbläser besonders brillierten, agierte auf gewohnt hochstehendem Niveau, doch das Ziel, in dessen Dienst es sich stellte, liess einige Fragen aufkommen. Dass Chailly das Vorspiel zum dritten Aufzug von Wagners «Lohengrin» als knallige Überwaltigungsmusik darbot, hat seine Plausibilität, und das umso mehr, als das Orchester der Intention seines Chefdirigenten nicht das Geringste schuldig blieb. Bei Mendelssohns Sinfonie Nr. 3 in a-Moll, der «Schottischen», unterschied sich der Klang des Orchesters nur wenig von den vorangegangenen Wogen, und dies trotz der reduzierten Besetzungsstärke. Nun gut, in der «Schottischen» mag es bisweilen um Naurgewalten gehen. Und vielleicht versuchte Riccardo Chailly auch, das Klischee vom blutleeren Klassizisten, das Mendelssohn so hartnäckig anhaftet, mit dem ihm eigenen Temperament zu begegnen..

Jedenfalls: Sehr kompakt die Streicher, festgefügt und mächtig auftragend die Bläser, die Attacke feurig, die Wendigkeit enorm – alles grossartig. Nicht zu überhören waren aber auch die damit einhergehenden Nachteile. Mendelssohns helle, klare, subtil gezeichnete und im Inneren des Geschehens ausnehmend lebendige Sprache fand zu wenig von der Ausstrahlung, die sie entwickeln kann. «Un poco», «assai», «non troppo» verlangt der Komponist, seine Luzerner Interpreten kannten dagegen kein Mass. Da manifestierten sich Übersteuerung und viel zu viel Druck – mit dem Ergebnis, dass mehr als einmal die Einzelheiten, die Besonderheiten unter den Tisch fielen. Beispielhaft dafür steht jene Stelle im Adagio der Sinfonie, an der die Bratschen etwas zu sagen hätten und an der Chailly sie mit auffordernden Gesten zu motivieren suchte – allein, die Liebesmüh war verloren, die Bratschen gingen im im allgemeinen Getöse unter. Vieles, sehr vieles ist bei Riccardi Chailly meisterlich aufgehoben; Mendelssohn gehört nicht dazu. Dass sich mittlerweile, seit Nikolaus Harnoncourt, Frans Brüggen, Pablo Heras-Casado, ganz andere, fruchtbare Deutungsweisen eröffnet haben, das macht allerdings Hoffnung.

Neue Musik, neu gedacht?

Das Lucerne Festival Forward – zum ersten Mal

 

Von Peter Hagmann

 

Der Schock war beträchtlich, als das Lucerne Festival im Frühjahr 2019 bekanntgab, sowohl das Osterfestival als auch das herbstliche Klavierfestival aufgeben zu wollen. Dies umso mehr, als beide Festivals in der Programmgestaltung zwar gewisse Ermüdungserscheinungen zeigten, insgesamt aber gut positioniert und im Publikum beliebt waren. Warum also die strategische Neuausrichtung? Die Frage ist bis heute offen. Wie auch immer, das Klavierfestival wurde flugs und mit Erfolg vom Luzerner Sinfonieorchester übernommen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.11.21). Das Lucerne Festival wiederum hat sich inzwischen auf seinen Nebengeleisen neben der Hauptsache im Sommer neu ausgerichtet. Und zwar mit einer Fokussierung auf das Lucerne Festival Orchestra und die Lucerne Festival Academy, jene zwei mit Hilfe von Claudio Abbado und Pierre Boulez gebildeten Gründungen, mit denen Michael Haefliger als Intendant das Gesicht des Lucerne Festival neu gezeichnet hat.

Fortan gibt es im Frühjahr anstelle des Osterfestivals jeweils eine Residenz des Lucerne Festival Orchestra und seines Chefdirigenten Riccardo Chailly. In den nächsten zwei Jahren werden hier die Sinfonien von Felix Mendelssohn Bartholdy in ihrem musikalischen Umfeld präsentiert, und das im Rahmen zweier Orchesterkonzerte und eines Kammerkonzerts mit Mitgliedern des Orchesters. Die Klavierwoche dagegen wird ersetzt durch ein Wochenende unter der Bezeichnung «Lucerne Festival Forward». Neue Wege in der Gestaltung von Musik, in der Ausarbeitung von Programmen, in der Entwicklung von Präsentationsformen sollen hier erprobt werden.

Nicht zuletzt geht es dabei um die Auflösung scheinbar feststehender Grenzen – zwischen vorne und hinten im Raum, zwischen den Ausführenden auf dem Podium und den Zuhörenden im Saal, zwischen dem Konzeptentwerfer als Auftraggeber und den Realisatoren als dessen Auftragnehmern. Genutzt werden soll hier das weitgespannte Netzwerk aller Absolventinnen und Absolventen der Lucerne Festival Academy, wie es schon das Lucerne Festival Contemporary Orchestra vorführt. Vonseiten des Festivals ziehen Felix Heri als der neue Leiter der Abteilung «Contemporary» und der Dramaturg Mark Sattler mit seiner langjährigen Erfahrung die Fäden. Kreiert haben die erste Ausgabe des Lucerne Festival Forward aber 18 Mitglieder des Netzwerks aus allen Herren Ländern, die sich in der Vorbereitung über Video-Konferenzen ausgetauscht haben. Der Programmgestalter ist tot, es lebe das Team – der Ansatz wird in immer mehr kulturellen Institutionen gelebt, hierzulande zum Beispiel in verschiedenen Theatern mit mehrfach besetzten Direktionen.

So begab man sich denn durch den Novembernebel ins KKL Luzern, zeigte das Zertifikat und die Identitätskarte vor – und sah sich unversehens inmitten einer Gruppe junger Menschen, die alle denselben Ton summten, mit der Zunge schnalzten und zuckende Bewegungen vollführten. «TICK TOCK iiiiii» nannte sich die, pardon, etwas kindliche Einführung in den Abend, die sich Winnie Huang, die chinesisch-australische Geigerin und Bratscherin, Performerin und Komponistin hatte einfallen lassen. Wie die Nager dem Rattenfänger von Hameln überliess man sich dem Sog in Richtung Konzertsaal. Dort blieb noch ein kurzer Moment, um den QR-Code aufs Taschentelefon herunterzuladen und auf diesem Weg einige Informationen zum ersten Konzert des Forward-Wochenendes zu ergattern.

Nicht ganz einfach, dies Unternehmen. Man konnte aber auch im Analogen bleiben und sich an einen Flyer halten. Dort war von Markus Güdel zu lesen, der die Steuerung des Lichts im Saal entworfen hat, oder von dem jungen argentinischen Dirigenten Mariano Chiacchiarini, der sich für seinen Kurzauftritt beim Eröffnungsabend zum neuen Luzerner Zukunftsfestival eines ausgesprochen altmodischen Instruments bediente: eines Taktstocks. Nur: Wer genau im Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra mitwirkte – wo es zum Teil Anspruchsvolles zu bewältigen gab –, das wurde nicht mitgeteilt. Und schon war da wieder dieses Summen – denn inzwischen hatte «Water and Memory» für sechs Frauen und sechs Männer der Neuseeländerin Annea Lockwood begonnen, eine Abfolge des Wortes «Wasser» in Hindi, Thai und Hebräisch. Alles sehr leise, da galt es die Ohren zu spitzen, was guttat. Nach einer Viertelstunde wurde das kleine, aber willige Publikum zum Mitsummen eingeladen: Jekami, wie es im Buche steht, und bitte so entspannt wie im Yoga-Kurs. Herrlich.

Bruchlos ging es weiter zu «Artificial Life 2007» des Amerikaners George Lewis. Das Stück ist kein Stück, sondern eine Anleitung zum Improvisieren. Ein wenig wie in Werken der Offenen Form aus der Mitte des 20. Jahrhunderts oder wie in den «Europeras» von John Cage sind auf zwei Blättern Handlungsanweisungen festgehalten, die von den Ausführenden in diesem Fall nicht spontan, sondern reflektiert und kontrolliert ausgewählt und ausgeführt werden sollen. Im klanglichen Ergebnis erinnerte hier eine Passage an die Punktuelle Musik des jungen Karlheinz Stockhausen, dort eine andere an Helmut Lachenmann und seine Sprache der Geräusche. Etwas viel von gestern, gar wenig für morgen – «Forward»?

Den einzigen Beitrag von Format steuerte an diesem Abend Liza Lim bei, die Australierin chinesischer Herkunft, die längst zur Weltbürgerin geworden ist. «Extinction Events and Dawn Chorus», ein 2018 für das Klangforum Wien geschriebenes Werk, ist engagierte Musik, aber nicht zorniges Schreien, nicht musikalisches Transparent, sondern äusserst gedankenreich erfundene und mit Lust am Spiel umgesetzte Kunst. Die Sorge der 55-jährigen Komponistin gilt der Art und Weise, wie wir unseren Planeten ruinieren und uns selbst ausrotten; am Ende lässt sie aber auch einen Schimmer an Hoffnung aufscheinen. Die Fische spielen ihre Rolle und die Plastikabfälle, die wir ihnen zum Frass vorsetzen. Ein grosses Stück Plastik wird von einer Geigerin aus dem Saal aufs Podium gebracht, dort hat der Schlagzeuger alle Mühe, das Ding unter Kontrolle zu bekommen. Später wird ein Rohr aus Plastik ans Kontrafagott angeschlossen, auf dass das Instrument einen besonders tiefen Ton hervorbringe, wie ihn die Fische in den Tiefen der Ozeane erzeugen. Auch ein Kauai O’o tritt auf, ein ausgestorbener Vogel aus Hawai, dessen Gesang vom Piccolo vorgetragen wird – wie bei Olivier Messiaen, nur war der Franzose diesbezüglich wesentlich weiter.

Das kümmert Liza Lim nicht, arbeitet sie doch bewusst mit Versatzstücken, auch mit solchen älterer neuer Musik, die das fast eine Dreiviertelstunde dauernde Werk in ganz eigener Weise verarbeitet. Momente der Ausweglosigkeit zeigen sich da – etwa dann, wenn eine Geigerin einem Trommler etwas vorspielt und der auf einer zwischen sein Instrument und einen Schlägel gespannten Saite das Vorgespielte nachzuahmen versucht. Am Ende dämmert im Gesang der Fische das Morgenrot der Hoffnung; aufgeben mag Liza Lim nicht – das löst trotz einer gewissen Naivität der Aussage Berührung aus. Allein, leicht zu hören und zu verstehen ist diese Musik nicht – war es trotz dem fulminanten Einsatz des zwölfköpfigen Ensembles nicht. Die Hermetik der alten Avantgarde, der nur das Unverständliche gut genug war, feiert hier fröhlich Urständ. Geholfen hat eine Webseite, die eigens zum Lucerne Festival Forward aufgeschaltet war. Sie enthielt unter anderem Vorstellungen der Werke durch ihre Komponistinnen und Komponisten – meist auf Englisch, aber durchgehend mit Untertiteln in Deutsch.

Das also war das erste Konzert des Lucerne Festival Forward, und nur darum geht es hier. Es folgten drei weitere Konzerte, die sich alle um Vernetzung, Partizipation, Räumlichkeit drehten – Themen, die in der Luft liegen, im grossen Betrieb der neuen Musik aber noch nicht wirklich angekommen sind. Ihnen nachzugehen ist eine gute Idee, auch wenn dabei manche Frage offenbleiben musste. Ob das Fallenlassen von Reiskörnern auf unterschiedliche Materialien durch vier Instruktoren und zwölf Mitmachern aus dem Publikum der neuen Musik den dringend benötigten Energieschub verleiht? Es darf dahingestellt bleiben. Aller Anfang ist schwer, darum dürfte in den Verlautbarungen des Lucerne Festival der Mund etwas weniger voll genommen werden. Die neue Musik wird auch in Luzern nicht neu erfunden werden. Nach ihr zu suchen, lohnt sich aber allemal.

Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Reiz und Bedeutung des Eigenen

Sprühendes Leben im Konzert – beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Einen solchen Abend gibt es wohl nur an einem Festival – vielleicht gar nur am Lucerne Festival, wo das Mahler Chamber Orchestra, das Herzstück des Lucerne Festival Orchestra, in Residenz weilt und sich nicht nur flexibel einsetzen lässt, sondern sich auch neugierig dem Unerwarteten öffnet. Das Unerwartete war in diesem Fall die Begegnung mit dem Geiger und Dirigenten Roberto Gonzáles-Monjas, einem ganz und gar einzigartigen Musiker. Sei es, dass er als Konzertmeister bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom die Sinfonische Dichtung «Ein Heldenleben» aufnimmt und dabei Richard Strauss’ Ironie freien Lauf lässt. Sei es, dass er beim Musikkollegium Winterthur, wo er demnächst das Amt des Chefdirigenten übernimmt, zusammen mit dem Pianisten Kit Armstrong die nicht leicht zu hörenden (und noch weniger leicht zu spielenden) Violinsonaten Wolfgang Amadeus Mozarts aufführt. Sei es, dass er mit dem kolumbianischen Jugendorchester Iberacademy Ludwig van Beethovens «Eroica» an die Grenzen der Intensität führt – und dass er das nicht mit dem Taktstock in der Hand, sondern als Konzertmeister tut.

Genau so trat Roberto Gonzáles-Monjas gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra im Luzerner KKL auf: mit einem überraschungsreichen, geschickt zusammengestellten Programm, mit hinreissenden Interpretationen und schlichtweg sensationellem Erfolg. Schon der Einstieg sorgte für gehörigen Effekt – denn «Le Cahos» aus der «Simphonie Nouvelle ‹Les Elemens›» von Jean-Féry Rebel, eines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, hebt mit einem wüsten Cluster an, dem Sinnbild für die Ursuppe, aus der sich im weiteren Verlauf eine reizvolle Folge wohlgeordneter Kadenzen erhebt. Ganz ruhig entfaltete sich diese Musik für Streicher, hier durch ein Fagott und ein Cembalo ergänzt, zugleich aber bebte sie vor Spannung und Energie. Beides kam direkt aus dem Körper des 33-jährigen Konzertmeisters, der mit lustvoll animierender Ausstrahlung spielte. Für den Schlussakkord reckte er sich wie eine Feder aus der halben Hocke in die Höhe und zog den Klang unwiderstehlich auf den Schlusspunkt hin.

Von ähnlichen Voraussetzungen profitierte Joseph Haydns Sinfonie in f-Moll Hob. I:49 mit dem Beinamen «La passione». Als krasses Gegenstück zu dem Bild, das Riccardo Chailly mit dem Lucerne Festival Orchestra geboten hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 25.08.21), gab die Auslegung durch das von Gonzáles wiederum vom ersten Geigenpult aus geleitete Mahler Chamber Orchestra zu erkennen, in welchem Geist der Einfallsreichtum und der klangliche Reiz von Haydns Musik zum Leben erweckt werden kann – spannend und gegenwärtig war das von A bis Z. Klein besetzt das Orchester mit den solistischen Bläsern und den je sechs Ersten wie Zweiten Geigen, die links und rechts von dem in der Mitte positionierten Cembalo aufgestellt waren – und die wie alle Musikerinnen und Musiker, die es konnten, im Stehen spielten: als Solisten, die ein Orchester bildeten. Dass die Wahl der Instrumente nicht derart ausschlaggebend ist, wie es der Markt suggeriert, dass es viel eher um die stilistische Angemessenheit der Spielweise geht, es war mit Händen zu greifen. Zur stilistischen Angemessenheit gehört etwa die Mässigung im Einsatz des Vibratos; in der Sinfonie Haydns führte das zu einer Schärfung der Dissonanzen, die als Gewürz weitaus stärker einwirkten, als es sonst der Fall ist.

Der Mittelteil des Abends gehörte, zumindest partiell, Yuja Wang. Ihr frech ironisierendes Outfit entzückte, ihr so farb- wie ahnungsloses Spiel auf dem Steinway in Bachs Klavierkonzert in f-Moll BWV 1056 weniger. Blass blieb sie hier, etwas unsicher und mutlos – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass dieses Repertoire nicht gerade zum Kern ihres Tuns gehört. Eines Tuns, das durchaus bewundert werden darf, wie ihre leitende Mitwirkung in dem praktisch nie aufs Programm gesetzten Capriccio für ausschliesslich mit der linken Hand gespieltes Klavier und Bläserensemble von Leoš Janáčcek erwies. Ein sehr persönliches, auch horrend anspruchsvolles Werk, das mit letzter Brillanz dargeboten wurde. Nicht weniger erfrischend das Bläseroktett von Igor Strawinsky, in dem vier Holzbläser mit vier Blechbläsern wetteifern. Auch das eine fulminante interpretatorische Leistung. Schade nur, dass die Namen der fürwahr solistisch auftretenden Orchestermitglieder (im Gegensatz zu jenen der Sponsoren…) im Programmheft nirgends verzeichnet waren.

Abende wie dieser erhalten ihre Relevanz auch dadurch, dass sie zur inhaltlichen Erkennbarkeit des Lucerne Festival beitragen. Gastspiele grosser Orchester mit grossen Dirigenten verfügen zweifellos über ihren ganz eigenen Reiz, nur finden sie in der Regel im Rahmen von Tourneen statt, sie tragen ihre Botschaft also nicht nur nach Luzern, sondern auch nach Salzburg, Berlin oder London. Im Gegensatz dazu gehören Auftritte wie jener mit dem Mahler Chamber Orchestra dem Luzerner Festival allein. Das gilt auch für zwei von Schweizer Orchestern bestrittene Programme, die Teil eines Luzerner Schumann-Zyklus bilden – und beide Konzerte sorgten für veritable Aha-Erlebnisse. Zusammen mit seinem Musikdirektor Paavo Järvi erschien das Tonhalle-Orchester Zürich mit einem reinen Schumann-Programm; es umfasste die «Genoveva»-Ouvertüre, das Violinkonzert (das Christian Tetzlaff mit hoher Identifikation und berührender Wärme in Klang setzte) und die Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur, die «Rheinische». Blendend war dies Hauptstück gemeistert – in einem Klang, der die dunkle Grundfärbung des Zürcher Orchesters hören liess, sie gleichzeitig jedoch verband mit heller Transparenz, der ausserdem mit der Opulenz der grossen Besetzung mit vierzehn Ersten Geigen prunkte, ebenso sehr aber von geschmeidiger Beweglichkeit lebte. Eindrucksvoll die vorab durch die Arbeit an den Tempi erzielten Spannungssteigerungen, die ebenso eleganten wie markanten Akzentsetzungen, die Präsenz des hier feierlichen, dort enthusiastischen Tons, der diese Sinfonie kennzeichnet. Ein erstklassiges Gastspiel.

Wenige Abende zuvor hatte das Luzerner Sinfonieorchester das Wort ergriffen – mit nicht geringerem Erfolg. Ein Heimspiel, gewiss, aber auch ein besonderer Moment, denn am Pult stand zum ersten Mal in dieser Funktion Michael Sanderling als neuer Chefdirigent. Eine genau richtige Wahl darum, weil auf die zehn erfolgreichen Jahre mit dem Amerikaner James Gaffigan nun eine Phase im Zeichen deutscher Ästhetik folgen dürfte. Darauf wies schon Schumanns Cellokonzert hin, das Steven Isserlis äusserst extravagant anging. Sehr poetisch, ganz innerlich nahm er seinen Part, so als ob er ins Geflecht der Töne hineinzuhorchen und jedem musikalischen Ereignis nachzusinnen suchte. Das Orchester hielt sich zuverlässig an des Solisten Seite – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Michael Sanderling, von Haus aus Cellist, das Stück aus reicher eigener Erfahrung am Instrument kennt. Indessen mochte gerade das nicht nur von Vorteil sein, schienen des Dirigenten Vorstellungen von der Partitur doch etwas anders gelagert als jene des Solisten. Jedenfalls blieb das Orchester bisweilen eher im Mezzoforte stehen, wo Isserlis wagemutig in die Wunderwelt des ganz leisen Singens hinabstieg. Sehr sorgfältig in der klanglichen Balance und firm in der Aussage sodann Schumanns vierte Sinfonie in d-Moll, in der heute üblichen zweiten Fassung von 1851 und mit angeblichen Retuschen von Michael Sanderling – dies eine Mode von gestern, als man noch glaubte, Schumann habe nicht instrumentieren können. Schlank und zeichnend der Klang auch im Forte. Die Posaunen kräftig, aber jederzeit ins Ganze eingebunden, die Holzbläser in ganzer Farbenpracht präsent. Besondere Momente boten die ruhig ausgesungene Romanze des zweiten Satzes und der Übergang vom Scherzo ins Finale. Die Zusammenarbeit hat Potential, es war nicht zu überhören.

Vom Dunkel ins Licht

Ein Abend mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chefdirigenten Riccardo Chailly

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Orchester wie kein anderes sei das Lucerne Festival Orchestra, das 2003 von Claudio Abbado gemeinsam mit Michael Haefliger ins Leben gerufen wurde und das seit 2016 von Riccardo Chailly geleitet wird. Das hat, was die Existenzform und die Arbeitsbedingungen betrifft, nach wie vor seine Gültigkeit. Und es hätte sich in der klingenden Realität bestätigt, hätten die ursprünglichen Pläne für die Sommerausgabe 2021 des Lucerne Festival durchgeführt werden können. Ein Gustav Mahler zugeschriebenes Sinfonisches Präludium und dessen erste Sinfonie hätte es zur Festival-Eröffnung gegeben, dazwischen wären Bruchstücke aus Alban Bergs Oper «Wozzeck» erklungen. Im zweiten Programm hätte Chailly zusammen mit dem Pianisten Denis Matsuev das 2019 in Gang gesetzte Rachmaninow-Projekt weitergeführt. Worauf dann der Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin übernommen und Bruckners Achte dirigiert hätte.

Allein, aus all dem wurde nichts, die Pandemie hat es verunmöglicht. Grosse Besetzungen liessen sich auch auf dem geräumigen Orchesterpodium im Konzertsaal des KKL Luzern nicht vorsehen, die Abstandsregeln (und somit etwa das einzelne Pult für den einzelnen Streicher) riefen nach Einschränkungen, und so mussten auch die Programme abgeändert werden. Statt Mahler gab es Mozart, die g-Moll-Sinfonie KV 550 im Eröffnungskonzert, statt Rachmaninow Beethovens Fünfte im zweiten Programm. Das tat den Werkfolgen nicht gut, weil sie im Aufbau alltäglich konventionell, ja sogar zufällig wirkten. Und sie führten in Bereiche des Repertoires, die nicht, wenigstens nicht durchgängig, zu den zentralen Arbeitsgebieten Chaillys gehören. So war denn alles andere als erstaunlich, dass im vierten der sechs Auftritte des Lucerne Festival Orchestra der Eindruck aufkam, die Formation erreiche nicht ihr übliches, singuläres Niveau – und dies trotz aller Brillanz der Solisten in ihren Rängen. Vielmehr erschien das Lucerne Festival Orchestra an diesem Abend als ein ganz gewöhnliches Orchester. Als eines wie so viele andere.

Schon Robert Schumanns Ouvertüre zu «Manfred», dem Schauspiel von Lord Byron, geriet eigenartig zäh. Das lag gewiss nicht an jenen Eingriffen in die Instrumentation Schumanns, zu denen sich Gustav Mahler genötigt fühlte – nein, es ging auf den kompakten, ja klobigen Ton zurück, den Chailly hier anstimmen liess. Mit zwölf ersten Geigen hielt sich die Besetzung in Grenzen, der Klang wirkte jedoch festgeschraubt, in sich geschlossen – nicht zuletzt wegen der amerikanischen Aufstellung des Orchesters mit den beiden Geigengruppen links vom Dirigenten nebeneinander. Dass die Streicher, zumal anfangs und am Schluss, das Vibrato nuanciert einsetzten, führte zu speziellen Färbungen – dennoch: Die Dringlichkeit dieser hochspannenden Ouvertüre trat nicht heraus, die Tempi blieben zu wenig belebt. Ein regelrechter Reinfall sodann die Sinfonie in D-Dur, Hob. I:101, von Joseph Haydn. Auch hier herrschte klanglich philharmonische Homogenität mit wuchtigen Bässen. Stupend das rasante Finale, das gewiss, doch in dem anrührenden Andante, dessen regelmässiger Puls der Sinfonie den Beinamen «Die Uhr» verlieh, geschah rein gar nichts – gab es viel zu wenig dynamische Differenzierung, zum Beispiel zwischen Forte und Fortissimo, und so gut wie kein musikalisches Sprechen. Das war Papa Haydn, wie es im Buche steht; was sich in den letzten zehn Jahren in Sachen Haydn-Interpretation ereignet hat – es ist kapital –, blieb völlig ausser Acht.

Etwas zu erwärmen vermochte einzig Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 5, c-Moll; für deren Wiedergabe gab es denn auch jenen in Luzern üblichen Stehapplaus, welche die vordem versteinerten Mienen der Orchestermitglieder und ihres Dirigenten aufhellten. Der geballte Klang des Abends blieb erhalten, was dazu führte, dass die Posaunen mehr Lautstärke als Farbe einbrachten und dass das Kontrafagott überhaupt nie zu hören war. Aber ungeheures Temperament brach hier aus, nicht zuletzt dank der Orientierung an den vom Komponisten vorgegebenen Zeitmassen. Und geschickt hielt Chailly, der an den entscheidenden Momenten das Geschehen ganz leicht vorantrieb, die Tempi in Schwung. Übrigens auch im Andante con moto des zweiten Satzes, der heitere Stimmung vor den Drohungen des Scherzos und dem Aufbäumen des Finales verbreitete. Besonders eindrucksvoll geriet der Übergang vom Scherzo ins Finale, das nicht stürmisch, sondern mit überraschend grosser Geste anhob – Chailly war schon immer gut für stupende Lösungen auf der Ebene der Tempodramaturgie.

Vom Dunkel ins Licht also – nicht nur hier, in Beethovens Fünfter, sondern an diesem Abend insgesamt. Vielleicht wäre es von Gewinn, wenn Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra die Zügel etwas lockerer nähme und den erstklassigen Musikerinnen und Musikern etwas mehr Luft zum Atmen und Phrasieren liesse. Und wenn er im Bereich des klassischen wie des frühromantischen Repertoires ein wenig mehr über den Tellerrand blickte und wahrnähme, was rund um ihn herum geschieht. Also aufbräche, wie es die Ahnherren Bernard Haitink und Herbert Blomstedt vorgemacht haben. Das Lucerne Festival Orchestra, das tatsächlich ein Orchester wie kein anderes sein kann, hätte es verdient.

Ganz in der Gegenwart – Herbert Blomstedt beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Es geht wieder. Es gibt wieder Konzerte. Nicht am Bildschirm, sondern in der Realität. Nicht Haus-, Hof- oder Altersheim-Konzerte, sondern vollgültige Auftritte professioneller Orchester. «Life is live» ruft das Lucerne Festival, das sein für diesen Sommer angekündigtes Programm am Mittwoch, den 29. April, um 15 Uhr 59 voll und ganz abgesagt hat, es abzusagen und der Pandemie zu opfern gezwungen war, das nun aber, da die einschneidenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens nach und nach gelockert werden, eine gut einwöchige Ersatz- und Kurzausgabe aus dem Hut gezaubert hat. Immerhin – nein: wunderbar.

Gewiss, anders als gewöhnlich dauerte das Konzert bloss eineinhalb Stunden, es enthielt auch keine Pause – das Virus verlangt seinen Tribut. Schon am Eingang wurden Masken abgegeben und wurde zur Desinfektion der Hände eingeladen, im Konzertsaal selbst waren nur die Hälfte der Sitze besetzt, nur knapp 1000 der gut 1800 Plätze hatten verkauft werden dürfen, dazu kam eine Menge fremdartiger Begrüssungsrituale. Alle hatten den ganzen Abend über ihren Mund- und Nasenschutz aufgesetzt – oder fast alle: die drei älteren Grazien in meiner Nachbarschaft mochten der vor Konzertbeginn unablässig aus dem Lautsprecher verkündeten Aufforderung nicht Folge leisten, sie trugen die Maske fröhlich unter der Nase oder am Kinn. Life is live.

Eigenartig auch der Anblick des Podiums. Dort sass das Lucerne Festival Orchestra in Kammerformation, aber auf einer Fläche, die sonst von Klangkörpern in Normalbesetzung beansprucht wird – zwischen den einzelnen Orchestermitgliedern gab es eben die als Folge der Pandemie vorgeschriebenen Abstände. Mit 35 Musikerinnen und Musikern wurde an diesem Abend die «Eroica» gespielt – in jener Besetzung, in der Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 3 in Es-dur an ihrer ersten Aufführung 1804 beim Fürsten Lobkowitz in Wien erklungen ist. Der Musiksaal in dessen Palais ist von repräsentativer Dimension, aber natürlich weitaus kleiner als der Konzertsaal im KKL Luzern. Umso überraschender, dass die Darbietung des auf drei Dutzend Mitglieder zusammengezogenen Lucerne Festival Orchestra in keinem Augenblick schmalbrüstig wirkte, auch in oberen Rängen fehlte es nicht an Lautstärke und auch nicht Kraft.

Kräftig heisst eben nicht laut. Als ein aus Solisten bestehender Klangkörper vermag das Lucerne Festival Orchestra auch in kleiner Besetzung den Eindruck musikalischer Wucht zu erzeugen – ja, dort gelingt es besonders gut. Nicht nur erhalten im aufgelichteten Klangbild die einzelnen Stimmen scharfes Profil, bildet das Gesamtgeschehen also eine ganz eigene Vitalität aus, die veränderte Balance lässt die Bläser auch hörbarer hervortreten, was nicht nur Deutlichkeit schafft, sondern auch eine grössere dynamische Bandbreite. Dazu kamen in dieser Luzerner «Eroica» Spielweisen, wie sie im 18. Jahrhundert verbreitet waren, zum Beispiel die deutliche Unterscheidung zwischen gebundenen und gestossenen Noten oder ein Atmen, das sich an den Gepflogenheiten des Sprechens orientiert. Nicht alle Streicher sahen sich in der Lage, das Vibrato zu reduzieren, aber vielen gelang es. Entstanden sind so Klänge von ganz unerhörter Farbgebung.

Aus dem Orchester herausgelockt hat das nicht ein Spezialist der historisch informierten Aufführungspraxis, sondern Herbert Blomstedt, mit seinen 93 Jahren der wohl älteste aktive Dirigent überhaupt – aufrecht stand er da, ohne einen Sitz zu benutzen bewältigte er das Konzert.  Reich an Erfahrung, auch an Lebenserfahrung, und fest verankert in der philharmonischen Orchestertradition, in jungen Jahren aber auch an der Schola Cantorum Basiliensis ausgebildet, gab er zu erkennen, dass seine Neugierde nicht erloschen ist, dass er vielmehr lebendig Anteil nimmt an den geistigen und musikalischen Bewegungen der Gegenwart – in gleicher Weise wie sein Altersgenosse Bernard Haitink, in der Sache aber doch noch eine Spur entschlossener. Davon zeugte schon die 2017 mit dem Gewandhausorchester Leipzig erarbeitete Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethoven, die mit ihrem klanglich leichten, agilen Duktus für sensationelles Aufsehen erregt hat. Die Luzerner Aufführung der «Eroica» unterstrich das – allerdings in besonderer Weise, denn an den Live-Eindruck kommt eine Aufnahme, sei sie technisch noch so perfekt, niemals heran.

Die kristallklare, zugleich aber auch opulente Akustik im KKL schuf den Raum für federnde Akzentsetzung. Elegant markierten die Akkordschläge den Beginn des Kopfsatzes; sie gaben zu verstehen, dass hier ein Komponist zu einem Statement ansetzte, dass er das aber mit den Mitteln autonomer Kunst tat. Die Leichtigkeit, die aber keineswegs beiläufig wirkte, fand sich wieder im Scherzo des dritten Satzes; besonders deutlich wurde hier, zu welcher Wirkung Akzente kommen können, wenn sie auf der Basis des leisen Tons aufbauen – und wie dann das Finale anschloss, war von ungeheurer Spannkraft. Zum Höhepunkt geriet aber der Trauermarsch, der nicht wie in der bis heute von Dirigenten wie Daniel Barenboim oder Christian Thielemann gepflegten spätromantischen Tradition in schwerem Schritt daherkam, der seine Abgründe vielmehr in einer Vielfalt an dunklen Farben öffnete – und das in einem Tempo, das nahe an den Forderungen des Komponisten stand. Überwältigend, wie das Lucerne Festival Orchestra, das hier sozusagen in seiner Stammbesetzung auftrat, das alles Wirklichkeit werden liess.

Zu Beginn, wie es die ursprünglichen Planungen vorgesehen hatten, das Klavierkonzert Nr. 1 in C-dur Ludwig van Beethovens – mit Martha Argerich als Solistin. Die Pianistin, wie Herbert Blomstedt in der Schweiz ansässig, geht auch schon auf die achtzig zu; wie agil sie das Podium betritt und wie perlend ihre Finger über die Tasten gleiten, ist ein Wunder. Im eröffnenden Allegro con brio drängte sie nicht wenig, versuchte sie ihr Recht gegenüber dem Dirigenten durchzusetzen – ohne das geht es bei Martha Argerich nicht. Bewusst und deutlich artikulierte sie, die Rhythmen schärfte sie pointiert und am Ende der Durchführung genoss sie hörbar die Begleitung durch die wunderschön geraden Töne der Bratschen. Der langsame Mittelsatz wirkte vielleicht etwas zelebriert. Dennoch gab es hier manches zu bewundern. Ein hauchzartes Pianissimo etwa, ein herrlich freier Umgang mit den Tempi und Ansätze asynchronen Spiels – beides ganz im Geiste Beethovens.

Ein exemplarisches Konzert. Das Lucerne Festival hat damit einen Markstein gesetzt in eine gesellschaftspolitische Landschaft, die, obwohl die Schweiz durch eine der klassischen Musik eng verbundene Bundespräsidentin repräsentiert wird, von bedenklicher Gleichgültigkeit gegenüber der Kunst beherrscht wird – der Gleichgültigkeit insbesondere gegenüber den aufführenden Künsten, die das Hier und jetzt des Moments und den Dialog mit dem Gegenüber des Publikums in einer besonderen Weise benötigen. Das war wohl die wichtigste Botschaft dieses Abends.