Das Festival «Zwischentöne» in Engelberg
Von Peter Hagmann
Nach Engelberg kommt man vielleicht doch nicht jeden Tag. Da könnte man jedoch etwas verpassen – nicht nur des prachtvollen Klosters und seiner berühmten Orgel wegen. Das Dorf am Fuss des Titlis verfügt auch über einen wunderschönen Kursaal, ein Kleinod im Stil der Belle Epoque, das von seiner Dimension und seiner Akustik her für Kammermusik wie geschaffen ist. Zum ersten Mal fand nun das kleine, aber ausgesprochen feine Festival «Zwischentöne» in diesem Saal statt – in den sechs Jahren zuvor waren die Konzerte im Kloster durchgeführt worden. Die Infrastruktur lässt nichts zu wünschen übrig. Reibungslos der Eintritt mit der Zertifikatskontrolle, bequem die Garderobe und was dazugehört, der Saal so eingerichtet, dass man sich auch unter den gegebenen Umständen wohlfühlt – alles ebenso wenig selbstverständlich wie die Professionalität in der Durchführung der Auftritte.
Die Bedingungen stimmen, die Sache selbst allerdings auch, und dies in hohem Mass. Das Festival «Zwischentöne» geht auf eine Idee des Merel-Quartetts zurück, dessen Cellist Rafael Rosenfeld und dessen Primgeigerin Mary Ellen Woodside sich in die künstlerische Leitung teilen. Rosenfeld, bekannt als Stimmführer beim Tonhalle-Orchester Zürich, erweist sich als der interpretatorische Inspirator, seine Gattin leistet die dramaturgische Arbeit, gestaltet also die Programme. Sehr vielfältige, sehr anregende Programme – und solche in ganz unterschiedlichen Besetzungen, wie sie im regulären Konzertbetrieb nicht möglich sind, in spezialisierten Festivals wie zum Beispiel den «Spannungen» im RWE-Kraftwerk im deutschen Heimbach gelebt werden. Eine Linie in die Vielfalt bringt das Thema, unter dem das Programm steht. «Affairs of the Heart» hiess es dieses Jahr, also «Liebe», mit britischem Understatement ausgedrückt.
Genau darum geht es in der «Schönen Müllerin», dem Liederzyklus, den Franz Schubert auf Gedichte von Wilhelm Müller schuf. Im Vergleich zur «Winterreise» mag «Die schöne Müllerin» als harmlos erscheinen, und genau so wurde der Zyklus bis weit ins späte 20. Jahrhundert dargeboten. Ian Bostridge, der «Special Guest» der diesjährigen «Zwischentöne», vertritt hier eine ganz andere Auffassung. Der berühmte englische Tenor tut das nicht nur aus seiner reichen Erfahrung heraus, sondern auch auf der Basis einer speziellen Kompetenz, die er sich als Autor eines hochinteressanten, bisweilen durchaus verstörenden Buches über «Die Winterreise» geschaffen hat. Er sieht die Geschichte des wandernden Müllerburschen, der bei einem Müller Arbeit findet, sich in dessen Tochter verliebt, nach einem Höhenflug an Hoffnungen aber derart getäuscht wird, dass ihm nur der Sprung kühle Nass des an der Mühle vorbeirauschenden Bachs bleibt.
Schon zu Beginn wird die Munterkeit des steten Weiterziehens gebrochen, werden die vom Text angesprochenen Räder und das Wandern durch leichte Verzögerungen ins Licht gehoben. Und drastisch stellt Bostridge die schnippische Haltung der Müllerstochter gegenüber dem Morgengruss des Burschen und die damit verbundenen, tristen Vorahnungen heraus. Tief bewegend die Spannung zwischen der Hochstimmung von «Am Feierabend» und der Enttäuschung im «Tränenregen». Je weiter der Zyklus voranschreitet, desto spürbarer wird die dramatische Spannung. Wie dann der Jäger auftritt, ein Kerl von Mann mit struppigem Bart und ein nicht bezwingbarer Konkurrent, kippt das Geschehen brutal, wird das liebe Grün zum bösen Grün und wandelt sich der Ruf an die Blümlein, den Mai zu spüren und herauszukommen, zu schluchzender Verzweiflung. Erschütternd, wie Ian Bostridge das mit seinen meisterlich ausgebauten vokalen Mitteln zur Geltung brachte. Dies im Verein mit der Pianistin Saskia Giorgini, die einfühlsam auf den Sänger einging, kontrapunktisch mitdachte und die linke Hand auf dem schönen Bösendorfer aus der Werkstatt Bachmann, Wetzikon, sinnvoll zur Geltung brachte.
Nicht weniger spannend geriet im Schlusskonzert – nach einem Zwiegespräch zwischen Robert und Clara Schumann – das Streichquintett in C-Dur, KV 515, von Wolfgang Amadeus Mozart. Scharf ausgeprägt der Dialog zwischen Rafael Rosenfeld, dem in der Mitte sitzenden und nach allen Seiten funkelnden Cellisten, und Mary Ellen Woodside an der Ersten Geige. Edouard Mätzener blieb an der Zweiten Geige alles andere als im Hintergrund, er stiess vielmehr seinerseits Energieschübe an, ohne dass dadurch das wohlgeordnete Klangbild des Ensembles aus den Fugen geriet, und spielte vital zusammen mit Eivind Ringstad, der als Gast zum Merel-Quartett gekommen war. Zu einer Sternstunde kam freilich der Bratscher Alessandro D’Amico, der zunächst so unauffällig mitwirkte, wie es Bratscher bisweilen tun, der dann aber im Andante des dritten Satzes mit seinen witzig, geradezu frech vorgetragenen solistischen Einwürfen der Primgeigerin die Stirn zu bieten suchte. Mozart liebte ja die Bratsche leidenschaftlich hat diesen subversiven Satz ohne Zweifel für sich selber in dieser Weise eingerichtet. War das ein Vergnügen; es erwies, was Kammermusik im besten Fall sein kann.