Diskret und explizit – der Dirigent Philippe Jordan

Ein Schweizer zwischen Paris und Wien

 

Von Peter Hagmann

 

Beim Namen fangen die Doppeldeutigkeiten an. Die einen sprechen ihn französisch aus, mit einem stimmhaften «Sch» am Anfang und einem nasalen «a» am Ende, die anderen tun es auf Deutsch. Tatsächlich lebt der Dirigent Philippe Jordan in beiden Kulturen, in der deutschen wie in der französischen (wobei die Schreibweise des Vornamens einen leichten Akzent auf die lateinische Seite legt). Das kommt von zu Hause. Geboren und aufgewachsen bei Zürich, ausgebildet an der Zürcher Musikhochschule, machte Philippe Jordan seine ersten Schritte in Deutschland und Österreich: an der Staatsoper Unter den Linden Berlin sowie an den Musiktheatern in Ulm und Graz. Das Französische begegnete ihm durch den Vater, den bekannten, sehr geschätzten Dirigenten Armin Jordan, der bilingue war und sich seinen Namen in erster Linie als sensibler Interpret französischer Musik gemacht hat. In Frankreich hat Philippe Jordan denn auch mit dem Dirigieren begonnen: als Assistent des kürzlich verstorbenen Jeffery Tate in Aix-en-Provence und dann am Châtelet in Paris.

Inzwischen ist der Dirigent aus der Schweiz in den beiden Kulturkreisen fest verankert. 2009, er war damals fünfunddreissig, wurde er Musikdirektor der Oper Paris, fünf Jahre später wählten ihn die Wiener Symphoniker zu ihrem Chefdirigenten. In Wien, wo er ausgeprägt zyklisch arbeitet und auch dem Neuen Raum gewährt, liegt der Schwerpunkt bei Musik aus dem deutsch-österreichischen und osteuropäischen Kulturraum, zum Beispiel bei den Symphonien Beethovens (die er allerdings gerade auch mit seinem Pariser Orchester erarbeitet und auf DVD aufgenommen hat). Anders präsentiert sich die Lage in Paris, wo er in der Oper das grosse Repertoire betreut, mit dem Orchester aber gerne das Französische pflegt. Aufsehen erregte in den Jahren 2010/11 die Produktion von Wagners «Ring», mit welcher der damalige Intendant Nicolas Joel und sein neuer Musikdirektor wagemutig ihre Amtszeit einläuteten. Und eben erst – die Intendanz hat inzwischen Stéphane Lissner übernommen – ist die sensationelle Produktion von Schönbergs «Moses und Aron» mit Jordan und dem Regisseur Romeo Castellucci auf DVD erschienen. Mit seiner gelassenen, hochgradig kontrollierten und gleichzeitig frei strömenden Darstellung kleidet er den abstrakten Stoff in jene Sinnlichkeit, an die der Komponist gedacht haben mag. Zugleich lässt der Dirigent erkennen, dass für ihn die Musik nicht 1914 aufhört, dass er vielmehr auch den Strömungen des 20. Jahrhunderts seine Handschrift zu leihen vermag.

Neben Paris also Wien – und das ist genau das Richtige für Philippe Jordan. Nicht nur, weil sich da Oper und Konzert ergänzen. Sondern vor allem der eigenständigen, sehr ausgeprägten Farbigkeit wegen, die das Orchestre de l’Opéra national de Paris einerseits und die Wiener Symphoniker andererseits pflegen. Das kommt dem Dirigenten insofern entgegen, als dem expliziten, ja lustvollen Herausstellen der Instrumentalfarben sein besonderes Interesse gilt; Jordan ist ein Farbenkünstler, das bestätigen die zahlreichen CD-Aufnahmen, die in der jüngeren Vergangenheit unter seiner Leitung entstanden sind. Gewiss, unter dem Druck von Globalisierung, Kommerzialisierung und Standardisierung haben sich die farblichen Eigenheiten der Orchester in beträchtlichem Mass eingeebnet, aber so weit, wie es der weitgereiste Dirigent Neeme Järvi sieht, der überall dasselbe hört – so weit sind wir noch nicht. Noch immer sind die näselnde Wiener Oboe und die französische Trompete mit ihrem schimmernden Vibrato auf Anhieb zu erkennen. Damit arbeitet Philippe Jordan, zum Beispiel in der Einspielung von Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 mit den Wiener Symphonikern auf dem orchestereigenen Label. Emotion entsteht in dieser orchestral äusserst hochstehenden Aufnahme nicht durch schweres, gleichsam von aussen auf die musikalischen Verläufe aufgesetztes Pathos, sondern durch die taghelle Beleuchtung der musikalischen Strukturen, die sich in einem hochtransparenten Klangbild niederschlägt.

Das Strukturdenken, es steht an erster Stelle, und ihm gehorchen auch die Farbenspiele. Jordans Aufmerksamkeit gilt, das mag ihm als schweizerische Eigenschaft vorgehalten werden, der Lektüre des Notentextes, der Erkundung des interpretationsgeschichtlichen Horizonts und der Suche nach den Potentialen, die er in den jeweiligen Orchestern wecken und nutzen kann. Zu diesen Beschäftigungen gehört die Arbeit mit Tondokumenten – nicht um die Partituren zu lernen, sondern um das wache, das bewusste und das erkennende Hören zu trainieren. Dazu zählt aber auch die Auseinandersetzung mit der historischen Aufführungspraxis, deren Erkenntnisse Jordan, wenn auch nicht Spezialist auf diesem Gebiet, in sein Tun zu integrieren weiss. Darum versteht es sich, dass bei ihm in der «Unvollendeten» Schuberts oder dessen «Grosser» C-dur-Symphonie die Musik trotz spätromantischem Klanggewand zu sprechen beginnt. Zum Beispiel darum, weil Ton- oder Akkordrepetitionen je nach ihrer Stellung im Takt unterschiedlich artikuliert werden – was in der in der alten Musik Allgemeingut geworden, im hergebrachten Betrieb aber noch längst nicht jedem Musiker zu Ohren gekommen ist. Bemerkenswert auch, wie Jordan, darin neueren Auffassungen folgend, die Tempi in kleinen Modifikationen an einzelnen Gesten oder Motiven ausrichtet. So kommt er im Kopfsatz der C-dur-Symphonie vom sehr gemessenen Andante der Einleitung ohne Zwang ins Allegro ma non troppo des Hauptteils.

Für recht eigentliche Überraschungen sorgen indessen die drei jüngsten CD-Publikationen des Pariser Opernorchesters. Sie lassen entdecken, wie das Orchester an seinem Dirigenten gewachsen ist – und umgekehrt. Von 2013 stammt eine CD mit Orchesterstellen aus Wagners «Ring»; sie stellt die Eigenheiten von Philippe Jordans packendem Wagner-Klang wie unter einen Brennspiegel. Das Vorspiel zu «Rheingold» kommt nicht aus dem Ungefähren, sondern baut sich rhythmisch klar strukturiert auf; die Punktierten sind genau genommen und als solche hörbar. Im Vordergrund steht der Trennklang, das Nebeneinander der Farben statt deren Vermischung – was durchaus als französische Färbung deutscher Musik verstanden werden kann. Die Attacke, da hat sich Jordan deutlich von seinem Vater emanzipiert, wird gerne kräftig, das klingt dann grossartig. Wenn jedoch die Götter auftreten, herrschen langsame Tempi und weiche Artikulation.

Unverkennbar ist da auch das Denken in Kategorien des Bühnengeschehens – wie es auch bei der schlicht grandiosen Gesamtaufnahme von «Daphnis et Chloé» der Fall ist. Elf Mal wurde das abendfüllende Ballett Ravels im Frühjahr 2014 an der Pariser Oper gezeigt, stets unter der Leitung des Musikdirektors; in diesem Zusammenhang kam es zur Einspielung – das sind Voraussetzungen, die man lange suchen muss. Jordan lässt sich Zeit, nicht nur in der Vorbereitung, auch in der Musik selbst. Langsam und sorgsam werden die Verläufe aufgebaut, es herrscht ein Klima der Einlässlichkeit und der Genauigkeit, das sich in der Direktheit der Aufnahmetechnik blendend entfaltet. Das Laisser-faire vieler Aufnahmen in jener französischen Tradition, die Pierre Boulez, Mahler folgend, als reine Schlamperei bezeichnet hat, es ist hier wie weggeblasen. Dafür kommt es zu instrumentaler Koloristik eigener Art. Die Geschichte, die zwischen irisierenden Morgenstimmungen und der brutalen Einwirkung böser Kräfte changiert, findet jedenfalls klare Fasslichkeit – so wie es auf der jüngsten, 2016 entstandenen CD aus Paris bei Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» in der Orchestrierung Ravels geschieht. Vieles, was sonst im grossen Effekt untergeht, ist hier zu klar hören, ja bisweilen neu zu entdecken – dank der nochmals gesteigerten Akkuratesse in der Artikulation und der klanglichen Qualität im Einzelnen wie im Gesamten. Mit Philippe Jordan ist das Orchestre de l’Opéra national de Paris ohne Frage zum besten Klangkörper Frankreichs geworden.

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Aufnahmen mit dem Orchestre de l’Opéra national de Paris und dem Dirigenten Philippe Jordan:

  • Richard Strauss: Eine Alpensinfonie. Naïve 5233
  • Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune. Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Maurice Ravel: Boléro. Naïve 5332
  • Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (Auszüge, mit Nina Stemme). Erato 93414227
  • Maurice Ravel: Daphnis et Chloé. Erato 166848
  • Modest Mussorgsky / Maurice Ravel: Bilder einer Ausstellung. Sergej Prokofjew: Symphonie classique. Erato 295877910
  • Arnold Schönberg: Moses und Aron. BelAir 136

Aufnahmen mit den Wiener Symphonikern und Philippe Jordan:

  • Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 6. WS 006
  • Franz Schubert: Symphonie Nr. 7 in h-moll, D 759 («Unvollendete») und Symphonie Nr. 8 in C-dur, D 944 («Grosse»). WS 009

Höllenritt mit Britten

«The Turn of the Screw» in den Berner Vidmarhallen

 

Von Peter Hagmann

 

Kunst im Industriebau hat eine eigene, lange Tradition. Einer der Schrittmacher war das Ruhrgebiet, wo Kohle und Stahl Bauten von enormen Dimensionen zurückgelassen haben; wer je einmal Klänge Wagners in der Bochumer Jahrhunderthalle gehört hat, wird es nicht vergessen. Strukturwandel dieser Art gibt es aber auch in der Schweiz, eine ganze Reihe leerstehender, für kulturelle Zwecke umgenutzter Fabrikationsgebäude zeugt davon. Im Zürcher Maag-Areal, im Westen der Stadt, wird derzeit für das dreijährige Exil des Tonhalle-Orchesters ein Konzertsaal eingebaut – wie es vor zwanzig Jahren, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht vollendet war, bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern der Fall war. Der Besuch in der von-Moos-Halle mit ihrem eigenen Bahnanschluss war ein Erlebnis eigener Art.

Auch in Bern gibt es umgenutzte Industriebrachen, zum Beispiel die Vidmarhallen. Sie liegen, wie in solchen Fällen üblich, etwas peripher; wer sie schliesslich gefunden hat, muss sich zudem erst zurechtfinden in dem lebendigen, bunt gemischten Labyrinth aus Restaurants, trendigen Dienstleistungsbetrieben und der Ecke, an der das Konzert-Theater Bern seine Zelte aufgeschlagen hat. Einmal angekommen, sieht man sich an einem stimmungsvollen Ort mit Bar, minimalistischer Möblierung vor Sichtbetonwänden, farbigen Lichteffekten und einem Grossbildschirm, auf dem sich Ensemblemitglieder vorstellen. Verlässt man das Foyer mit seiner aufgeräumten Stimmung, gelangt man in die Blackbox des Aufführungsraums mit seiner erstaunlich bequemen Bestuhlung. Dort freilich steht Schlimmes an: «The Turn of the Screw» von Benjamin Britten nach einer Erzählung von Henry James.

Ein erschreckendes Stück. Man muss es von ganz nah erleben, um seine Schrecklichkeit zu erfahren – und dafür bieten die Vidmarhallen den optimalen Spielort. Verhandelt wird in Brittens Kammeroper von 1954 das Schicksal eines Geschwisterpaars, das unter ungute Einflüsse gerät. Miles und Flora, Bruder und Schwester, leben als Waisen auf einem Landgut in England: unter der Vormundschaft eines vielbeschäftigten und darum abwesenden Onkels, betreut von einer Gouvernante und einer Haushälterin. Zugleich aber auch beobachtet, indoktriniert, ja gesteuert durch die Erscheinungen des verstorbenen Dieners Peter Quint und von Miss Jessel, einer unter unklaren Umständen ums Leben gekommenen Gouvernante. Welcher Art diese Indoktrinationen sind, wird nicht thematisiert, die biographischen Umstände lassen jedoch annehmen, dass es sich mit der Homosexualität um Brittens eigenes Thema handelt. Die Schule wird in dem von Myfanwy Piper stammenden Libretto ausdrücklich genannt, die Kirche in der Inszenierung Maximilian von Mayenburgs hinzugefügt.

Opfer und Täter: Elias Siodlaczek und Andries Cloete in den Berner Vidmarhallen / Bild Annette Boutellier, Konzert-Theater Bern

In einer Inszenierung übrigens, die äusserst gekonnt schärft und zuspitzt – und weil einem die Darstellerinnen und Darsteller auf die Pelle rücken, ist das von doppelter Wirkung. Die von Frank Lichtenberg gestaltete Bühne bleibt frei, weil das aus dem Berner Symphonieorchester gebildete Instrumentalensemble unter der Leitung des Ersten Kapellmeisters Jochem Hochstenbach in die Höhe gerückt ist, aber auch von seinem Balkon aus prägnant einwirkt. So bleibt Raum für eine ganze Reihe von Spielorten, denen eines gemeinsam ist: das Werk ineinandergreifender Zahnräder, das sich so unerbittlich bewegt, wie sich die Story Schraubendrehung um Schraubendrehung verschlimmert. Besonders eindrucksvoll hier Elias Siodlaczek von den Aurelius Sängerknaben aus dem süddeutschen Calw; als Miles nimmt der Knabe eine eigentliche Hauptrolle ein und bewältigt das in jeder Hinsicht vorbildlich. Sein unsichtbarer, aber um so effizienterer Mentor ist Andries Cloete in der Partie des üblen Quint. Agil wie ein Tänzer und mit einer ebenso präzisen wie biegsamen Tongebung gibt er den Verführer, der genau weiss, welche Saiten er anklingen lassen muss, um das Opfer auf seine Seite zu ziehen: Theatereindrücke von hoher Intensität.

Dasselbe gilt für Mrs. Grose, ein ältliches, hochgradig affektiertes Fräulein, das von Claude Eichenberger mit jeder Faser verkörpert wird. Vielleicht singt sie bisweilen etwas laut – das kann sie durchaus –, und vielleicht bemerkt es der Dirigent hoch oben nicht, sängerisch ist das aber gleichwohl eine Glanzleistung. Nicht weniger packend Oriane Pons als die neue Gouvernante, die hier in etwas hineinschlittert, was sie sich nicht im Traum ausgemalt hätte, und die zugleich immer energischer und immer fataler ins Geschehen eingreift. Etwas an den Rand gestellt, und zwar vom Komponisten selbst, bleiben die Schwester Flora und Miss Jessel als ihr schlechter Geist, doch heben Yun-Jeong Lee und Evgenia Grekova diese beiden Figuren gebührend ans Licht. Wie stark Oper jenseits der Guckkastenbühne wirken kann, hat in Bern schon der Kubus auf dem Waisenhausplatz gezeigt; in den Vidmarhallen setzt es sich fort.

Das Sutterle und sein «Carmen»-Tod

«Annas Maske» von David Philip Heftis Oper als Uraufführung in St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Eines Tages lag sie tot auf ihrem Bett, erschossen von einem einstigen Liebhaber, der in seinem Blut neben ihr auf dem Boden lag. Sie, das war Anna Sutter, die 1871 in Wil im Kanton St. Gallen geborene Sängerin, die mit zweiundzwanzig an die Hofoper Stuttgart kam, dort bis zu ihrem Tod 1910 blieb und in dieser Zeit zu einem Publikumsmagneten erster Güte wurde. In schauerlicher Verlängerung des Bühnengeschehens nach der Wirklichkeit hin erlitt sie das Schicksal Carmens, einer Figur, welche die Mezzosopranistin besonders liebte und oft verkörperte. Zugleich bündeln sich in diesem Fall jene Männerphantasien, die sich, romantischem Geist entstammend, um die Theaterkünstlerinnen rankten – um Frauen, die sich nicht dem Gesetz der Ehe unterwarfen noch ihr Leben als Fräulein verbrachten, sondern ihren selbstbestimmten Weg verfolgten. Was damals als ungeheure und deshalb auch erotisch aufgeladene Anmassung erschien, mutet von heute aus, da diese Autonomie im Prinzip jeder Frau offensteht, ein klein wenig verzopft an. Auch etwas bieder vielleicht, denn genau so, wie es Anna Sutter in ihren rasch wechselnden Beziehungen vorgemacht haben soll, mag sich der Opernliebhaber das Leben hinter dem Vorhang ausmalen: zügellos und verrucht.

So lässt es wenigstens die Novelle empfinden, in welcher der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer 2001 den Fall Anna Sutter verarbeitet hat. Ihr Leben verlor die Sängerin durch die Hand des mässig erfolgreichen Dirigenten Aloys Obrist, der seiner Gattin überdrüssig war und nach nichts anderem dürstete als dem Besitz – ja, dem Besitz – der angebeteten Anna. Während einiger Zeit waren die beiden tatsächlich und in riskanter Verletzung ihrer Arbeitsverträge ein Paar gewesen; die Sängerin hatte sich freilich längst aus der Liaison verabschiedet, was der Dirigent in keiner Weise verstehen noch hinnehmen konnte. Keinen Akt der Selbsterniedrigung liess er aus, er machte sich zur allgemeinen Lachnummer – seine ehemalige Geliebte hatte dafür nur Hohn und Spott und zuletzt ein scharfes Nein übrig. So blieb ihm denn nichts als die Pistole: zwei Schüsse für sie, deren fünf für sich selber. Sehr melodramatisch klingt das, und tatsächlich ist «Annas Maske», so der Titel von Sulzers Novelle, zur Oper geworden. Am Wochenende ist das gleichnamige Stück des Schweizers David Philip Hefti als Auftragswerk des Theaters St. Gallen ebendaselbst zu erfolgreicher Uraufführung gekommen.

Hochästhetisch und dramatisch: «Annas Maske» in St. Gallen / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

Erfolgreich, weil aus der Novelle umstandslos ein packendes Libretto geworden ist. Alain Claude Sulzer ist es gelungen, die im Prosatext angelegte Struktur einer vielfach verschachtelten Rückblende und die einem Kriminalroman gleichende Spannung aufrecht zu erhalten. Er hat sie sogar noch geschärft, indem die Oper anders als die Vorlage nicht mit dem Abnehmen der Totenmaske, sondern mit der in der Novelle erst später offenkundig werdenden Liebe zwischen Pauline, der Haushalthilfe der Sängerin, und dem ermittelnden Polizisten Heid anhebt. Dass die Rückblende auf der Bühne so gut funktioniert, ist nicht zuletzt der szenischen Einrichtung durch die Regisseurin und Ausstatterin Mirella Weingarten zu verdanken, der hier eine famose Arbeit gelungen ist. Die Bühne ist schmal gehalten, in die Höhe gezogen und in drei Ebenen geteilt. Zuoberst aufgereiht der von Michael Vogel einstudierte Chor, der eher episodisch eingesetzt ist. In der Mitte die tote Anna, das alter ego, das zum Schluss in die Freiheit enteilt – die St. Galler Ballettdirektorin Beate Vollack bringt ihre Körpersprache da zu voller Geltung. Ganz unten schliesslich die Ebene, auf der sich in der Chronologie der Ereignisse die Rückblende abspielt.

Hochästhetisch wirkt diese Disposition in ihrer minimalistischen Formensprache und passend zu einem Stück, das einen bereits eingetroffenen und demnach bekannten Vorfall gleichsam analysierend herbeiführt. Sinnlich und sinnreich zudem die zu beiden Seiten angebrachten Türen, durch die scharf zeichnendes Licht einfällt, aus denen sich manchmal aber auch bloss Hände recken. Eine mächtige Flügeltür wird ausserdem als Video auf die hellgraue Rückwand projiziert – die Tür spielt ja eine zentrale Rolle im Plot. Hätte Pauline (Sheida Damghani), das gesteht die Zofe gleich zu Beginn und dann immer wieder, die Wohnungstür nicht geöffnet, das Verbrechen wäre nicht geschehen. Das Verbrechen, es bahnt sich in ungeschmälerter dramatischer Spannung an, denn auf der Bühne wird der szenische Effekt voll ausgekostet. Sprechend schon allein die von der Regisseurin entworfenen Kostüme. Anna Sutter trägt einen wallenden Umhang, wie er zur Diva gehört, darunter aber einen roten Unterrock – alles klar? Und Maria Riccarda Wesseling schafft mit ihrem kernigen Timbre und ihrer fabelhaften Bühnenpräsenz das Energiezentrum des Stücks.

Nicht weniger prägnant David Maze in der Partie des Hofopernintendanten Putlitz, der sich in seinen Geschäften mit der Diva nicht stören lassen will und darum den aufsässigen Dirigenten Obrist mit Donnerstimme des Hauses verweist. Diesen wiederum zeichnet Daniel Brenna mit seinem geschmeidigen Tenor als Karikatur seiner selbst. Auch Aloys Obrist hat sein alter ego, wenn auch in ganz anderer Art: in jener des Sängers Albin Swoboda, ebenfalls eines Tenors, und seines Zeichens Nachfolger in Annas Armen. Er ist bei Nik Kevin Koch ausgezeichnet aufgehoben. Das Ensemble und das Sinfonieorchester St. Gallen meistern die Partitur von David Philip Hefti, soweit das in einer ersten Begegnung wahrzunehmen ist, ganz hervorragend; der Dirigent Otto Tausk agiert mit Sinn für das Wesentliche und den grossen Bogen – das ist nicht wenig.

Hefti, Jahrgang 1975, ist in seinem ersten abendfüllenden Werk in hohem Mass sich selber treu geblieben. Wie in vielen seiner Werke gibt es auch in «Annas Maske» liegende Töne oder Klänge, um die herum erregte Bewegung herrscht. Ungewohnter sind die leeren Quinten, die sich glissandierend ineinander schieben und die den Schluss, nach den gewaltigen Tutti-Schlägen der tödlichen Schüsse, in eine ganz eigene Atmosphäre tauchen. Hefti beherrscht sein Handwerk virtuos, er kennt das Arsenal dessen, was die Avantgarde hervorgebracht hat, und bedient sich seiner äusserst phantasievoll. Dessen ungeachtet (oder gerade darum) kommt es immer wieder zu Momenten des Déjà-entendu. Der Passus duriusculus, die Folge absteigender Halbtöne, im Zusammenhang mit dem Tod gehört ebenso zu den Allgemeinplätzen, wie der Einsatz des Löwengebrülls zum Ausruf «Verfluchte Carmen!» eine tautologische Banalität darstellt. Und die gezackten vokalen Linien, sie tragen ebenso Staub des Gestrigen, wie es die auf die Spitze getriebene rhythmische Komplexität tut. Heftis Handschrift ist klar erkennbar; wenn sie noch genuiner eigenes Mass nähme, könnte sie nur gewinnen.

Musiktheater in Luzern als Spiel mit dem Raum

Verdis «Traviata» und ein literarisch-musikalisches Projekt bei Benedikt von Peter

 

Von Peter Hagmann

 

Die Salle Modulable ist tot, es lebe die Salle Modulable. Im Kopf von Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festival, knistert die Idee weiter, obwohl der Versuch ihrer Verwirklichung vom Luzerner Kantonsparlament mit einem schnöden Federstrich zunichte gemacht worden ist. Wenn nicht in Luzern, dann vielleicht anderswo, sagt sich der Initiant – an dieser Maxime festzuhalten ist nicht verboten. Darüber hinaus aber hat die Idee einer Salle Modulable inzwischen durchaus zu einer Art Verwirklichung gefunden – in Luzern und just in dem Haus, das der Salle Modulable hätte weichen sollen. Als Benedikt von Peter im Spätsommer 2016 seine Intendanz beim Luzerner Theater antrat, tat er das mit einer spektakulären Produktion von Luigi Nonos Hörtragödie «Prometeo». Sie machte die Bühne und das Parkett, mit einem durchgehenden Boden versehen, zu einem den ganzen Raum umfassenden Spielort (https://www.peterhagmann.com/?p=742). So also kann man mit einer Guckkastenbühne auch umgehen, mochte man damals staunend gedacht haben. Das war allerdings nur der Anfang.

Verdis Monodram

Mit seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper «La traviata» ging von Peter noch einen Schritt weiter. Die 2011 in Hannover entstandene, zwei Jahre später in Bremen wiederaufgenommene und jetzt nach Luzern gebrachte Produktion hebt nicht nur die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum auf, sie lenkt auch die Aufmerksamkeit des Publikums und fokussiert sie mit einer radikalen Ausschliesslichkeit auf die Hauptfigur. Der Orchestergraben ist geschlossen, die Bühne bis hart an die Zuschauerreihen gezogen. Das Feld beherrscht die an Tuberkulose erkrankte Edel-Prostituierte Violetta – den ganzen, pausenlosen Abend lang allein, denn das übrige Personal der Oper ist in die Dunkelheit des Raums verbannt, es singt unsichtbar aus dem Off, genauer: vom zweiten Rang herunter. Umgekehrt ist das Orchester, das üblicherweise in den Graben versenkt und darum nur hörbar ist, in ganzer Besetzung sichtbar; es ist im hinteren Teil der Bühne aufgestellt, klingt weitaus direkter als sonst und partizipiert in deutlich erhöhtem Mass am Ereignis, zu dem dieser Abend wird.

Um das gleich noch zu Ende zu führen: Auch diesbezüglich, auch was die Anordnung der musikalisch-dramatischen Parameter betrifft, ist einiges fruchtbar auf den Kopf gestellt. «La traviata» gilt als Sängerinnen-, als Sängeroper par excellence. Im Normalfall der Rezeption verfolgt man das Stück mit geschärfter Aufmerksamkeit für die vokale Kunst; was instrumental dazugefügt ist, nimmt man hier eher beiläufig wahr. Das rückt dieser Abend ganz entschieden zurecht. Das Luzerner Sinfonieorchester spielt so grossartig, wie es seinem gewachsenen Ruf entspricht. Und Clemens Heil, der Luzerner Musikdirektor, der schon bei der Wiederaufnahme dieser «Traviata» in Bremen am Pult stand, hat das Geschehen nicht weniger souverän in der Hand als anfangs Saison bei «Prometeo». Wie die Holzbläser konzertierend eingreifen, was die Posaunen an (dynamisch durchaus kontrollierter) Schärfe beifügen, wie fahl (und damit in einem genuinen Sinn dramatisch) ein Col legno klingen kann, was der verminderte Todesakkord auslöst, wenn er ohne Vibrato gespielt und kristallklar intoniert wird – Wahrnehmungen solcher Art lassen ein Stück, das bekannt ist wie wenige, überraschend neu erscheinen.

Nicole Chevalier als Violetta Valéry in Luzern / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Noch stärker, weil unglaublich drastisch die Überraschungen, mit denen Nicole Chevalier aufwartet. Sie ist nun also die einzige Darstellerin auf der Bühne, und sie gibt dort eine richtiggehende Performance. Das Stück ist ihr wohlvertraut, sie lebt es nicht, sie spielt es – will sagen: Sie steht immer einen Schritt neben der Partie, was sich etwa darin äussert, dass sie Textpassagen ihrer Gegenüber vom zweiten Rang mitflüstert. Oder ist es etwa umgekehrt? Ist sie vielmehr so restlos identifiziert, dass sie die Antworten, die sie von oben erhält, im Zuhören und Aufnehmen mitspricht? Beides mag sein. Wichtiger ist, dass die alles andere als idyllische, vielmehr hochgradig problematische Liebe, von der «La traviata» erzählt, in der Aufführung zusätzlich problematisiert wird – was aber keine Tautologie darstellt, sondern interpretierend einen Aspekt in der Aussage des Stücks hervorhebt. Tatsächlich stellt die handfest interpretierende Arbeit Benedikt von Peters, des Künstlerintendanten, in der Ausstattung von Katrin Wittig (Bühne) und Geraldine Arnold (Kostüme) ein Stück Regietheater dar: Regietheater vom Feinsten.

Der Regisseur sieht die stürmische Beziehung zwischen Violetta und Alfredo nicht als jenen dualen Vorgang, als den wir Liebe gemeinhin definieren, sondern vielmehr als eine Imagination, wenn nicht gar eine Projektion, die von der Darstellerin immer und immer wieder durchlebt wird. Das ist nun gründlich anders als jede hergebrachte «Traviata» – an die in Luzern bestenfalls noch ein Tablett mit Champagnergläsern erinnert. Anders geartet ist dieser Abend auch in der darstellerischen wie, vor allem, der musikalischen Intensität. «This is for you», ruft Nicole Chevalier zu Beginn und am Ende ins Publikum, und damit wir es auch wirklich mitbekommen, ist sie sich nicht zu schade, über die Armlehnen und die Köpfe hinweg ins Publikum zu balancieren und vor Ort singen. Hautnah kann der Kontakt da werden, der Zuschauer erfährt, wie sehr jede Faser des Körper am Entstehen des Gesangs teilhat. Tatsächlich ist Nicole Chevalier nicht nur eine unerhört packende Darstellerin, sondern auch eine hinreissende Sängerin. Kein einziger punktierter Verlauf gerät verwaschen, ihr Rhythmusgefühl ist hochgradig ausgeprägt – und es wird unterstützt vom Orchester, das fabelhaft präzis artikuliert, ohne je in teutonisches Skandieren zu verfallen. Die Vokale von herrlicher Farbenkraft, die Konsonanten mit hörbarer Lust ausgelebt. Und die Botschaft: so intensiv, dass einem der Atem stockt. Kein Wunder, springt das Publikum am Schluss wie ein Mann (oder eine Frau) von den Sitzen.

Obwohl sie aus dem Nirgendwo klingen, lassen die Partner Violettas wenig zu wünschen übrig – sollte das Stadttheaterniveau sein, kann man zur Neudefinition des Begriffs nur gratulieren. Kein Geringerer als Claudio Otelli gibt den Giorgio Germont, den strengen Vater Alfredos, der mit aller Unerbittlichkeit die geltende Norm wie die Ehre der Familie vertritt: mit einem Timbre, dessen glänzendes Metall durch jedes Mark und jedes Bein dringt, und einem Volumen, das der Scala würdig, hier aber klug gezügelt ist. Als Alfredo hält Diego Silva dieses Niveau nicht ganz; seine Technik ist formidabel, seine Stimme verfügt aber nicht über jene Vielfalt der Obertöne, die diese grandiose Partie erst zum Ereignis machen kann. Im übrigen herrscht auch im Ensemble bis hin zu dem von Mark Daver vorbereiteten Chor des Luzerner Theaters vorbildliches Niveau.

Max Frisch begegnet Gustav Mahler

Theater, zumal im Dreispartenhaus, heisst heute in Luzern etwas anderes als: Oper, Schauspiel und Ballett. Es heisst: Öffnung, Durchdringung. Öffnung des Raums oder Durchdringung der Sparten. Beides verwirklicht sich in dem Projekt «Der Mensch erscheint im Holozän», das der Dirigent Yoel Gamzou, der Regisseur Peter Rothenhäusler und die Dramaturgin Julia Reichert konzipiert haben. Auch hier sitzt das Luzerner Sinfonieorchester auf der Bühne, wenn auch in etwas anderer Aufstellung als gewohnt. In seiner Mitte muss nämlich ein Gang freibleiben für den Schauspieler Adrian Furrer, der Herrn Geiser sprechen lässt, so lange Herr Geiser sprechen kann – ja, Herrn Geiser aus Max Frischs Erzählung «Der Mensch erscheint im Holozän». In einer Nüchternheit sondergleichen schildert Frisch in diesem späten Text einen Witwer, der sich, in die Jahre gekommen, in seinem Tessiner Domizil gegen den Zerfall der mentalen Fähigkeiten stemmt und ganz beiläufig, als Leser realisiert man den Moment erst im nachhinein, einen Schlaganfall mit Sprachverlust erleidet.

Adrian Furrer und das Luzerner Sinfonieorchester in «Der Mensch erscheint im Holozän» / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Wie die Sprache schwindet, setzt die Musik ein – mit Gustav Mahlers nur als Particell überlieferter Sinfonie Nr. 10. Natürlich nicht in einer der bekannten Spielfassungen für sehr grosse Besetzung. Yoel Gamzou hat, angesichts des Quellenbestands ist das legitim, eine eigene Fassung erstellt, die den Möglichkeiten des Orchesters auf der Bühne wie den Erfordernissen des kurzen, aber heftig einfahrenden Abends entspricht. Nach und nach versammelt sich das Orchester im Halbdunkel. Das entspricht dem Verlauf, der mit der zögernden, bebenden Einstimmigkeit des Beginns anhebt, dabei aber erst nach und nach zu festerer Kontur findet. Ist das Orchester versammelt, bricht sich die Verzweiflung Bahn: dröhnen aus dem zweiten Rang jene wahnsinnigen Schläge herab, die sich im Finale finden – Schläge, die das Schicksal dem Komponisten bereitgehalten hat. Und erklingt jener scharf dissonante Akkord aus neun Tönen, der sich ohne Zweifel an einer ähnlichen Tonballung im Adagio der unvollendeten neunten Sinfonie von Mahlers Lehrer Anton Bruckner orientiert. Eindrucksvoll ist das, auch wenn man sich, etwa von der opulenten Spielfassung von Deryk Cookes herkommend, an das aufgerauhte Klangbild im Luzerner Stadttheater erst gewöhnen muss.

Die Musik in ihrer hier besonders zugespitzten Emotionalität tritt an die Stelle der verschwundenen Sprache – so weit, so einleuchtend. Dies zumal das Fürchterliche, das «Der Mensch erscheint im Holozän» nach und nach erkennen lässt, von Frisch in eine Sprache von äusserster Lakonik gefasst ist. Einer Lakonik allerdings, die sich auf der Bühne wohl kaum vortragen lässt. Läse jemand die Erzählung Frischs mit lauter Stimme, er müsste es fast tonlos tun, weil nur dann Stil und Konstruktion des Sprachlichen zur Geltung kämen. Adrian Furrer, dessen sagenhafte Gedächtnisleistung nur bewundert werden kann, tut das gerade nicht. Er lädt die vorgetragenen Sätze aus der natürlich stark gekürzten Erzählung vielmehr mit Emphase auf und bannt so das Publikum, verstösst aber gegen die Idee des Textes, ja des Abends selbst. Die Heftigkeit, mit der Herr Geiser gegen den wachen Sinnes bemerkten, ebenso virtuos wie vergeblich bekämpften Abbau im Gehirn rudert, kommt zur Geltung; die hohe Artifizialität, in der Frisch mit dem Sujet umgeht, bleibt hingegen auf der Strecke. Gescheitert, muss man dem Projekt attestieren – um sogleich beizufügen: auf hohem Niveau.

Im Theater mit Calixto Bieito

«Tannhäuser» in Bern, «Oresteia» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Figaro qua, Figaro là. Vergangenen Freitag hatte Calixto Bieito Premiere in Basel, dies mit der «Oresteia» des Aischylos in eigener Fassung und mit Musik von Iannis Xenakis. Einen Tag später betrat der 53-jährige Regisseur die Bühne des Berner Stadttheaters, um die spärlichen Buhrufe und den deutlichen Beifall für seine Sicht auf Richard Wagners «Tannhäuser» entgegenzunehmen – eine Produktion, die 2015 für die Flämische Oper Antwerpen und Gent entstanden ist und jetzt ans Konzert-Theater Bern übergeben werden konnte. Am Sonntag dann durfte Bieito ein wenig ausruhen. Doch gleich ging es weiter, denn mit Beginn dieser Woche nahm er am Opernhaus Zürich die Probenarbeit für den «Feurigen Engel» von Sergej Prokofjew auf. Zum Dasein als Star gehören Leistungsvermögen und Einsatzbereitschaft.

Aber auch die Fähigkeit zur Nutzung des Moments, zu absoluter Konzentration und Fokussierung auf das Notwendige. Der Berner «Tannhäuser» ist mit zum Teil neuer Besetzung unter der Leitung von Bieitos Assistentin Jasmina Hadziahmetovic einstudiert worden; der Meister selbst, so war zu erfahren, sei während der Basler Arbeit immer wieder nach Bern gekommen, habe an Details gearbeitet – und das eben mit einer Effizienz sondergleichen getan. Tatsächlich war diesem «Tannhäuser» an der Premiere in keinerlei Hinsicht anzumerken, dass er ein bisschen nebenbei entstanden ist. Im Gegenteil, die Produktion ist aufs Sorgfältigste ausgearbeitet und zeigt das Stück in einer klaren, anregenden Lesart.

«Tannhäuser»: sachliches Erzählen

Ohne Theaterblut geht es zwar auch hier nicht, doch die Ingredienzien, um derentwillen sich bei Inszenierungen Calixto Bieitos Proteststürme zu erheben pflegten, fehlen weitgehend. Ein sachbezogener, um nicht zu sagen: sachlicher Zugang herrscht – übrigens auch auf musikalischer Ebene. Kevin John Edusei, der Musikdirektor der Berner Oper, steuert das Geschehen mit ruhiger Zeichengebung und hält dadurch die mächtigen Instrumentalkräfte in Schach – ohne jedoch das auch hier wieder vorzüglich agierende Berner Symphonieorchester in der Entfaltung seiner farblichen Reize einzuschränken. Samten das Blech, leuchtend das Holz, leicht und dennoch präsent die Streicher, von mitreissender Präzision die Pauke; nur das solistisch wirkende Celloquartett liess an der Premiere etwas Nervosität hören. Was auf dieser sehr ansprechenden Basis noch wachsen kann, ist der spezifische Zug, den Wagner in seiner Musik erzeugt: das Drängende der Sequenzen, das Ziehende der Halbtonbildungen.

Das gilt auch im ersten Aufzug, wo die Sinnlichkeit des Venusbergs dominiert. Die von Rebecca Ringst entworfene Bühne zeigt da einen dunklen, undurchdringlichen Wald mit unregelmässigem Boden. Lianen gleich hängen die Äste von oben herunter, Sinnlichkeit wird suggeriert.

Claude Eichenberger (Venus) und Daniel Frank (Tannhäuser) im Berner Stadttheater / Bild Philipp ZInniker, Konzert-Theater Bern

Lasziv wirkt die von Bieito imaginierte Gestalt der Venus allerdings kaum. Zu modern, zu emanzipiert erscheint Claude Eichenberger mit ihrer Kurzhaarfrisur, zu erzwungen, ja albern wirkt der konstante Griff zwischen die Beine. Dass die Göttin das Lustvermögen der Frau verkörpert, vor dem der Mann am Ende in die Knie geht, ist nicht zu entdecken. Und wie die Darstellerin zum ausführlichen Bacchanal – gespielt wird die 1875 für Wien ins Deutsche zurückgeführte Pariser Fassung von 1861 – hin- und herstakst, wirkt als eine einzige Verlegenheit. Die Natur, welche die Bühne evoziert, ist eben auch hier in Kunst gefasst. Zum Beispiel in Gesangskunst – denn was Claude Eichenberger mit ihrem weiten, durch keinerlei Registerbruch getrübten Ambitus, mit ihrem in jeder Lage betörend strahlkräftigen Timbre und der unglaublichen Vielfalt an Stimmfarben ausbreitet, ist von packender Wirkung. Bald erschallen jedoch die Hörner und tritt die Jagd-Gesellschaft rund um den Landgrafen Hermann (Kai Wegner) mit ihrem Macho-Gehabe und ihren Männerritualen auf.

Wie eine Faust aufs Auge – so ist Theater, wenn es gut ist – trifft einen dann der Sängerwettstreit in dem streng geometrischen, klinisch reinen Festsaal mit seinen hochweiss glänzenden Stützen. Da passt ausgezeichnet, dass der berühmte Einzug der Gäste (vorzüglich der von Zsolt Czetner einstudierte, kräftig erweiterte Chor) musikalisch doch sehr gezügelt klingt. Dass Elisabeth, die vom Kostümbildner Ingo Krügler ganz ähnlich gekleidet ist wie Venus, nicht wirklich in diese streng normierte Welt passt, Liene Kinča macht es mit ihrem kraftvollen Sopran und mit ihrer ganz auf Widerspenstigkeit angelegten Körpersprache nur zu deutlich. Die im Raum stehenden Konflikte zeigen sich früh – und sie brechen im Wettstreit um das Lied, welches das Wesen der Liebe zeichnen soll, sehr handgreiflich aus. Während Wolfram von Eschenbach (Jordan Shanahan), Walther von der Vogelweide (Andries Cloete) und Biterolf (Andreas Daum) auf Ehre und Respekt setzen, bricht Tannhäuser, der sich den Kleidervorschriften nur knapp unterzogen hat, gleich ungestüm aus und bricht seine Lanze für Sinnlichkeit und Körperlichkeit – mit seinem höhensicheren Tenor schafft Daniel Frank hier scharfe Spannung.

Sie fährt so explosiv ein, dass zu guter Letzt der Wald aus dem ersten Aufzug vom spiegelnden Festsaal des zweiten Besitz ergriffen hat. Venus hat gesiegt, das Sensuelle hat die wohlgeordnete Welt der feudalen Gesellschaft aus den Angeln gehoben. Calixto Bieito ist jedoch überzeugt, und er zeigt es überzeugend, dass damit kein lieto fine gemeint ist. Elisabeth, die unter den zurückkehrenden Pilgern vergeblich nach Tannhäuser gesucht hat, verkriecht sich ins erdige Grab, Wolfram zieht es nicht weniger unter die schwarzen Planen, die den Boden bilden, während Tannhäuser selbst als ein Getriebener, Gebrochener, Ortloser sein Leben aushaucht. Bewundernswert geraten die grossen Nummern des dritten Aufzugs: das Gebet der Elisabeth, bei dem Liene Kinča verletzliche Seiten erschliesst, Wolframs Lied an den Abendstern, bei dem Jordan Shanahan jedem Kitsch aus dem Weg geht, und die Rom-Erzählung Tannhäusers, in der Daniel Frank noch einmal seinen ganzen stimmlichen Aplomb einbringt.

«Oresteia»: ein Projekt

Von diesem vielschichtig reflektierenden «Tannhäuser» aus gesehen erscheint es doppelt bemerkenswert, dass Calixto Bieito gleichzeitig etwas so Elementares, direkt aus den Leibern Hervortretendes und die die Leiber Eindringendes wie die «Oresteia» im Theater Basel hat stemmen können. Das ist nichts anderes als Theater an und für sich. Wobei da gleich festgehalten gehört, dass unter der Wucht des szenischen Zugriffs das Musikalische ins Hintertreffen gerät und das Inhaltliche schwer fassbar wird. Man kann dem Abend nur folgen, wenn man sich in der Geschichte um Agamemnon und Klytaimnestra und Aigisthos, um Elektra und Orestes, um Iphigenie, Helena, um Atreus und seine Neffen sehr genau auskennt. Wenn man also bildungsbürgerlich geprägt ist.

Michael Wächter (Orestes) im Basler Stadttheater / Bild Sandra Then, Theater Basel

Zumal der Text, der im Rahmen dieses Projekts vorgetragen wird, nur in Bruchstücken zu verstehen ist. Von Kurt Steinmann in einer dem altgriechischen Original folgenden Weise übersetzt, verlangen die im Programmheft leider nicht abgedruckten Passagen aus der Tragödie des Aischylos allein schon im Lesen ein hohes Mass an Einlässlichkeit, vom Hören ganz zu schweigen. Bieito scheint sich diese Schwierigkeit nicht bewusst gemacht zu haben. Wie es im bundesdeutschen Schauspiel neuerer Prägung üblich ist, bellen die an dem spartenübergreifenden Projekt beteiligten Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Sätze nach der Art von Maschinengewehrsalven heraus, und das gern in Lautstärkegraden, wo sich die Stimmen zum Geräusch hin verzerren. Dem sehr schön, abstrakt und kunstvoll elliptisch gebauten Text zu folgen, ist demnach ein Ding der Unmöglichkeit. Es sei denn, man halte sich auch als Eingeborener an die englischen Übersetzungen, die für die Expats auf zwei Bildschirme links und rechts der Bühne projiziert werden.

Vielleicht gehörte die geringe Verständlichkeit aber auch zum Kalkül. Was Calixto Bieito hier gebaut hat, ist Überwältigungstheater. Auf rohen Planken zieht sich die von ihm selbst erdachte Bühne weit in die Tiefe – bis dorthin, wo die Basel Sinfonietta unter der Leitung von Franck Ollu drei Stücke von Iannis Xenakis (1922-2001) spielt: «Oresteia», «Kassandra» und «La Déesse Athéna». Es ist Musik von einer unerhörten Wucht, das Schlagwerk spielt hier eine zentrale Rolle – ebenso wie das Zwerchfell bei den Menschen im Zuschauerraum. Grossartig auch der von Henryk Polus vorbereitete Chor des Theaters Basel sowie die beiden Kantoreien für Knaben und für Mädchen. Da wird nicht nur gesungen, da wird auch nach Massen agiert und rhythmisch gestampft, dass die Wände ins Wanken geraten.

Die Botschaft, die auf der Basis einer Tragödie aus dem Jahre 458 vor Christus transportiert wird, kommt so nicht nur zu unmittelbarer Wirkung, sie zeigt auch ihre ungebrochene Aktualität. Das Leben des Menschen, so er den Göttern, was immer das sei, unterworfen bleibt, erzeugt eine ununterbrochene Abfolge von Gewalttaten; ein tödlicher Streich löst den nächsten aus. Indes bleibt Aischylos nicht bei dieser pessimistischen Weltsicht. Aufklärer avant la lettre ruft er die Menschen vielmehr dazu auf, sich aus dem Status der Unterworfenen zu befreien und ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Was gäbe es dieser Tage Aktuelleres zu fordern?

«Orest» von Manfred Trojahn im Opernhaus Zürich

Kreative Aneignung und pralles Theater

 

Von Peter Hagmann

 

Verlöscht ist das Licht, Stille verbreitet sich – da: ein gellender Schrei. So ist es im Theater, wenn es gut ist: wenn es vom scharfen wie vom geistreichen Effekt lebt. Und so ist es bei Hans Neuenfels, der jetzt für die Oper Zürich «Orest» von Manfred Trojahn auf die Bühne gebracht hat. Der Radikalinski von einst geht dem Einakter des 1949 geborenen Deutschen sorgfältig denkend wie kreativ deutend auf den Grund und setzt ihn in Bilder um, die er sensibel aus der Sache selbst, vor allem aus der Musik entwickelt. Das hochinteressante, musikalisch ausgesprochen attraktive Stück zeigt hier seine ganze Plausibilität – und es tut das deutlicher als bei der Amsterdamer Uraufführung von 2011 (https://www.nzz.ch/taten-und-ihre-folgen-1.13683501). Wesentlichen Anteil daran tragen die Philharmonia Zürich, die unter der Leitung von Erik Nielsen, dem Musikdirektor des Theaters Basel, zu prononcierter Formulierung findet, sowie ein vorzüglich zusammengestelltes Team an Sängerinnen und Sängern auf der Bühne.

Orest (Georg Nigl) im Fieberwahn / Bild Judith Schlosser, Opernhaus Zürich

Was zu Beginn ins Dunkel fährt, ist der Schrei Klytämnestras, die von ihrem Sohn aus Rache für den Mord an dessen Vater Agamemnon den tödlichen Streich empfängt. Der Schrei stammt aus einem anderen, gut hundert Jahre älteren Einakter; tatsächlich schreibt Manfred Trojahn fort, was in «Elektra» von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ausgeführt ist. Gleich, wie es Heinz Holliger in seiner grossartigen, viel zu selten gespielten Oper «Schneewittchen» tat, und doch anders. Denn Holliger sann dem bekannten Märchen mit Hilfe eines Textes von Robert Walser nach, während sich Trojahn sein eigenes Libretto geschrieben hat. Er eröffnet sich so die Möglichkeit, den Mythos in ein persönlich gefärbtes Licht zu rücken.

Niedergedrückt und beinah zum Wahnsinn getrieben, so erscheint Orest mit seinen Schuldgefühlen zu Beginn des Stücks. Dort hat Apollo (Airam Hernandez) noch Verfügungskraft über den Muttermörder – mit einer Macht, die er am Ende verliert. Nachdem Orest dem Blick der jungen, unversehrten Hermione begegnet ist, weiss er, dass er seinen eigenen Weg gehen muss: ganz allein, in selbst verantworteter Autonomie. Auch ohne seine Schwester Elektra (Ruxandra Donose), die ihn für ihre Rache zu instrumentalisieren sucht. Insofern eignet Trojahns Oper durchaus ein aufklärerischer Zug, wofür man in diesen Zeiten der Reaktion und der Demagogie nicht dankbar genug sein kann. Mag sein, dass der sensationelle Erfolg, den das Stück an seiner Zürcher Premiere erzielt hat, auch damit zu tun hat.

Der Blickwechsel zwischen Orest und Hermione, dieser Schlüsselmoment des Stücks, wird von Hans Neuenfels ohne jede Aufregung, ganz natürlich aus den beteiligten Personen entwickelt. Hermione – Claire de Sévigné, eine junge Sängerin aus dem Opernstudio, erfüllt diese Partie gerade stimmlich mehr als überzeugend – sucht die Augen Orests, der weicht aber aus, bis er schliesslich doch den Kontakt wagt. Worauf es weder zum Auftritt eines Deus ex machina noch zum lieto fine kommt, sondern zum ruhigen Abgang Orests dem nun offenen Hintergrund zu. Da kommt ein Mensch zu sich selbst, der zu Beginn als krank vor Gram gezeigt wird. Aus dem ganzen Raum rufen die Erinnyen – es sind sechs Frauenstimmen und sechs Solo-Violinen – die Schuld in Erinnerung, die verstummte Klytämnestra liegt im Hintergrund der Bühne in ihrem blutverschmierten Laken, während Orest nicht weiss, wohin mit seiner Verzweiflung. Wie Georg Nigl das fasst, welche Spanne an stimmlichem Vermögen er ausschreitet und wie furchtbar er seinen stechenden Blick dahin und dorthin richtet, das raubt einem den Atem.

Auch darum, weil es von so eminent theatralischer Wirkung ist. Wie überhaupt an diesem Abend eine Theaterlust sondergleichen herrscht. Wenn Apollo, begleitet von den tiefen Tönen eines Heckelphons davon träumt, wie er Helena als Sternbild am Himmel fixiert, erscheint die schönste Frau der damaligen Welt in Person: hochtoupiert, blondiert, mit Sonnenbrille – und einem Kostüm, das exakt den vom Gott besungenen Sternenhimmel darstellt.

Helena (Claudia Boyle) und die Mannen / Bild Judith Schlosser, Opernhaus Zürich

Wenig später lässt Claudia Boyle, die diese Partie glänzend meistert, das Kostüm stehen und tritt aus ihm heraus wie aus einem Kleiderkasten. Schon öffnet sich der Bühnenhintergrund und lässt ein enormes Trojanisches Pferd sehen, aus dem sich ein Krieger in Vollmontur nach dem anderen abseilt: So wie Orests Schuld präsent ist, so gegenwärtig bleibt der mythologische Zusammenhang. Und so gesichert ist neben allem visuellem Effekt die Verständlichkeit des Geschehens, die in der durchwegs ausgezeichneten Diktion der Darsteller ihre Entsprechung findet.

Auch lässt die von Katrin Connan entworfenen Bühne immer wieder sehen, dass Trojahns Musik nicht durch Zitate, aber durch Assonanzen Kontakt aufnimmt zu Meilensteinen der Operngeschichte. Helena erscheint als ein Urweib wie Lulu, und so ist diesem Frauenzimmer ein Groom beigesellt, der rote Teppiche ausrollt, im entscheidenden Augenblick aber die Contenance verliert wie sein Pendant in Bergs Oper. Menelaos wiederum, von Andrea Schmidt-Futterer in einen scharf charakterisierenden Mantel von schwarzem Samt gehüllt, der in schwarze Handschuhe ausläuft, auf denen unzählige Goldringe blinken – Menelaos wird von Raymond Very pointiert als der opportunistische Politiker der Stunde gezeigt, zugleich aber auch als Ebenbild von Ägisth aus «Elektra» oder Herodes aus «Salome» von Strauss. Dabei tut sich weder hier noch sonstwo ein Widerspruch zu der vielschichtigen, sehr persönlichen Musik Manfred Trojahns auf. Weshalb man sich mit grossem Gewinn auf diese grandiose Produktion einlassen kann.

Opéra français – in Lausanne und Bern

Begegnungen mit «Hamlet» von Ambroise Thomas und mit Charles Gounods «Faust»

 

Von Peter Hagmann

 

Beide Häuser sind renoviert. Die Oper Lausanne, 2012 wieder eröffnet, hat einen hochmodernen Anbau bekommen, in dem untergebracht ist, was es hinter der Bühne braucht; in ruhiger Vornehmheit strahlt dagegen der Zuschauerraum im stilvoll aufgefrischten Altbau mit seinen knapp 800 Plätzen. Im Stadttheater Bern dagegen harrt der Umbau noch der Vollendung; die Bühne, der Zuschauerraum mit seinen 650 Plätzen und die Foyers sind aber schon wieder bereit – und ganz wunderbar herausgekommen (https://www.peterhagmann.com/?p=843). Keine hundert Kilometer liegen zwischen den beiden Häusern, und doch ist die Luft im einen ganz anders als im anderen.

Das liegt nicht nur an der Differenz zwischen dem welschen Klima und jenem der Deutschschweiz. Auch nicht nur daran, dass in Lausanne zwei Theater-Sparten bedient werden, während es in Bern deren drei sind. Den grossen Unterschied machen die Strukturen aus. Die Oper von Lausanne, gut integriert in das Netzwerk der französischen Musiktheater, wird nach dem Stagione-Prinzip geführt, zeigt eine Produktion also ensuite innerhalb einer Woche. Und da das Publikumsaufkommen verhältnismässig eingeschränkt ist – die Universitätsstadt zählt 136’000 Einwohner, ihre Oper hat Konkurrenz durch das sechzig Kilometer südlich gelegene Grand Théâtre de Genève –, können die Stücke nur für vier bis fünf Aufführungen auf den Spielplan gesetzt werden. Darum herrscht Zurückhaltung bei den Eigenproduktionen, wird auf Kooperation mit anderen Häusern gesetzt, von denen Inszenierungen übernommen werden. Und im Bereich der Besetzungen wird durchwegs mit Gästen gearbeitet.

Das ist bei Konzert Theater Bern, wo zum Musik- und zum Tanztheater noch das Sprechtheater tritt, grundsätzlich anders. Das Berner Haus hält bewusst und mit Emphase das Prinzip des Repertoiretheaters hoch. Wo immer möglich, werden im Musiktheater die Stücke aus dem Ensemble besetzt. Eine einmal zur Premiere gebrachte Produktion wird häufig und über einen langen Zeitraum hinweg gezeigt, denn der für die Bundesstadt mit ihren 142’000 Einwohnern gestaltete Spielplan zeigt eine dichte Folge von Abenden und eine bunte Mischung von Genres. Zudem erlaubt das Ensemble die Identifikation der Zuschauerinnen und Zuschauer mit den einzelnen Darstellern, die oft über einen längeren Zeitraum hinweg in den verschiedensten Partien auftreten. Ganz anders als in Lausanne lebt das Musiktheater in Bern daher autark, aus sich heraus. Welches der beiden Strukturprinzipien das bessere sei, bleibe dahingestellt; es ist eine Glaubensfrage. Zum Erfolg führen können beide Wege.

Belcanto à la française

Auch wenn als eines der kleineren Häuser betrachtet, hält die Opéra de Lausanne den Kopf selbstbewusst hoch. Später in dieser Spielzeit holt man die Eigenproduktion von Puccinis «Bohème» noch einmal hervor, obwohl das Genfer Grand Théâtre diesen Kassenschlager zu Beginn der Saison schon im Angebot hatte. Und eben jetzt ist das Wagnis unternommen worden, mit «Hamlet» (1868) von Ambroise Thomas eine überaus anspruchsvolle Rarität aus dem 19. Jahrhundert ans Licht zu holen. Das war nicht nur eine verdienstvolle Tat, die Rechnung ist auch voll aufgegangen: Hier ist ein in seiner Anlage gewiss nicht fulminant in die Zukunft weisendes, handwerklich aber äusserst hochstehendes Stück auf einem Niveau geboten worden, das manch grösserem, besser ausgestattetem Haus Ehre machte.

Der ermordete König (Daniel Gossolov) schreitet seinem Sohn Hamlet (Régis Mengus) entgegen / Bild M. Vanappelghem, Opéra de Lausanne

Die Inszenierung, die Vincent Boussard 2010 für die Oper in Marseille entworfen und im Jahr darauf nach Strassburg gebracht hat, verbindet geschickt das Schauerromantische, die Erscheinungen von Hamlets ermordetem Vater, mit den individuellen Dramen, insbesondere jenem der Ophélie; obwohl die Ballette gestrichen sind, bleiben somit die Umrisse der Grand Opéra mit ihrem Spannungsfeld zwischen Öffentlichem und Privatem erhalten. Wenn im zweiten Bild des ersten Akts der Tote seinem Sohn als Gespenst erscheint und ihn zur Rache an seinem Mörder aufruft, erklingt nicht nur das zur Entstehungszeit von «Hamlet» neue Saxophon als eine absolut ungewöhnliche Instrumentalfarbe, sondern schreitet der tote König (Daniel Gossolov) in der Vertikale die Wand eines in mattem Silber gehaltenen, überhohen Saals herunter, als ginge er auf einer Strasse. Die Lösung, die der Bühnenbildner Vincent Lemaire realisiert hat, macht ebenso Effekt wie, auf der anderen Seite, die enorme Wahnsinnsszene der Ophélie, die den vierten Akt ausmacht.

Was Lisette Oropesa hier leistet, allein schon darstellerisch mit ihren Grenzgängen auf den Rändern einer Badewanne, in der sie sich am Ende ertränkt, vor allem aber stimmlich, kann einem Schauder über den Rücken jagen. Das helle, ausstrahlungsstarke Timbre, die makellose, ungeheuer präzis zeichnende Beweglichkeit und die geradezu sensationelle Höhensicherheit sorgen zusammen mit der szenischen Präsenz der fragilen Sängerin für das Glanzlicht des Abends. Sehr genau sind die Figuren dieser Produktion charakterisiert – im Szenischen wie im Stimmlichen. Philippe Rouillon gibt den Usurpator Claudius als einen rohen Bösewicht, Stella Grigorian ist eine durch und durch falsche Gertrude, während Régis Mengus in der Titelpartie einen edlen, in der Höhe allerdings etwas eng wirkenden Bariton hören lässt, die Figur des Hamlet aber in scharfes Profil fasst. An stimmlicher Schönheit wird er freilich übertroffen durch Benjamin Bernheim in der kleinen Rolle des Laërte; bewundernswert, in welchem Mass der Sänger seinen biegsamen Tenor gekräftigt hat.

Die Spannung des Abends ergab sich einerseits aus der phantasievollen Genauigkeit, mit welcher der Regisseur die psychologischen Konstellationen herausgearbeitet, andererseits aus dem musikalischen Fluss, den der Dirigent Fabien Gabel mit seinem Gespür für die Tempi gesteuert hat. Ausgewogen zudem die Balance im Graben. «Hamlet» sieht ja eine sehr grosse Orchesterbesetzung vor. Der junge Dirigent aus Paris, der leider durch störende Atemgeräusche auf seine Inspiration aufmerksam machte, hielt den Klang aber jederzeit unter Kontrolle. Ohne dass sich die Sänger je hätten bedrängt fühlen müssen, breitete das ausgezeichnet disponierte Orchestre de Chambre de Lausanne die Farbigkeit der Partitur und ihre harmonische Würze lustvoll aus.

Mit Goethe im Goetheanum

Just da, im Orchestralen, liegt die Schwäche der Produktion von Charles Gounods «Faust» (1859/1869), die vom Konzert Theater Bern herausgebracht worden ist. Jochem Hochstenbach, seit dieser Spielzeit in der Funktion des Ersten Kapellmeisters, steuert das klangsatte Geschehen in diesem bis heute geschätzten Erfolgsstück mit sicherer Hand. Weit sind die Bögen, gross ist der Atem, ruhig der Fluss. Indessen wird der Klang des Berner Symphonieorchesters da und dort arg rauh – als ob die Streicher, die doch den Untergrund zu bilden hätten, gegenüber den Bläsern ins Hintertreffen gerieten. Das bürstet die Partitur gegen den Strich des Gewohnten, was grundsätzlich von Gewinn sein kann, mindert zugleich aber jene Geschmeidigkeit, die zur Handschrift Gounods gehört.

Auch die Besetzung lässt Grenzen erkennen. Mit ihrem anmutigen Timbre und ihrer grossartig ausgebauten Piano-Kultur verleiht Evgenia Grekova der Marguerite eine authentisch wirkende Unschuld. Nicht zu überhören ist indessen, dass die Reserven der jungen Sopranistin beschränkt sind; die grossen Ausbrüche, mit denen diese Partie auch aufwartet, scheinen auf halber Strecke stehenzubleiben. Gerade ins Gegenteil fällt Uwe Stickert als Faust; zu rasch erreicht er jeweils sein Forte, zu oft erhält seine Stimme dort einen Zug ins Schrille, und seine szenische Erscheinung wirkt über weite Strecken ungelenk. Als Méphistophélès lässt Kai Wegner mit seiner opulenten Wärme bald vergessen, dass man die Disposition der beiden Figuren im Grund umgekehrt erwartete: der reife Faust als Bariton, den züngelnden Méphistophélès als Tenor. Anders als bei der Berner Eröffnungspremiere mit Mozarts «Figaro» bleibt das Repertoiretheater gegenüber dem Stagione-Prinzip für diesmal auf den zweiten Platz verwiesen.

Méphistophélès (Kai Wegner) und Faust (Uwe Stickert) in der anthroposophischen Kirche / Bild Philipp Zinniker, Konzert Theater Bern

Die Inszenierung von Nigel Lowery hält ihrerseits nicht ausreichend dagegen. Die vom Regisseur selbst entworfene Bühne wirkt eng und vollgestopft, die einzelnen Figuren kommen nicht wirklich ans Licht. Und etwas weit hergeholt wirkt die Idee, Valentin (Todd Boyce setzt hier einen sehr kernigen Bariton ein) als Anführer einer fanatisierten Gruppe von Anthroposophen zu zeigen – darauf lässt jedenfalls die den rechten Winkel vermeidende Bühnenarchitektur schliessen. Gewiss gibt es Vertreter des Anthroposophischen, denen das sektiererisch Dogmatische nicht fremd ist. Von Goethes «Faust», der Vorlage für Gounods Oper, auf das Goetheanum in Dornach zu schliessen, wo «Faust» jeweils im Zentrum der grossen Sommertagungen steht, ist aber doch etwas simpel. Zumal die Figur des Faust als eines am Ende seines Lebens stehenden, mit dem Erreichten wenig zufriedenen Mannes ob der Betonung der Spannung zwischen Marguerite und Valentin sein Gewicht verliert.

Verführer wider Willen – «Don Giovanni» in Basel

Mozarts Dramma giocoso in einer Produktion mit dem Regisseur Richard Jones und Erik Nielsen am Dirigentenpult

 

Von Peter Hagmann

 

Così fan tutte? Così fan tutte! So zeigt es der Regisseur Richard Jones in seiner Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Don Giovanni» am Theater Basel. Ob gestandene Hausfrau, propere Witwe, junges Mädchen – eine nach der anderen spaziert an den Türen des schäbigen Hotels aus dem Atelier des Bühnenbildners Paul Steinberg und an der reglos dastehenden Mannsfigur vorbei, dreht sich noch in der Duftwolke des völlig passiven Verführers auf dem Absatz um und schlüpft durch eine Pforte, durch die ihr der Mann mit seinem kahlrasierten Schädel folgt. Nur einen Augenblick dauert der Akt hinter verschlossener Tür, und schon beginnt der Vorgang wieder von vorn. Don Giovanni scheint ihn unbeteiligt hinter sich zu bringen; er rührt keinen Finger für die Frauen, sie fliegen ihm zu. Den Mythos, wie ihn Mozart und Da Ponte zeigen, in dieser Weise zu sehen, hat durchaus etwas für sich.

Dennoch macht sich auch gleich Unmut breit – darüber, dass sich hier einmal mehr ein Theaterkünstler über einen Komponisten erhebt. Was die Bühne zu Beginn des Abends zeigt, ereignet sich während und zu Lasten der Ouvertüre; da das Szenische die Aufmerksamkeit bindet, gerät das Musikalische ins Hintertreffen. Man nimmt darum kaum wahr, wie überlegen Erik Nielsen, Musikdirektor am Theater Basel, diese Ouvertüre disponiert, wie schlank und zugleich kompakt das Sinfonieorchester Basel sie in Klang setzt. Das freilich in durch und durch konventioneller Ästhetik. Die Tempoproportionen, Artikulation und Phrasierung, die Attacke – das alles bleibt ganz im Rahmen des Gewohnten. Auch das ist keineswegs verboten. Nur verbindet es sich in eigenartiger Weise mit der distanzierten Haltung des Protagonisten.

Riccardo Fassi (Don Giovanni) und Biagio Pizzuti (Leporello) auf der Basler Bühne / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

Akkurat ist er gemacht, der neue Basler «Don Giovanni», mit viel Witz, Geist und einer sehr hübschen Überraschung am Ende. Dennoch lässt er kalt. Das liegt zum einen an der musikalischen Verwirklichung, die Schönes zutage fördert, aber weder den Biss erreicht, den man bei diesem Stück heute erleben kann, noch in tiefere Schichten der emotionalen Verdichtung vorstösst. Wenn Simon Bode mit seinem hellen Tenor die erste Arie des Don Ottavio vorträgt, geht er der drohenden Larmoyanz erfolgreich aus dem Weg, bereichert er auch das Dacapo durch mancherlei Verzierung – Wärme stellt sich gleichwohl keine ein. Das mag wenig erstaunen angesichts der Undurchdringlichkeit, die Kiandra Howarth in der Partie der Donna Anna erkennen lässt – auch sie stimmlich auf hohem Niveau. Das entspricht der gängigen Vorstellung von dieser Figur – aber muss es so sein? Und muss Anna Rajah als Donna Elvira partout mit so viel stimmlichem Druck agieren? Dass diese Frau ein menschliches Wesen ist, das an einer Verletzung leidet, wird dadurch nicht greifbarer.

Regung lösen am ehesten der ehrliche, arg gebeutelte Masetto von Nicholas Crawley und die keineswegs flatterhafte, sondern bis fast zum Schluss standhafte Zerlina von Maren Favela aus – wobei die junge Deutsche aus Mexiko auf einen wunderbar leichten, aber nirgends soubrettenhaften Sopran bauen kann. Nur kann man sich fragen, warum auch sie diesem seltsamen Don Giovanni erliegt. Es muss ein besonderes Geheimnis um diese Figur sein, denn in der Verkörperung durch Riccardo Fassi wirkt der Inbegriff des Verführers wie eine Statue seiner selbst. Die Champagner-Arie will nicht sprudeln, die Annäherungsversuche an die so spannend widerspenstige Zerlina bleiben schal, das Ständchen für die Zofe der Donna Elvira brüllt er in einer Telephonkabine in den Hörer – ungeachtet der Tatsache, dass der Musiker an der Mandoline ausnehmend differenziert spielt.

Aber auch der in seinem Überdruss schmorende Don Giovanni scheint noch zu auszustrahlen. Zu hören ist es nicht, wohl aber zu sehen, zum Beispiel an besagter Zofe, die als stumme Figur (Mirjam Karvat) in die Inszenierung eingelassen ist und die bewegungsakrobatisch versinnbildlicht, was die Töne aus dem Telefonhörer bei ihr auslösen. Zwingend ist die Zutat nicht, aber nett – so nett, wie der Doppelgänger des Leporello (Biagio Pizzuti), der für unerwartete Wahrnehmungsprobleme sorgt. Da hat die Inszenierung ihren Kern: in einem Spiel von Täuschung und Verstellung. Don Giovanni und Leporello, Herr und Diener, sind einander in den Kostümen von Nicky Gillibrand merklich angenähert. Für die vom Herrn verlangten Annäherungsversuche des Dieners an Donna Elvira genügt es, dass sich Don Giovanni mit einem raschen Griff die locker auf Leporellos Haupt sitzende Perücke grapscht und sie sich auf den Schädel setzt. Genau damit sorgt er später für sein Überleben bis in unsere Tage hinein.

Unter dem Strich wirkt die aus der English National Opera London übernommene Inszenierung müde. Der Regisseur scheint auch nicht besonders involviert gewesen zu sein, was das Programmheft anzunehmen nahelegt. Darauf deutet auch die so gut wie nicht vorhandene Ausgestaltung der einzelnen Figuren hin; jedenfalls fehlt es an diesem Abend nicht an platten Momenten. Gehen wir weiter.