Golaud et Mélisande

Pelléas
Golaud (Kyle Ketelsen) und Mélisande (Corinne Winters) in der Zürcher Oper / Bild Toni Suter T + T Fotografie, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Männerwirtschaft, schonungslos demaskiert

«Pelléas et Mélisande» von Debussy im Opernhaus Zürich

 

Im Grunde gibt es nur zwei Wege, das Stück auf die Bühne zu bringen: so, wie es Claude Debussy auf den Text von Maurice Maeterlinck ersonnen hat, oder eben nicht so. Beide Wege haben ihre Gültigkeit – besonders dann, wenn sie kompromisslos und konsequent ausgeschritten werden. Als in den frühen neunziger Jahren Peter Stein «Pelléas et Mélisande» herausbrachte, er tat das in der Abgeschiedenheit der Welsh Opera von Cardiff, aber doch zusammen mit Pierre Boulez am Dirigentenpult, entschied er sich für eine Lesart, welche die Bühnenanweisungen eins zu eins in szenische Realität überführte. Der Turm war der Turm, Mélisande trug ihre Haare so lang, dass sie tatsächlich auf Pelléas herniederfallen konnten, und selbst die Tauben, die in diesem Augenblick aus dem Gemäuer emporfliegen, waren Tauben, richtige nämlich. Das wirkte klassizistisch, ein wenig leblos vielleicht, in seiner Geradlinigkeit vermochte es aber durchaus zu packen.

Genau das Gegenteil davon ist jetzt im Opernhaus Zürich zu erleben: in einer konzis durchdachten und fabelhaft ausgearbeiteten Produktion von «Pelléas et Mélisande», die sich radikal von der originalen Einkleidung der Geschichte verabschiedet, das Thema des Stücks vielmehr in ganz eigener Weise aufbereitet. In der Sicht des Regisseurs und Bühnenbildners Dmitri Tcherniakov ist das Schloss Allemonde eine moderne Villa, durch deren Fenster jener dichte, tiefe Wald sichtbar wird, von dem an verschiedenen Stellen des Stücks die Rede ist. Es ist der Wald des Unbewussten, und betrachtet wird er von einer Familie, in der die Kunst der Psychotherapie gelebt wird. Das obligate Glas Wasser steht immer bereit, Hypnose gehört dazu, und selbst Yniold, der jüngste Spross, übt sich früh, wenn er den Schäfer auf die Couch zwingt und sich protokollierend danebensetzt. Dominiert wird der Clan durch Arkel, der vom Alter sichtlich gebeugt ist, deshalb an Charisma und Autorität jedoch nicht das Geringste eingebüsst hat. Wie Brindley Sherratt das verkörpert und wie er es mit seinem festen, voluminösen Bass in Klang setzt – allein schon das ist ein Erlebnis.

Ein Trauma und seine Wirkung

Zu Beginn sitzt die Familie im Hintergrund am Esstisch beim Tee – bis, ein veritabler coup de théâtre, das Licht auf einen Schlag erlischt und das Haus in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Zu den ersten Klängen aus dem Graben erscheint eine Schrift, ein wenig wie im epischen Theater Bertolt Brechts. Der Psychiater Golaud, heisst es sinngemäss, habe sich in seine Patientin Mélisande verliebt und bringe sie nach Hause, um die Therapie dort fortzusetzen. Womit alles gesagt ist und das Unglück seinen Lauf nehmen kann. Golaud, sonst gerne auf eine Nebenrolle als Bösewicht reduziert, erscheint hier als der eigentliche dramatische Täter, Pelléas tritt später und eher zufällig auf und stiehlt sich am Ende fast unbemerkt davon – nichts von dem tödlichen Hieb Golauds, den das Libretto erwähnt. Und erst noch Mélisande. Sie ist in Zürich alles andere als die geheimnisvolle, zartgliedrige Schönheit mit langem blondem Haar, als die sie in der Regel erscheint. Nein, sie ist ein kratzbürstiges Strassenmädchen ganz in Schwarz, mit schwerem Schuhwerk, zerschlissenen Jeans und dunklen Ringen um die Augen. Dass diese junge Frau eine schwere Bürde trägt, ist nicht zu übersehen.

Bei Docteur Golaud ist sie allerdings an den Falschen geraten. Mit seinem virilen Bariton und dem eleganten Outfit, das ihm die Kostümbildnerin Elena Zaytseva auf den Leib gezaubert hat, gibt sich Kyle Ketelsen als der berühmte Mann in den besten Jahren zu erkennen. Er denkt zuerst an sich und dann nochmals an sich. Doch je länger ihm der Erfolg versagt bleibt – und er bleibt ihm versagt, obwohl ihm Mélisande am Ende eine Tochter gebiert –, desto krasser gerät er auf die schiefe Bahn, die bestialische Demütigung Mélisandes, für die es in dieser Inszenierung kein Schwert braucht, sagt diesbezüglich alles. Pelléas ist kein Haar besser. Jacques Imbrailo hat stimmlich wie darstellerisch das Zeug zum jugendlichen Liebhaber und Sympathieträger, aber er macht Worte, unendlich viele Worte, er zögert, obwohl sich ihm Mélisande wieder und wieder an die Brust wirft – und wenn es am Ende doch zum Kuss kommt, wirkt dieser scheue Höhepunkt der Oper fast wie ein Zufall. Zum Titelhelden taugt dieser Pelléas nicht, daran lässt Tcherniakov keinen Zweifel; «Golaud et Mélisande» müsste das Werk Debussys hier heissen.

Oder vielleicht einfach: «Mélisande». Durch ihr Trauma gebrochen und damit elementar auf sich selbst zurückgeworfen, trägt diese junge Frau eine unsichtbare Schutzhülle um sich. So wie Golaud als Täter erscheint, der zum Opfer (seiner selbst) wird, so tritt Mélisande als Opfer auf, das gerade in seiner Unberührbarkeit von stärkster Wirkung ist. Die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde – als Geneviève hat Yvonne Naef zwar einen wirkungsvollen Auftritt, doch bleibt die Mutter Golauds eine Randfigur –, die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde wird durch Mélisande jedenfalls kräftig durcheinandergebracht. Corinne Winters setzt das blendend um. Trotzige Ablehnung und verletzliche Zartheit sind im Spiel der jungen Amerikanerin gleichermassen präsent, und in ihrer flexiblen Stimme vermischt sich das Rauhe mit dem Sirenenhaften. Dazu kommt eine hervorragende Diktion – wobei das für alle Mitglieder dieses sehr speziellen, sehr exquisiten Ensembles gilt.

Spannung von A bis Z

Nichts an diesem Abend ist vom Regisseur dazu erfunden, er nimmt bloss den Text beim Wort. Und lässt ihn in einem ganz und gar gegenwärtigen Ambiente eine Dringlichkeit finden, wie sie bei «Pelléas et Mélisande» selten eintritt. Die Geschichte kommt einem heftig nah – auch weil der Abend, genau gleich wie Verdis «Macbeth» vor einem knappen Monat, aus einem Guss geformt ist. Die auf der Bühne erscheinenden Physiognomien spiegeln sich grossartig in deren stimmlichen Profilen, während unter der Leitung von Alain Altinoglu die Philharmonia Zürich mit jenem symphonischen Selbstbewusstsein agiert, das die Partitur nahelegt, ohne dabei aber die Sänger zu bedrängen. Gewisse Probleme der Balance werden sich noch einpendeln, und dass die Musik Debussys hier insgesamt etwas direkt wirkt, mag auch auf den vergleichsweise kleinen Raum im Opernhaus Zürich zurückgehen. Mit äusserster Sorgfalt mischt der Dirigent die Farben, so dass sich klangliche Mixturen in grosser Vielfalt ergeben – und das Geschehen auch musikalisch jenes Knistern entstehen lässt, das diese Begegnung mit einem impressionistischen Werk zu handgreiflicher Spannung bringt.

«Macbeth» in Basel

 

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Am Ziel und restlos verstrickt: Macbeth (Vladislav Sulimsky) und seine Lady (Katia Pellegrino) in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Macht und Sex, Sex und Macht

Verdis «Macbeth» mit Olivier Py und Erik Nielsen am Theater Basel

 

Zu sehen gibt es hier nun sehr viel – ganz anders als im Opernhaus Zürich, wo «Macbeth» ebenfalls auf dem Spielplan steht und Giuseppe Verdis radikale Schaueroper durch einen Akt des Nicht-Theaters zu eindringlichstem musikalischem Theater wird. In Basel ist Olivier Py am Werk; im Gegensatz zu Barrie Kosky untersucht er auch dieses Stück auf seine untergründiggen sexuellen Ströme – und er tut das so explizit, wie es bei ihm so Sitte. Er zeigt alles beziehungsweise lässt alles zeigen. Wenn König Duncan bei seinem Vasallen Macbeth zu Gast kommt, entledigt er sich erst seiner Statussymbole und dann seiner Kleidung, um sich schliesslich splitternackt in eine Badewanne zu legen und dort sein Marat-Schicksal zu erwarten. In der Folge führt der Dahingemeuchelte, vom Theaterblut gezeichnet, sein Gemächt noch und noch ins Licht. Auch die Hexen dürfen ihre für gewöhnlich verdeckten Sächelchen herzeigen, es ist eine wahre Freude. Später kämpft sich Macbeth noch über einen Berg ebenfalls nackter Leichen, aber die sind nun aus Plastik. Genau so wie die Krähen, die als kleine Reverenz an die Zürcher Produktion vom Rhein an die Limmat grüssen.

So ist es nun einmal bei Olivier Py. Wer diese Regiehandschrift nicht mag, bleibt besser fern, es gibt ja eine Alternative. Nicht nur das Nackte, auch das Grobe gehört bei ihm dazu. Wenn zu Beginn des vierten Akts die Hoffnungslosigkeit ihren tiefsten Punkt erreicht hat und das Volk von Schottland sein Schicksal beklagt, tut es das im Schatten einer enormen Diktatorenstatue – die am Ende der Nummer pünktlich und krachend zu Boden fällt. Dass der von Henryk Polus einstudierte Chor des Theaters Basel, dessen Damen wieder reichlich Vibrato einbringen und damit die die erwünschte klangliche Homogenität stören, hier seine Sache ganz ausgezeichnet macht und einen grossartigen Moment musikalischer Dichte erzeugt, wird durch das Getöse des fallenden Monuments brutal zerstört. Einmal mehr wird offenbar, mit wie wenig entwickelter Musikalität Musiktheater in Szene gesetzt werden kann. Oder wie sehr sich die Kraft des szenischen Bilds gegenüber dem als Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte gedachten Kunstwerk Oper verselbständigen kann. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass Pierre-André Weitz die Ausstattung virtuos konzipiert und die Haustechnik sie meisterlich realisiert hat.

Doch das ist nur die eine Seite. Was Olivier Py zu «Macbeth», zu Verdi und zu Shakespeare zu sagen hat, das zeigen die intelligenten Antworten, die der Theologe, Autor, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter dem Dramaturgen Pavel B. Jiracek im Programm gibt. Es ist weitaus anregender als das, was an diesem Abend im Theater Basel zu sehen ist. Denn jenseits des Plakativen bleibt die Basler Produktion im Konventionellen oder im Ungefähren stecken. Das liegt an einem Mangel an Hinwendung des Regisseurs zu den dramatis personae. So sehr sie – man könnte fast sagen: im Stil des italienischen Ausstattungstheaters – dem schlagkräftigen Bild zustrebt, so wenig Aufmerksamkeit schenkt die Inszenierung den einzelnen Figuren; sie bleiben darum Chiffren, ja Schemen. Gewiss zeigt Py das Geschehen von «Macbeth» nicht als eine reale Wirklichkeit, sondern vielmehr als eine Wirklichkeit des Unterbewusstseins – die Omnipräsenz des Waldes, als szenische Metapher auch aus anderen Inszenierungen dieses Regisseurs bekannt, mag dafür stehen. Aber welcher Art die Keimzelle des Dramas ist, nämllich die Beziehung zwischen Macbeth und seiner Gattin, dass sich hier die krankhafte Skrupellosigkeit einer Frau der ebenso krankhaften Abhängigkeit, ja Hörigkeit eines schwachen Mannes bedient, das wird nicht wirklich fassbar.

Auch musikalisch nicht. Katia Pellegrino (Lady Macbeth) verfügt über eine tadellos ausgebaute Tiefe und eine strahlkräftige Höhe, der Übergang zwischen Brust- und Kopfstimme ermangelt jedoch der Kontrolle. Ebenso fehlt es an Piano-Kultur – wohingegen das Forte mächtig beeindruckt, aber doch arg der Konvention des italienischen Starkgesangs verpflichtet bleibt. Das Bedrohliche, das schauerlich untergründige Streben kommt daher ebenso wenig zum Ausdruck wie der Zusammenbruch in der Schlafwandlerszene – und schon gar nicht zu hören ist, dass Verdi bei dieser Figur an eine ganz und gar unübliche vokale Ästhetik gedacht hat: an eine Ästhetik des Hässlichen. Vladislav Sluminksy (Macbeth) kommt seiner Partie näher. Er bringt ein obertonreiches Timbre ein, beherrscht die italienische Technik ausgezeichnet und profitiert von vorbildlicher Diktion, doch so weit im Ausloten der Extreme, wie es Markus Brück in Zürich tut, geht der Bariton aus Weissrussland nicht. In den kleineren Partien glänzt neben Valentina Marghinotti (Kammerfrau der Lady Macbeth) vor allem Callum Thorpe als Banquo; der britische Bass, der Ende letzten Jahres als Sarastro in Mozarts «Zauberflöte» auffiel, bringt auch hier äusserst gepflegte, klangvolle Sonorität und souveräne Ausgestaltung ein.

Allein, was Verdis Partitur an Spannung enthält, wird in Basel weitaus weniger deutlich als in Zürich. Das liegt auch am Dirigenten. Ohne Zweifel braucht es eine gewisse Offenheit, den exzentrischen Zugang des Dirigenten Teodor Currentzis zu goutieren, doch unter dem Strich fördert er entschieden mehr zutage, als es der konventionelle Verdi-Ton tut. Den verfolgt Erik Nielsen in Basel – klanglich eher schwer als zugespitzt, dafür rhythmisch präzis und energiegeladen. Und das Sinfonieorchester Basel lässt unter der feurigen Anleitung durch den designierten Musikdirektor am Theater Basel hören, dass es sich in sehr respektabler Verfassung befindet.

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.

Berner Maskenball

 

Das Ensemble des Konzert Theaters Bern bei den Proben zu "Un Ballo in Maschera" von Giuseppe Verdi. Regie: Adriana Altaras. Die Premiere findet am: 6. Februar statt. Foto: ©Philipp ZInniker
Renato (Juan Orozco), Riccardo (Alessandro Liberatore) und sein Page Oscar (Yun-Jeong Lee) im Berner «Maskenball». Bild Konzert Theater Bern, Philipp Zinniker.

 

Peter Hagmann

Auch du, Freund?

Verdis «Ballo in maschera» in Bern

Vielversprechend die ersten Klänge aus dem Orchestergraben. Leicht und transparent, zugleich zupackend und scharfkantig hebt das kurze Vorspiel an – sollte Kevin John Edusei, seit dieser Spielzeit Chefdirigent in der Opernabteilung von Konzert-Theater Bern, mit dem Berner Symphonieorchester tatsächlich einen neuen Verdi-Ton gefunden haben? Was sich zu Beginn von «Un ballo in maschera» andeutet, gibt im Publikum Anlass zu halblauten Gesprächen und auf der Bühne wieder einmal zu einer Misstrauenserklärung an die Adresse der Musik – nämlich zu einem stummen Vorspiel, in dem drei scheue, ungelenke Kinder die Story des Abends vorausnehmen. Schon ist es aus mit dem Zuhören, denn wie üblich drängt sich die optische Wahrnehmung in den Vordergrund.

Ist es schlimm? Vielleicht nicht wirklich, denn was sich unter der Leitung Eduseis in den folgenden gut zwei Stunden entfaltet, ist leider doch ein sehr gewöhnlicher Verdi. Markig, feste druff. Über weite Strecken also zu laut und zu grob. Jedenfalls nicht ausreichend differenziert in der klanglichen Abmischung, bisweilen gar jenseits sinnvoller Balance – etwa dort, wo begleitende Akkorde der Harfe grell in den Vordergrund geraten, wo ein Paukenwirbel im falschen Moment zu kräftig klingt, später im nochmals falschen Augenblick dann aber zu leise. Italienische Dirigenten neigen bei Verdi gern zu Humtata. Deutsche Musiker – das mag eine Vereinfachung sein, bestätigt sich hier aber einmal mehr – betonen in der Musik dieses Komponisten neben der vokalen Linie vorab das Rhythmische, was eine unangenheme Nähe zum Martialischen erzeugt. Ein anderes Verdi-Bild, ein in Farbe und Artikulation vielfältigeres, ist noch zu entdecken. Wie es klänge, hat Nikolaus Harnoncourt in seiner als unidiomatisch gescholtenen Zürcher «Aida» von 1997 vorgeführt.

Vokal durchzogen

Allein, an diesem Abend im Berner Stadttheater hätte ein Dirigent mit solchen Absichten auf verlorenem Posten gestanden. Nicht weil das Orchester nicht mitgehalten hätte, die Berner Musiker können viel mehr, als sie bei diesem «Maskenball» hören lassen. Das Problem liegt vielmehr darin, dass auf der Bühne wieder fast ausnahmslos die italienische Technik des nach Kräften gestützten Starkgesangs herrscht. So mag man es eben, so erwartet man es auch – ob es immer so sein muss, bleibe dahingestellt. Die grandiose Ausnahme bietet Yun-Jeong Lee in der Partie des Pagen Oscar, einer eigentlich nebensächlichen, weil eher dekorativen Hosenrolle, der Verdi aber nicht nur auffallend viel, sondern auch bemerkenswert schöne Musik geschenkt hat. Die junge koreanische Sopranistin lässt sie blendend klingen: mit einem hellen, obertonreichen Timbre, mit untadeliger Linienführung und schlanker Tongebung.

Im übrigen herrschen die Probleme, die sich bei der italienischen Gesangstechnik rasch einstellen. In der Titelpartie des Grafen von Warwick zeigt Alessandro Liberatore gewiss einige Strahlkraft, er stemmt die Töne aber gern zu sehr in die Höhe – und am Ende der Premiere war er von der orchestralen Dominanz so erschöpft, dass er stimmlich zusammenbrach. Juan Orozco als sein Sekretär Renato gibt den polternden Macho, was sich in einem röhrenden, in der Intonation auch recht approximativen Bariton niederschlägt. Kontrollierter und dezidierter in der Gestaltung, dementsprechend markanter in der Ausstrahlung die Amelia von Miriam Clarke, während Sanja Anastasia mit ihrem heftigen Bruch zwischen einer mageren Kopf- und gellenden Bruststimme geradezu ein Zerrbild der Wahrsagerin Ulrica abgibt.

Szenisch hausbacken

Und das alles in einer Inszenierung, die über weite Strecken hausbacken wirkt – worin sie so gar nicht zur Aufbruchsstimmung des mitten in einer Umbauphase befindlichen Berner Hauses passt. Auf der Bühne des Berner Stadttheaters tritt, wenn sie nur eine Spur zu sehr gefüllt ist, sogleich Enge ein, der Besuch des Grafen und seiner Entourage bei der Wahrsagerin Ulrica führt es an diesem Abend wieder vor Augen – da wollte der Bühnenbildner Christoph Schubiger zu viel. In seiner Weite überraschend dagegen das Schlussbild mit jenem Maskenball, in dem Riccardo, der Graf, Opfer Renatos, des Freundes, wird. Da liess die Kostümbildnerin Nina Lepilina ihrer Phantasie und ihrer kompetenten Assoziationskraft freien Lauf. Ein wenig erinnert dieses Bild an «Fledermaus»-Inszenierungen – was vielleicht sogar gewollt ist.

Denn Adriana Altaras baute manchen Fallstrick in ihre Inszenierung ein. Dass Ulrica eine verrufene Frau ist und darum raucht, verortet das Stück in einem Gestern; zugleich aber zücken die Untertanen, wenn sie ihren Herrscher erblicken, sogleich ihre Handys. Immer wieder ist die Rede von dem einen Sohn, der zur Familie von Renato und Amelia gehört; wenn die Mutter von ihm Abschied nehmen soll, tritt allerdings munter Geschwister nach Geschwister dazu. Und wenn sich Amelia und der Graf auf dem Galgenhügel ehebrecherisch treffen, geht es handgreiflich ans Fleisch, obwohl Riccardo, vom Messer seines Freundes getroffen, beteuern wird, dass die Reinheit Amelias nicht tangiert sei. Lauter Brüche, an denen man sich amüsieren könnte, wäre sonst noch ein bisschen Substanz in der Inszenierung. Sie bleibt aber restlos konventionell in der Auslegung der emotionalen Verhältnisse wie im szenischen Ausdruck. Traurig. Fast vergässe man ob diesem Abend, was für ein herrliches Stück Verdis «Ballo in maschera» doch ist.

Wolfgang Rihm in Zürich

 

Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja DOrendorf
Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja Dorendorf

 

Peter Hagmann

Zukunft in der Vergangenheit?

«Die Hamletmaschine» von Wolfgang Rihm im Opernhaus Zürich

 

Nicht laut genug kann begrüsst werden, mit welcher Konsequenz und welchem Mut am Opernhaus Zürich das Musiktheater der jüngeren Zeit gepflegt wird. Und das umso mehr, als es hier nicht so sehr um Uraufführungen geht, wie sie manches Haus landauf, landab präsentiert (oder wenigstens zu präsentieren ankündigt). Im Fokus steht eher die Pflege dessen, was als Repertoire des neuen Musiktheaters zur Verfügung steht, im Alltag des Opernbetriebs aber kaum Beachtung findet. Da setzt die Zürcher Oper unter der Leitung von Andreas Homoki an. 2012/13 gab es die «Drei Schwestern» von Peter Eötvös, in der Spielzeit darauf «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann, jetzt steht Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» auf dem Programm.

Was übrigens nicht weniger Risiko birgt als eine Uraufführung. Nachdem es 1987 in Mannheim aus der Taufe gehoben worden war, ist das Stück nämlich nur noch zwei weitere Male herausgekommen: wenige Wochen nach der Uraufführung in Freiburg, 1990 dann in Hamburg. Dass das Werk in der Schublade verschwand, hat vielleicht seine Gründe – von der üppigen Besetzung der Partitur über die Ansprüche an die Ausführenden bis hin zu der geheimnisvollen Textvorlage, einer Auseinandersetzung mit Shakespeares «Hamlet», die Heiner Müller 1977 innerhalb einer Nacht auf neun Seiten hingeworfen hat. Vor allem aber, das erweist die erneute Begegnung mit Rihms frühem Beitrag zum Musiktheater, ist das Werk mehr als andere seiner Entstehungszeit verpflichtet – eine Art Zeitoper wie Hindemiths «Neues vom Tage» oder «Von heute auf morgen» von Arnold Schönberg.

Wolfgang Rihm wandelte damals auf den Pfaden Antonin Artauds, des französischen Theatertheoretikers, der ihm entscheidende Anstösse für eine neue Art szenischer Kunst vermittelte. Nicht mehr die linear erzählte und in Musik gesetzte Geschichte sollte die Grundlage des Geschehens bilden, diese hergebrachten Parameter sollten vielmehr ersetzt werden durch Elementares und Rituelles. «Tutuguri» nannte sich zum Beispiel ein Ballett von 1982, das mit ebenso grosser Orchesterbesetzung arbeitet wie «Die Hamletmaschine», das ebenfalls ein reich bestücktes Schlagwerk im Raum verteilt und das in gleicher Weise wie das Musiktheaterwerk (die Bezeichnung «Oper» ist hier eindeutig weniger am Platz) Strategien der Überwältigung verfolgt. Rihm hatte hier einen Weg gefunden, auf dem er sich gegen die verfehlte, weil simplizistische Etikettierung als Galionsfigur einer «Neuen Einfachheit» begegnen zu können hoffte.

Heiner Müller wiederum schrieb sich mit der «Hamletmaschine» von der Seele, was ihn damals beschäftigte und belastete. Die Idee einer neuen Gesellschaftsordnung hatte sich aufgelöst im bürokratisierten Unrechts-Alltag der DDR, die Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen als Vordenker und Wegpfader erschien gescheitert an der Anwendung schierer Gewalt, wie ihn der erst wenige Jahre zurückliegende Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag veranschaulichte. In seinem nächtlichen Schreibrausch projizierte Müller seine persönliche Problemlage in die Figuren des Hamlet und seiner Umgebung. Extrem kondensiert türmt der Text eine Fülle von Gedankensplittern und Assoziationen aufeinander, zugleich wirkt er selbst in der geräuschlosen Lektüre als ein heftiger Aufschrei.

Wie damit umgehen? Das ist die Frage, der sich jetzt das Opernhaus Zürich gestellt hat – und an der es letztlich gescheitert ist. In Ehren gescheitert. Nach dem eineinhalbstündigen Donnerwetter dieses Abends verliess ich das Haus weder überwältigt noch kathartisch geläutert, sondern – zugedröhnt und zusammengeschlagen. In Heiner Müllers Text möchte man an diesem überintensiven Abend durchaus eindringen; allein, zu verstehen ist wenig, derartiges Toben und Schreien herrscht auf der Bühne. Der äusserst gespannten, über weite Strecken expansiven Musik möchte man gerne zuhören, zumal das vom Komponisten phantasievoll eingesetzte Schlagwerk optimal in den vergleichsweise kleinen Raum des Zürcher Opernhauses verteilt ist und der Dirigent Gabriel Feltz am Pult der Zürcher Philharmonia die Zügel fest in der Hand hält. Stattdessen wird der Zuhörer bedrängt durch eine Flut penetranter Bilder aus dem Geist des Theaters der Grausamkeit.

In der Uraufführung hatte «Die Hamletmaschine» als vielversprechender Prototyp des nicht-narrativen, sozusagen abstrakten Musiktheaters gewirkt – und äusserst anregend gewirkt. Text und Partitur stützten diese Empfindung. In Zürich ereignet sich gerade das Gegenteil, denn Sebastian Baumgarten, der Regisseur des Abends, unterliegt der Vorstellung, möglichst jeden Satz in möglichst heftige Bilder übersetzen zu müssen -in Bilder auch, die eins zu eines unserer Tagesaktualität angehören. So werden, wenn gegen das Ende hin Ophelia (die schlichtweg grossartige Nicola Beller Carbone) das Heft in die Hand nimmt, jene Szenen aus Guantanamo, die als Inbegriff pervertierter Grausamkeit um die Welt gingen, in allen Einzelheiten nachgestellt – allerdings dergestalt, dass die Lagerwächter die Opfer sind und die von der Kostümbildnerin Marysol Del Castillo in die bekannten orangen Overalls gesteckten weiblichen Gefangenen die Täterinnen.

Dabei folgen sich in der einem Schiffsrumpf gleichenden Festung, die Barbara Ehnes auf die Bühne gestellt hat, die Bilder in hektischem Ablauf, als müsste die Szene den bisweilen hechelnden Tonfall des Textes abbilden. Der Schuss geht in den Ofen, denn was damit heraufbeschworen wird, ist justament die alte Oper, an die Heiner Müller bei diesem Text mitnichten gedacht und von der Wolfgang Rihm gerade wegkommen wollte. Einmal mehr hat sich hier ein Regisseur – gewiss guten Willens, in aller Ernsthaftigkeit, mit reicher Vorstellungskraft – überschätzt und als Deuter in den Vordergrund geschoben. Mit Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald in den Sprechrollen von Hamlet I und II sowie dem Bariton Scott Hendricks als Hamlet III standen ihm neben dem grossen Ensemble Darsteller zur Verfügung, die es vielleicht auch anders gekonnt hätten. Denn vielleicht käme das Stück zu mehr Eindringlichkeit, würde es szenisch ganz und gar abstrakt geboten.

«Die Zauberflöte» in Basel

 

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Ballett der Türme in der Basler «Zauberflöte» – Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Mit Mozart im Labyrinth

Eine neue Produktion der «Zauberflöte» im Theater Basel

 

Gut anderthalb Jahrzehnte ist es her, dass das Theater Basel zur Weihnachtszeit «Hänsel und Gretel» von Engelbert Humperdinck aufs Programm nahm – dies allerdings in einer Inszenierung von Nigel Lowery, die mit ihren frechen Akzentsetzungen für den festtäglichen Opernbesuch mit Kindern und Grosseltern nicht eben geeignet war. Ähnlich lässt sich von der neuen «Zauberflöte» denken, mit der das seit dieser Spielzeit von Andreas Beck geleitete Haus am Rheinknie jetzt aufwartet. In gewisser Weise, nämlich szenisch, ist es eine «Meta-Zauberflöte», die hier geboten wird. Wer die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts kennt und mit dem Labyrinth der Operngeschichte einigermassen vertraut ist, kann sich vielfach anregen lassen – auch zum Widerstand. Wer aber ganz einfach «Die Zauberflöte» kennenlernen möchte, wird sich vielleicht bald allein gelassen sehen.

Entdeckungen im Graben

Nicht im Musikalischen. Dort herrscht eine ganz eigene Nähe zur Partitur in Verbindung mit einem auf der Höhe der Zeit stehenden Blick auf den Notentext – das lässt die Musik Mozarts enorm gegenwärtig werden. Nicht dass das Sinfonieorchester Basel nun zu einem Originalklangensemble geworden wäre, aber die kleine Streicherbesetzung, der Verzicht auf das durchgehende Vibrato und der damit verbundene Zuwachs an Klangfarben sowie die hörbar differenzierte Artikulation lassen den Basler Klangkörper in einem überraschenden Licht erscheinen – einmal mehr erweist sich, dass die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis Allgemeingut geworden sind. Und welchen Zugewinn sie zutage fördern können, zeigt der Dirigent des Abends. Der 35-jährige Heidelberger Christoph Altstaedt, der sich unter anderem von Kurt Masur und bei der Lucerne Festival Academy von Pierre Boulez ins Metier einführen liess, animiert das Orchester zu einer derart packenden Auslegung, dass sich die Ohren im Saal spitzen und sich die Aufmerksamkeit auf den oft bloss beiläufig aufgenommenen Ton aus dem Graben zuwendet.

Von dort kommen auch wesentliche Impulse für die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, zum Beispiel in Sachen Tempo. Christoph Altstaedt ist da von einer bemerkenswerten Konsequenz. So wie er in der Ouvertüre das Langsame und das Schnelle in klarer, rationaler Beziehung zueinander hält, so scheint er die Zeitmasse insgesamt wie aus einem einzigen Kern heraus zu entwickeln. Jedenfalls hat es den Anschein, als ergebe sich in den musikalischen Verläufen das eine ganz organisch aus dem anderen – und das in einer Natürlichkeit der Diktion, die niemanden auf der Bühne bedrängt oder gar einzwängt: in der spritzigen Vitalität von Arnold Östman, aber ohne dessen Tempoexzesse, und in der sprechenden Expressivität von Nikolaus Harnoncourt, jedoch fern von dessen Zerdehnungen. So kann sich das grosse Ensemble, das Mozart hier verlangt, voll entfalten – und es ist so zusammengestellt, dass das zur Geltung kommt. Wenn man bedenkt, dass das Theater Basel ein Dreispartenhaus ist und zudem eines, das mit halb so viel Geld auskommen muss wie das Opernhaus Zürich, kann man dem Ergebnis des Abends (und dem Knowhow der Basler Operndirektorin Laura Berman) nur Respekt zollen.

Aufklärungsmechanik

Das alles gilt umso mehr, als den Darstellern auf der Bühne einiges an Flexibilität und Mobilität abverlangt wird. Bei der Bühnenbildnerin Mirella Weingarten (für die Kostüme zeichnet Susanne Scheerer verantwortlich) spielt «Die Zauberflöte» in einem leeren Raum, in dem sich eine Reihe spektakulär hoher, fahrbarer Holztürme tummelt. Bewegt werden sie von Mannen mit schweren Schuhen, filzigen braunen Hosen und nacktem Oberkörper – die Bühnentechniker sind hier nicht versteckt, sie bilden vielmehr sichtbarer Teil des Geschehens. Die damit erzielte Transparenz lässt sich ebenso als szenische Metapher für das Zeitalter der Aufklärung lesen wie die Türme, die von menschlichem Konstruktionswillen zeugen und mit raffinierter Mechanik versehen sind: mit riesigen Antriebsrädern, sanft fahrenden Liften und Treppenkonstruktionen à la Escher. Alles, was an «Die Zauberflöte» erinnert, ist da getilgt zugunsten einer abstrakten Bühnenwirkung – verständlich angesichts der Rezeptionsgeschichte des viel gespielten Werks. Die Schlange sind Seile, die sich aus dem Schnürboden heruntersenken, oder die miteinander verknoteten Zöpfe der drei Damen (Bryony Dwyer, Dara Savinova, Sofia Pavone), die Flöte erscheint, eine nicht ganz neue Idee, als ebenfalls an einem Seil herniederbaumelnder Neonstab, das Glockenspiel als ein blinkender Würfel. Während Monostatos weder als dunkelhäutiger Sänger noch als schwarz bemaltes Bleichgesicht auftritt, sondern als Untermensch, der auf seinem ebenfalls nackten Oberkörper ein schwarzes Skelett herzeigt – was Karl-Heinz Brandt nicht daran hindert, seine tenoralen Fähigkeiten auszubreiten.

Zur Sache selbst – zur Frage nämlich, was «Die Zauberflöte» genau meine – ist damit noch nicht viel gesagt, wie überhaupt mit dem Stück selbst wenig angefangen wird. Warum der edle Freimaurer Sarastro mit Monostatos so grausam umgeht, wird anders als in der Zürcher «Zauberflöte» von Tatjana Gürbaca nicht thematisiert – wichtiger sind der Regisseurin Julia Hölscher die Brechung der Erwartungshaltungen und das muntere, durchaus auch witzige Assoziieren. Darum trägt Sarastro – den Callum Thorpe mit einem grossartig strahlkräftigen, aber nicht von Schwere belasteten Bass gibt – einen edlen Frack, den aber mit so weit offenem Hemdkragen, dass man an Don Giovanni oder Ärgeres denkt. Einer der Holztürme ist zuoberst mit einem Propeller versehen, wie er als Mechanismus für die Rheintöchter auf Zeichnungen zu sehen ist, die für die erste Bayreuther Gesamtaufführung von Wagners «Ring» entstanden sind. Und die vornehme, zugleich aber arg degenerierte Gesellschaft um Sarastro umfasst auch sechs Nönneriche, die von ferne an Fellini erinnern (der von Henryk Polus betreute Chor zeigt sich diesmal in ausgezeichneter Verfassung).

Schritt ins neue Leben

Da darf durchaus nach Sinn und Zweck des einen oder anderen Einfalls gefragt werden. Zugleich aber gerät die Frage rasch wieder in den Hintergrund, da auf der Bühne selbst so viel fröhliches Leben herrscht. Julia Hölscher ist eben keine Opernspezialistin, sie arbeitet im Theater Basel als Hausregisseurin für das Musik- wie für das Sprechtheater – das gereicht der Inszenierung zum Vorteil. Liebevoll sind die einzelnen Figuren ausgeformt, zum Beispiel der sonst gern so blässliche Sprecher, dem Andrew Murphy mit vielsagendem Mienenspiel (und samtener Stimme) zu Profil verhilft. Szenisch konventioneller bleiben die musikalischen tragenden Partien. Sebastian Kohlhepp (Tamino) steigt bei der heiklen Bildnisarie ohne Mühe in die Höhe und vermeidet jeden kitschigen Schleifer, Anna Gillingham (Pamina) kommt mit ihrem Vibrato noch nicht wirklich zurecht, bringt aber ein attraktives Timbre ins Spiel – und dennoch bleiben beide merklich brav. Naturbübisch, wie es naheliegt, der Papageno von Thomas Tatzl, temperamentvoll die Papagena von Valentina Marghinotti. Während die von einer mächtigen Treppe aus dem Bühnenhintergrund herabsteigende Königin der Nacht bei Mari Moriya ausgezeichnet aufgehoben ist: Kantabilität und Agilität finden bei dieser Sängerin zu optimalem Ausgleich.

An einem einzigen Moment erlaubt sich die Produktion einen deutenden Ansatz. Die Prüfungsszene, die an diesem Abend eigenartig rasch vergeht, erscheint nicht wirklich als Ritual der Aufnahme in die Gesellschaft der wahren Menschen, sondern vielmehr als Abschied von einer alten Welt der Eltern und als Eintritt eines jungen Paars in ein neues, nämlich sein eigenes Leben. Etwas mehr davon hätte dem Abend nicht geschadet.

Neustart im Basler Musiktheater

 

Marfa ( Jordanka Milkova) und Andrei Chowansi (Rolf Romei) in der Basler «Chowanschtschina» / Bild Theater Basel, Simon Hallström

 

Peter Hagmann

Sing mir das Lied von Gewalt und Tod

Mussorgskys «Chowanschtschina» zur Saisoneröffnung in Basel

 

Was für ein Paukenschlag. Mit nichts Geringerem als Modest Mussorgskys «Chowanschtschina» als erster Opernpremiere hat Andreas Beck seine Intendanz in Basel eröffnet. Der Nachfolger Georges Delnons unterstrich damit, dass das Theater Basel auch in anhaltend schwieriger Finanzlage seinen Ruf als das bedeutendste Dreispartenhaus der Schweiz zu bewahren, ja zu mehren sucht. «Chowanschtschina» stellt in jeder Hinsicht besondere Anforderungen, und das hüben wie drüben: bei den Ausführenden wie im Publikum. Die schwierige Quellenlage des unvollendet zurückgelassenen Werks und seine schwer zu durchdringende Dramaturgie, die grosse Besetzung, die zudem nach Sängern russischer Tradition ruft, die Anforderungen an Chor und Orchester, nicht zuletzt die beträchtliche Spieldauer – wenn ein Haus das alles in Anstand bewältigt, darf man von Glück reden. Basel hat dieses Glück.

Machtpoker

Was heisst hier «Glück»? Die Szenerie, die der in Minsk geborene Bühnenbildner Zinovy Margolin und die aus dem damaligen Leningrad stammende Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili für die Basler Bühne erdacht haben, spricht von der schwer erträglichen Grausamkeit der Unterdrücker wie dem hoffnungslosen Ausgeliefertsein der Unterdrückten. Und das in aller Deutlichkeit. Wenn sich der Vorhang hebt, wird ein Bahnhof sichtbar, wie er irgendwo, am ehesten aber in den Weiten des sowjetischen Reichs stehen könnte. Auf einem der beiden Geleise zwischen den Perrons ein Güterwagen, in den von Uniformierten eine Leiche nach der anderen hineingeworfen wird – nicht ohne dass dabei noch die eine oder andere Wertsache eingesteckt wird. Die Strelitzen sind es, die gehätschelten Garden des Zaren, die da am Werk sind. Verängstigt beobachtet die in ihrer Verlorenheit stumpf gewordene Bevölkerung das herrisch willkürliche Gehabe der Oberen und erfährt dabei, wie rasch aus einem Oberen ein Unterer werden kann. In solcher Situation Rückgrat zu beweisen und sich selbst treu zu bleiben, kann ganz schön gefährlich werden.

Scharf fährt das unter die Haut. Denn mit untrüglichem Theatersinn arbeitet der 1983 in Moskau auf die Welt gekommene, hierzulande noch so gut wie unbekannte Regisseur Vasily Barkhatov die Momente knisternder Spannung heraus, die sich zwischen einzelnen Figuren ergeben. Im Zentrum steht dabei die stolze, in ihrer fanatischen Konsequenz schon fast wieder bewunderungswürdige Marfa, die Jordanka Milkova mit hinreissender Bühnenpräsenz und einem grossartig warmen Alt zur Protagonistin des Abends werden lässt. Dass diese Frau nicht anders kann, als ihrer Umgebung die Stirn zu bieten, wird an jedem ihrer Schritte ersichtlich. Und dass sie ihre Rivalin Emma, das junge Mädchen aus der deutschen Vorstadt (Betsy Horne), kaltblütig mit einem Kissen erstickt, lässt sich als unterstreichende Zutat des Regisseurs hinnehmen.

Den Kontrast zu dieser Frauenfigur bilden Männer, die eben Männer sind. Mit donnerndem Bass zeichnet Vladimir Matorin einen zwischen Herrschsucht und Depression schwankenden Chowanski; dass der Anführer der Strelitzen nicht umgebracht wird, wie es das von Mussorgsky eigenhändig geschriebene Textbuch vorgibt, sondern selber Hand an sich legt, wirkt in dieser Auslegung der Rolle durchaus stimmig. Um die Zentralfigur, die der Oper den Titel gegeben hat, kreisen die Widersacher. Besonders eindringlich im zweiten Akt, wo Chowanski auf den in der Gunst der Zarin stehenden, nach Westen orientierten, zugleich jedoch naiv abergläubischen Intellektuellen Golizyn und den undurchsichtigen Geistlichen Dossifei stösst; sowohl Dmitry Golovnin als auch Dmitry Ulyanov zeigen hier, was russischer Kraftgesang vermag. Während Schaklowity, der Dritte im Bunde der Widersacher Chowanskis, gerade deshalb so gefährlich wirkt, weil Pavel Yankovsky bedrohlich leise singt (und das hoffentlich auch tut, wenn die an der Premiere verkündete Indisposition verklungen ist).

Choroper

Ebenso sehr wie spannendes Drama ist «Chowanschtschina» aber eine Choroper – was in der Basler Produktion als Chance wie als Gefahr erscheint. So genau Vasily Barkhatov die Schlüsselszenen dieses in einem poststalinistischen (oder heutigen?) Russland angesiedelten Geschehens zeichnet, so virtuos hält er den Chor in Bewegung. Gerade nicht choreographisch, sondern ganz natürlich wogen hier die Massen. Dass einem dabei dennoch die Zeit etwas lang wird, hängt damit zusammen, dass der von Henryk Polus vorbereitete Chor trotz markanter Aufstockung nicht die Klangkraft erreicht, die hier vonnöten wäre. Die Frauenstimmen sind durch ihr Vibrato beeinträchtigt und vermögen den an sich glanzvollen Männerstimmen nicht wirklich die Stange zu halten. Untadelig dagegen das Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits die Instrumentierung von Dmitri Schostakowitsch zu kerniger Differenzierung bringt und im nachkomponierten Finale von Igor Strawinsky Grösse wie Zerbrechlichkeit zeigt.

Manches war schon möglich am Basler Haus, wenn man etwa an die Produktion von Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» aus dem Jahre 1998 denkt. Mit dieser «Chowanschtschina» ist nun aber doch ein bedeutender Schritt getan. Dass der neue Basler Intendant Andreas Beck fürs Ende seiner ersten Spielzeit «Donnnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen ankündigt, erstaunt da nicht weiter.

Musik in St. Gallen – «Eugen Onegin» im Theater

 

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Generationenfolge und Sittenbild: Elena Dobračeva als Tatjana / Bild Daniel Ammann, Theater St. Gallen

 

Peter Hagmann

Am Rand, aber sehr eigenwillig

Peter Tschaikowskys Oper «Eugen Onegin» im Theater St. Gallen

Von der Musik in St. Gallen wird zu wenig gesprochen. Dabei gibt es in dieser knapp 75’000 Einwohner zählenden Stadt eine wunderbare Jugendstil-Tonhalle und ein Orchester, das immer wieder durch attraktive Aufführungen auf sich aufmerksam macht. Und überdies ein Theater, das zwar zu den kleineren Einrichtungen auf dem grossen Marktplatz der Oper zählt, das sich aber immer wieder zu Leistungen aufschwingt, die überraschen, ja staunen lassen. So war es im Frühjahr 2013, als «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss herauskam. Die Unternehmung forderte dem Institut letzte Ressourcen ab, doch der Niederländer Otto Tausk, seit 2012 Chefdirigent von Sinfonieorchester und Theater St. Gallen, sorgte für eine sehr überzeugende musikalische Auslegung, während der Regisseur Aron Stiehl eine witzig gebrochene Inszenierung vorlegte. Das Haus nahm die Herausforderung eindrücklich an, und so führte diese Produktion zu einem nachhaltigen Erfolg.

Mit «Eugen Onegin» von Peter Tschaikowsky scheint sich das zu wiederholen. Gewiss, unter der etwas wenig inspirierten Leitung des Ersten Kapellmeisters Attilio Tomasello, der in der besuchten Vorstellung an die Stelle von Otto Tausk getreten war, kam das Sinfonieorchester St. Gallen nicht auf das Niveau, das es mit seinem Chefdirigenten zu erreichen vermag; technische Mängel und Unsauberkeiten im Klangbild sprachen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Überhaupt liess die Balance an entscheidenden Stellen zu wünschen übrig, was besonders zu Lasten der wichtigen Ensembles ging; im ersten Quartett zum Beispiel sangen die vier Frauen geradezu gegeneinander an, weshalb weder Linien noch Harmonien verständlich wurden. Jenseits dessen war das junge Ensemble auf der Bühne in seiner Weise aber erstklassig besetzt – und ging förmlich auf in der ausgezeichnet durchdachten, wirksam ausgeführten Inszenierung von Lydia Steier.

Fragile Idylle, rohe Verkommenheit

Die ebenfalls noch junge Amerikanerin, die in der Schweiz von Bern aus bekannt geworden ist und in dieser Saison für das Theater Basel nicht weniger als «Donnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen in Szene setzen wird, entwickelt ihre Deutung aus dem brüsken Wechsel des Schauplatzes, mit dem «Eugen Onegin» zwischen dem zweiten und dem dritten Akt aufwartet. Von der Abgeschiedenheit der Provinz geht es nach der Pause in einen pompösen Adelspalast nach St. Petersburg. Da ist zunächst das herausgeputzte Häuschen, das sich um sich selber dreht und dabei sehen lässt, dass es nur aus einer Fassade besteht – so wie die ländliche Idylle, die durch den bewaldeten Horizont und die farbenfrohen Trachten angedeutet wird, einen grausam doppelten Boden erkennen lässt.

Festgefügt und ohne Möglichkeit des Entrinnens ist hier die Ordnung – so festgefügt wie bei den Matroschka-Puppen auf der Bühne, bei denen die nächst kleinere haarscharf ins Innere der vorhergehenden grösseren passt. Olga, die etwas forsch intonierende Susanne Gritschneder, macht sich wenig daraus; sie hat sich längst ihren Freiraum geschaffen, indem sie das lebensfrohe, wenn nicht gar hedonistische Mädchen gibt, das keine Gelegenheit zu einem Flirt auslässt. Tatjana aber – Elena Dobračeva verwirklicht das ausdrucksstark, wenn auch mit etwas viel Vibrato – hat sich zurückgezogen. Als Einzige ist sie nicht blond, sondern schwarzhaarig, trägt sie die Brille der Intellektuellen, vertieft sie sich sinnend und träumend in ihre Bücher und fällt sie als schwarzes Schaf immer wieder buchstäblich aus dem (Bühnen-)Rahmen. Die Begegnung mit Onegin löst bei Tatjana einen gewaltigen Ruck aus; sie schneidet sich die traditionellen Zöpfe ab, kommt dann aber fürchterlich auf die Welt.

Nach der Pause der Wechsel nicht in einen feudalen Salon, sondern in einen von Glas und Chrom beherrschten Festsaal, in dem sich eine verkommene Gesellschaft Koks reichen und (halb-)nacktes Fleisch vorführen lässt. Auch hier eine Scheinwelt, jene des Turbo-Kapitalismus russischer Bauart, in der nichts zählt ausser Geld, Sex und Hackordnung. Und auch hier ist Tatjana eine Aussenseiterin: eine aufrecht für ihre Werte einstehende Fürstin – grossartig wie Elena Dobračeva das herausarbeitet. Dabei schafft der zugespitzte und gerade darum wieder artifizielle Naturalismus von Susanne Gschwender (Bühne) und Anna Eiermann (Kostüme) eine fast grelle Umgebung, während die klaren Profile, mit denen Lydia Steier die Figuren versieht, für Belebung durch packendes Geschehen sorgt. Wobei die Bezüge zur Jetztzeit nicht ausgespart werden.

Dramaturgisches Netzwerk

Mit messerscharfer Konsequenz wird in dieser Inszenierung das eine aus dem anderen entwickelt, und phantasievoll wird die Geschichte weitergedacht, so dass sich nach und nach ein dichtes Netz an dramaturgischen Bezügen entwickelt. Wenn Tatjana nach ihrem Herzenserguss – die Briefarie gelingt vorzüglich – und der schroffen Ablehnung durch Onegin zu dem wohl bestallten Gremin zieht, nimmt sie gleich ihre ganze Sippe mit. So begegnet man im dritten Akt mancher Figur von früher. Und so bekommt auch eine kleinere Rolle wie die der Gutsherrin Larina, die Terhi Kaarina Lampi mit warmer Tiefe und prägnan-tem stummem Spiel gibt, neues Gewicht.

Bei Gremin, dessen Autorität sich im kernigen Timbre von Levente Páll blendend spiegelt, ist Larina allerdings nicht nur Schwieger-, sondern auch Grossmutter. Denn anders als bei Tschaikowsky hat Tatjana in der so unnachgiebig auf Plausibilität zielenden St. Galler Produktion eine kleine Tochter (mit entsprechender kleiner Brille). Sie ist es, die durch den Wunsch nach einem Gutenachtkuss ihre Mutter vor dem Ausstieg aus der neuen Existenz bewahrt. Fast käme es dazu, kann Nikolay Borchev als Onegin doch auf zugkräftige stimmliche Mittel setzen. Eher lyrisch veranlagt, gleicht er stimmlich dem berührend in sich gekehrten Lenski von Roman Payer – doch wie sich Onegin an Olga heranmacht, die sich doch eben erst Lenski versprochen hat, explodiert zwischen den beiden Männern ein Konflikt von unglaublicher Energie. Der auch durch Alkohol herbeigeführte Konkurrenzkampf resultiert in dem fatalen, hier letzlich durch eine defekte Waffe zu Onegins Gunsten entschiedenen Duell.

Was die Regisseurin im Moment des Hahnenkampfs aus den beiden Darstellern herausholt, spricht für ihre Begabung; die Figuren, die das Geschehen voranbringen, erhalten unerhört plastische Züge. Und zugleich ist ihr Handeln in jedem Augenblick nachvollziehbar, weil es durch kleine, aber effiziente szeni-sche Massnahmen seine Logik erhält. Das wäre, um den längst zu den Akten gelegten Kampfbegriff zu bemühen, Regietheater vom Feinsten: ganz nah am Text und äusserst geistreich interpretierend.

Opernhaus Zürich – «Wozzeck» mit Gerhaher

 

Alptraum in der Kaserne: Bergs «Wozzeck» im Opernhaus Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Struktur und Emotion

Alban Bergs Oper «Wozzeck» in Zürich

 

Zwei Ärzte sind da am Werk. Der eine ist ein richtiger, wenn auch seine diesbezüglichen Verrichtungen weit in der Vergangenheit liegen. Der andere ist ein gespielter – und ein Monster erster Güte. Mit äusserstem Zynismus lässt er seinen Diagnosen die mutmasslichen Perspektiven folgen, eiskalt führt er seine Experimente mit der Bohnendiät durch. Dabei agiert Lars Woldt mit einem warm grundierten, zugleich aber ausnehmend voluminösen, unerhört schwarzen Bass. Und die Verfärbungen einzelner Vokale, die in anderem Kontext wenig schicklich erschienen, versehen diesen auch schwarz gewandeten, durch einen hohen Zylinder zu einem Zauberer gemachten Doktor mit besonders bedrohlichen Zügen.

Das Opfer des so messerscharf gespielten Arztes ist nun aber der richtige Arzt, nämlich Christian Gerhaher, der nicht nur ein Medizinstudium abgeschlossen, sondern auch Singen gelernt hat. Wie man weiss. Und wie man hört an diesem Abend mit «Wozzeck», der Oper von Alban Berg, mit der das Opernhaus Zürich seine neue Saison eröffnet hat. Von Haus aus eher kammermusikalisch ausgerichtet, nämlich ein packender Interpret von Liedern, ist Gerhaher in der Titelpartie von Bergs Oper genau am richtigen Ort. Mit seinem lyrischen Bariton zeigt er die Fragilität, ja die Verwundbarkeit der Titelfigur von Bergs Oper nach Georg Büchner; wann ist der Moment, da Wozzeck seiner Geliebten Marie die Alimente überbringt, so zärtlich und so liebevoll zu hören? Zugleich gibt es bei Gerhaher aber durchaus die für diese heikle Partie erforderlichen Reserven. Auch gegenüber dem mächtig aufspielenden Orchester vermag er sich zu behaupten – wenn auch nicht ohne Not: Gerade weil es an die Grenzen geht, zum Beispiel dort, wo Wozzeck seinen Gott anruft, erhält das Fortissimo bei diesem Sänger durchaus existentielle Dimension.

Räderwerk der Unmenschlichkeit

Wozzeck wird ja in der Tat an die Grenzen getrieben, bis hin zum Kapitalverbrechen. Im Affekt wird er zum Mörder seiner Geliebten und macht er sein mit ihr gezeugtes Kind zum Waisen. Mit scharfem Blick für die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit und ausgeprägter Empathie zeigt Büchner indessen den Täter als Opfer, und entschieden folgt Berg seinem Textdichter. So verfolgt denn der Zürcher Opernintendant Andreas Homoki als Regisseur des Abends diese Spur mit allem Recht weiter. Er führt die Umgebung Wozzecks als eine Versammlung von Unmenschen vor – und dies mit dem Mittel der Verzerrung in die Groteske, wie er es im Frühjahr 2013 bei Dmitri Schostakowitschs Oper «Lady Macbeth von Mzensk» getan hat. In der Verkörperung von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke wird der Hauptmann zum Inbegriff eines larmoyanten Moralapostels, während Brandon Jovanovich den Tambourmajor als eine auf den Phallus reduzierte Mannsperson gibt. Ebenfalls voller menschlicher Schwäche ist die triebgesteuerte Marie von Gun-Brit Barkmin.

Sie alle, erst recht aber der Andres von Mauro Peter und die Margret von Irène Friedli, erscheinen als Teile eines unbarmherzigen Räderwerks – und das nicht nur dank der ausgefeilten Personenzeichnung, nicht nur dank der zugespitzten Kostüme, sondern vor allem im Bühnenbild, das der Ausstatter Michael Levine konzipiert hat und das Franck Evin mit spezieller Lichtwirkung versieht. In grellem Senfgelb bemalt, fügen sich sechs aus rohem Holz gefertigte, immer kleiner werdende Bilderrahmen ineinander und hintereinander. Tiefe gibt es hier so gut wie keine, es herrscht die Bedrängnis enger Gassen, in denen es für den hin- und herhetzenden Wozzeck keine andere Möglichkeit gibt als den Zusammenstoss mit den gefürchteten Gegenspielern gibt. Das ist nicht nur von stupender Bildwirkung, gerade etwa in der Kaserne, wo der von Jürg Hämmerli vorbereitete Männerchor in stilisierter Choreographie seine Kissen zeigt. Es ist vor allem eine äusserst starke szenische Metapher für die Unentrinnbarkeit der Hackordnung und des Normendrucks, die hier angeprangert werden. Kein Zufall, trägt Wozzeck eine Art Gefängniskleidung.

Kraftvolle Kammermusik

Zugleich spiegeln diese Bilderrahmen, die jeden sozialkitschigen Naturalismus verunmöglichen, in hohem Mass die musikalische Anlage. Denn so sehr Bergs atonale Musik fliesst, so sehr sie in ihrer warmen Anteilnahme Identifikation ermöglicht, so sehr ist sie vom Komponisten in strenge Konstruktion gefasst. Es sind Formen der Instrumentalmusik, die da herrschen: die Suite mit ihren Tanzschritten, die Passacaglia mit ihren Variationen über einen immer gleichen Bass, der Sonatensatz mit Exposition, Durchführung und Reprise. Sie sorgen für ein musikalisches Eigenleben, um nicht zu sagen: für eine vom szenischen Geschehen abgelöste Abstraktion. Sie geben ausserdem den Rahmen ab für die überquellende musikalische Phantasie. Und sie deuten schliesslich an, dass dem Instrumentalen in dieser Oper besondere Bedeutung zukommt. Tatsächlich hat das Orchester hier seinen ganz eigenen Anteil an der Geschichte.

Dass das so deutlich und so überzeugend zu hören ist, dafür sorgen die Philharmonia Zürich im Graben und am Pult der Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi. Sehr präsent ist das Instrumentale, vielfarbig, auf den Fundamenten kräftiger Basswirkung ruhend. Und laut, wo es laut sein soll, aber nirgends zu laut, vielmehr sorgsam ausgeleuchtet und reichhaltig gestaffelt. Luisi geht die Musik Bergs eben weniger vom Klanglichen her an, was sie aufs erste Hören hin nahelegt, sondern von der Lineatur her – kontrapunktisch und kammermusikalisch, wie die Schönberg-Schule gedacht hat. So wie auf der Bühne Bergs Oper ihre expressionistischen Wurzeln sichtbar macht, wird «Wozzeck» im musikalischen Eindruck zu einem auch heute noch ganz und gar modernen Stück.

Jeder für sich: Marie (Grun-Brit Barkmin) und Wozzeck (Christian Gerhaher) in ihren Gassen / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich