Festival Alte Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Neue Alte Musik

«Trauer und Trost» – in Klängen aus dem 16. Jahrhundert

 

Vor Mozart, vor Bach, selbst vor Monteverdi gab es schon kunstvoll gemachte Musik: alte Musik eben oder, wenn man will, Alte Musik (wobei ja schon Bach zur alten Musik gerechnet wird). Seit dem zweiten Aufbruch, an dessen Dynamik Nikolaus Harnoncourt entscheidenden Anteil hatte, also seit ungefähr 1950, hat sich diese alte Musik ein ungeheuer weites Feld geschaffen. Von den pionierhaften Anfängen, die an den schmalen Fluss kurz nach der Quelle erinnern, ist sie zu einem breiten Strom geworden; sie hat sich ihren eigenen Markt geschaffen mit spezialisierten Interpreten, CD-Labels, Festivals und, nicht zuletzt, einem gewaltig gewachsenen Publikum. Jedenfalls ausserhalb der musikalischen Weltstadt Zürich.

In der Stadt Zwinglis stösst alte Musik auf vergleichsweise geringe Beachtung. Während in den Anlässen der «Resonanzen», des gut einwöchigen Festivals im Wiener Konzerthaus, die Säle zum Bersten voll sind und die Interpreten so gefeiert werden wie andernorts die Pavarottis und die Domingos, findet sich zu den Konzerten des Forums Alte Musik Zürich ein seinerseits spezialisiertes, spürbar engagiertes, aber zahlenmässig ernüchternd kleines Publikum ein – ganz ähnlich wie dort, wo die Tonkunst unserer Tage im Zentrum steht. Es geht halt nichts über den guten Brahms. Und was man nicht kennt, mag man eben nicht.

Phantasievolle Programme für Spitzeninterpreten

Das ist nun allerdings ein Fehler. Denn was das von der Stadt und einer Reihe weiterer Institutionen unterstützte Forum Alte Musik Zürich unter der Leitung der Musikerin Martina Joos und des emeritierten Musikredaktors Roland Wächter realisiert, braucht keine Vergleiche zu scheuen. Seit 2002 gibt es bei der 1995 gegründeten Konzertreihe jedes Jahr ein Festival zu einem Thema aus dem Bereich der alten Musik, seit 2007 sind es sogar deren zwei. Sie erstrecken sich jeweils über zwei Wochenenden und bieten Veranstaltungen verschiedenster Art – vom wissenschaftlichen Symposion bis zum Apéro-Konzert. Und das an den unterschiedlichsten Orten: Im Frühjahr 2014 etwa gab es eine musikalische Stadtwanderung, die im Hotel Hirschen, im Zentrum Karl der Grosse, im Zunfthaus zur Waag und im Lavatersaal nächst St. Peter vier Stationen aus der älteren Musikgeschichte Zürichs veranschaulichte. Die Kirche St. Peter mit ihrem herrlichen, stuckverzierten Innenraum bildet in dieser Reihe der Lokalitäten gewiss einen Höhepunkt.

Ausserdem empfangen die Örtlichkeiten immer wieder hochkarätige Interpreten. Die Camerata Köln oder die Akademie für Alte Musik Berlin waren ebenso zu Gast wie Kristian Bezuidenhout am Fortepiano, der Geiger Daniel Sepec oder Hille Perl mit ihrer Gambenkunst – beim Forum Alte Musik Zürich bekommt man zu hören, wer in diesem inzwischen ganz eigenen Segment der Kunstmusik das Sagen hat. Nicht zuletzt geschieht das in anregend gebauten Programmen. Die Themen sind da nicht einfach Aufputz, sie bilden vielmehr den Kern, von dem das Gebotene ausgeht. Im Frühjahr 2015 gab es zum Beispiel eine veritable Karwoche, davor war der ansonsten wenig bemerkte 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach begangen worden, hatte eine Ausgabe auf alte Musik jenseits der bekannten Zentren aufmerksam gemacht oder war die Rede von Himmelsmusik und Höllenlärm.

König Davids Reue

Die Frühlingsausgabe dieses Jahres nun – die am kommenden Sonntag mit einer Aufführung von Bachs h-moll-Messe mit den Kräften der St. Galler Bachstiftung unter der Leitung von Rudolf Lutz endet – stellte ein Meisterwerk aus dem 16. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Orlando di Lasso, 1530 oder 1532 geboren, 1594 gestorben, war einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit: als Komponist und Kapellmeister am Hof des Herzogs Albrecht V. in München engagiert, aber weit über Bayern hinaus verehrt. Im Auftrag seines Dienstherrn komponierte er in den Jahren 1584 bis 1586 Motetten über die «Psalmi Davidis poenitentiales», die sieben zerknirschten, aber auch tröstlichen Busspsalmen Davids, die in zwei grosse, mit äusserster Pracht illuminierte Handschriften gebracht wurden. Und das ist nun das Spezialgebiet des Zürcher Musikhistorikers Andreas Wernli, der diese Handschriften präsentierte. Danach wurden die sieben Psalmen integral vorgetragen – nicht nur eine Rarität, sondern auch ein Grossunternehmen.

Der Anspruch ist hoch – an die Sängerinnen und Sänger wie an die Zuhörerschaft. Es handelt sich hier um a-cappella-Gesänge, um Musik ohne Instrumentalbegleitung, über lateinische Texte, und das in einem Stil, der in der Zeit vor dem Aufkommen der harmonischen Tonalität wurzelt, heutzutage also geradezu modern anmutet. Da muss man die Ohren spitzen. Und sich mit Geduld einlassen: Immer besser erschien im Verlauf der Darbietung jedenfalls die Verständlichkeit, immer mehr liessen sich – auch anhand der an die Wand projizierten Übersetzungen ins Deutsche – die Reaktionen der Musik auf die Inhalte der Texte erkennen, immer lebendiger wurde einem das musikalische Geschehen insgesamt. Ein musikalisches Geschehen, das aufs erste Hören hin einfach wirkt und seine kunstvolle Faktur erst bei näherem Hinhören offenbart.

Vokale und instrumentale Kunst

Dazwischen gestreut war Instrumentalmusik aus dem Umfeld der Busspsalmen. Zum Beispiel ein stupendes Ricercar zu vier Stimmen über die Tonfolge c-d-e-f-g-a und zurück von Hans Leo Hassler, das Polyphonie vom Feinsten bietet. Das Cellini Consort mit den vier Gambisten Brian Franklin, Thomas Goetschel, Tore Eketorp und Leonardo Bortolotto brachte den näselnden, ziehenden Ton seiner Instrumente zu blendender Wirkung. Für die Busspsalmen Lassos war das von Stephen Smith geleitete Ensemble Corund gerufen worden, eine hochstehende professionelle Vokalgruppe aus Luzern, die ihre Aufgabe ausgezeichnet meisterte und auch plötzlich auftretende Klippen gewandt zu umschiffen wusste. Ob Tempo und Dynamik tatsächlich so gleichförmig bleiben müssen, wie es der Dirigent wollte, bleibe dahingestellt; und wenn ein Wunsch offen wäre, dann der, dass die Anfänge gleich auf Anhieb so strahlend klängen wie das, was danach folgt. Dessen ungeachtet geriet dieser Auftritt zu St. Peter zu einem grossen Moment.

Das nächste Festival ist bereits in Sicht. «Mittelalter» nennt es sich, ganz lapidar. Und es präsentiert fünf musikalische Biographien; angekündigt sind Hildegard von Bingen, Francesco Landini, Eleonor von Aquitanien, Guillaume de Machaut und Oswald von Wolkenstein. An Entdeckungen wird es in einem halben Jahr nicht fehlen.

Kammermusik ist in

 

Peter Hagmann

Regel mit Ausnahme

Konzerte und mehr bei der Gesellschaft für Kammermusik Basel

 

Altehrwürdig ist sie, die Gesellschaft für Kammermusik Basel, bald neunzig Jahre alt. Der Altersdurchschnitt im Publikum ist es ebenfalls (und er wurde durch den Besuch aus Zürich nicht eben angehoben). Nun gilt Kammermusik, das Streichquartett zumal, als etwas für ältere Menschen. Ist das schlimm? Oder anders gefragt: Muss es so sein? Läuft da nicht vielleicht etwas ungut in der Veranstaltung und Promotion dieser doch so fabelhaften Konzerte?

Im Grunde genommen erleben wir nämlich eine hohe Zeit der Kammermusik. Wenn in der Tonhalle Zürich Julia Fischer und Igor Levit die Violinsonaten Beethovens an drei Abenden en suite vortragen, ist der Saal rappelvoll. Natürlich, Julia Fischer ist ein Jungstar unter den Geigerinnen unserer Tage, und Igor Levit wird zu Recht als äusserst vielversprechender Geheimtip gehandelt. Aber auch unterhalb der Stratosphäre sind Leben und Bewegung auszumachen. Nicht zu übersehen ist, dass es heute, da so viele hervorragende junge Musiker von den Ausbildungsstätten abgehen, da es auf dem Markt aber an Beschäftigungsmöglichkeiten fehlt, eine grosse Zahl junger kammermusikalischer Ensembles gibt, die zum Teil mit fabelhaften Darbietungen aufwarten. Eben erst hörte ich im LAC, dem neuen Kulturzentrum in Lugano, das Cuarteto Casals, das unter nicht eben einfachen Raumverhältnissen seinen einzigartigen Standard vorführte – übrigens vor einem ausgesprochen jungen Publikum. Und auf dem Tisch liegt eine neue CD des London Haydn Quartet, das die Musik seines Namenspatrons im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis zum Klingen bringt, also zum Beispiel auf Instrumenten mit reinen Darmsaiten und mit den entsprechenden Bögen.

Nun muss derlei bei der Gesellschaft für Kammermusik Basel nicht vorgetragen werden. Mit dem Geiger und Musik-Manager Laurentius Bonitz ist dort ein Profi erster Güte am Werk. Seit er 2010 die künstlerische Leitung der beiden Kammermusikreihen mit insgesamt zwölf Konzerten im Hans-Huber-Saal des Basler Stadtcasinos übernommen hat, manifestieren sich Veränderungen – die im Kreis der potentiellen Interessenten jedoch noch nicht ausreichend bekannt scheinen. Die Grundprinzipien der Programmgestaltung sind dieselben geblieben; die Schwerpunkte liegen beim Streichquartett, beim Klaviertrio und beim Liederabend. Aber inzwischen werden deutliche inhaltliche Akzente gesetzt: Kontext heisst der Leitbegriff. Darum gibt es noch bis Ende dieser Saison ein hochinteressantes Projekt, in dessen Rahmen Kolja Blacher (Violine), Clemens Hagen (Violoncello) und Kirill Gerstein (Klavier) das kammermusikalische Schaffen Beethovens im Bereich von Duo und Trio in chronologischem Ablauf präsentieren und so stilistische Entwicklungszüge erkennen lassen.

Auch die neue Musik hat ihren Ort in diesen kammermusikalischen Veranstaltungen Basels. Vergangene Saison wurde mit dem achten Streichquartett von Georg Friedrich Haas ein ebenso vielschichtiges wie fassliches Werk aus unserer Zeit vorgestellt. Und dieser Saison erhielt der von Zürich aus wirkende Cellist und Komponist Alfred Zimmerlin das Wort. Er hat sein viertes Streichquartett im Auftrag der Gesellschaft für Kammermusik Basel komponiert; und zur Uraufführung gebracht wurde es im Rahmen einer Hommage für den seit langem in Basel lebenden Berner Jürg Wyttenbach vom Arditti Quartet – auch nicht übel. Ebenso wenig fehlt es an Auftritten jüngerer Ensembles. Zudem vergibt die Gesellschaft für Kammermusik in Zusammenarbeit mit der August Pickhardt-Stiftung einen Förderpreis für junge Ensembles, mit dem das Gagliano-Trio aus Zürich ausgezeichnet worden ist, weshalb es in dieser Spielzeit seinen Abend bekam. Eben erst ist dem Pacific Quartet Vienna ein weiteres junges Streichquartett ausgezeichnet worden; es wird sich in der kommenden Spielzeit in Basel vorstellen.

Sehr erweitert worden ist die multimediale Präsenz der Konzertreihe. Auf dem Netz verfügbar ist zum Beispiel eine handliche Datenbank, in der die Konzerte der Gesellschaft für Kammermusik Basel verzeichnet sind und in der sich nach Komponisten wie Interpreten recherchieren lässt. Da kommt denn auch die reiche Geschichte dieses Vereins ans Licht: die Präsenz des Busch-Quartetts mit dem Pianisten Rudolf Serkin vor dem Zweiten Weltkrieg, das Wirken des Végh-Quartetts ab 1950, die Debüts des LaSalle Quartet oder des Alban-Berg-Quartetts – bis hin zur Uraufführung des vierten Streichquartetts von Brian Ferneyhough durch das Arditti Quartet im Herbst 1990. Dazu kommt nun aber die CD-Reihe, die Laurentius Bonitz unter dem Kürzel «bnm medien» (Bonitz Music Network) führt. Sie enthält Mitschnitte der Konzerte im Basler Stadtcasino – aber nicht nur. So lässt sich nachhören, wie das sensationelle amerikanische Jack Quartet das neuen Streichquartett von Haas aus der Taufe gehoben hat, lässt sich der Auftritt des jungen Galathea-Quartetts mit Werken von Brahms und Rudolf Kelterborn nachvollziehen, gibt es aber auch Quartette der Zweiten Wiener Schule mit den Ardittis und, für das zweite Streichquartett Arnold Schönbergs, der Sopranistin Franziska Hirzel. Bei all diesen Produktionen besteht die Besonderheit darin, dass die Musik sowohl ab Compact Disc als auch, und dann in verbesserter Audio-Qualität, ab Blu Ray Disc zu hören ist. Da ist die altehrwürdige Gesellschaft für Kammermusik ganz auf der Höhe der Zeit.

Dann aber ein Abend wie der jüngste. Ein exquisites Programm mit lauter Raritäten: mit einem Doppelquartett von Louis Spohr – einem Stück, in dem sich zwei Streichquartette gegenübersitzen –, mit den «Metamorphosen» von Richard Strauss in einer frühen Fassung für sieben Streicher und dem Streichoktett von Max Bruch, dem letzten Werk dieses eigenartigen Spätlings. Das stellte einen anregenden Abend mit romantischen Köstlichkeiten in Aussicht. Genau das hätte es werden können, hätten sich die Herren des Berliner Athenäum-Quartetts (Laurentius Dinca, Stephan Schulze, Walter Küssner, Christoph Igelbrink) und des Beethoven-Quartetts Basel (Mátyás Bartha, Laurentius Bonitz, Vahagn Aristakesyan, Carlos Conrad) sowie der Kontrabassist Botond Kostyak eine Stunde privater Vorbereitung und eine Probe mehr geleistet. Dann wäre vielleicht das technische wie gestalterische Niveau erreicht worden, das in diesen Konzerten gewöhnlich herrscht. Ausnahmen kann es geben; sie bestätigen bekanntlich die Regel.

Schweizer Orchester – nebenan

 

Peter Hagmann

Pralles Leben, gute Stimmung

In Konzertsälen von Luzern, Bern und St. Gallen

 

Und? Welches unter den Schweizer Orchestern ist nun das beste? Genau darum geht es hier nicht. Rankings sind ein merkantiles Instrument, kein künstlerisches. Auch das beste Orchester der Welt, es bleibe offen, um welches es sich handle, kann sehr gewöhnlich klingen. Und im Gegenzug kann ein als mittelmässig eingestufter Klangkörper, woher er auch stamme, zu allerprächtigsten Ergebnissen kommen. Wichtiger als die Position in der fragwürdigen Rangliste ist die Vielfalt – die allen Unkenrufen zum Trotz nach wie vor besteht.

Im internationalen Umfeld ohnehin, aber auch und gerade in der Schweiz mit ihrer dezentralen, föderalistischen Struktur. Hier gibt es in nächster Nachbarschaft nebeneinander Orchester, die allesamt ihr Profil, ihre Identität, ihre Lebendigkeit haben. Und natürlich auch ihre Probleme, versteht sich. Winterthur zum Beispiel leistet sich sein eigenes Orchester, obwohl die Stadt nur gut zwanzig Kilometer von Zürich mit seinem Tonhalle-Orchester entfernt ist. Aber das Musikkollegium Winterthur ist ausgezeichnet verankert in seiner Stadt, und wenn mit Thomas Zehetmair demnächst ein interessanter Chefdirigent ans Pult tritt, könnte es künstlerisch wieder schärfere Kontur finden.

Ein Busoni-Schwerpunkt

Was mit einem Orchester geschehen kann, wenn die Chemie stimmt, zeigt das Beispiel Luzern. Die Eröffnung des KKL mit seinem so besonderen Konzertsaal und das Wirken von Jonathan Nott als Chefdirigent hat das Luzerner Sinfonieorchester in raschen Schritten an einen anderen Ort gebracht. Inzwischen, und dies seit Anfang 2010, ist der 1979 geborene New Yorker James Gaffigan als Chefdirigent tätig, was eine glückliche Fügung darstellt; er hat den von Jonathan Nott ausgelegten Faden aufgenommen und die Formation erfreulich weitergebracht. Dazu kommt mit Numa Bischof, der dem Orchester seit 2004 als Intendant verbunden ist, ein Intendant, der bei weitem nicht nur den Alltag regelt. Dank geschickter Akquisition privater Mittel konnte er den Bestand des Orchesters auf rund siebzig Musiker erhöhen. Selber Musiker, betreut er auch aktiv, ideenreich und mit Sinn für dramaturgische Zusammenhänge die Programmgestaltung. So bleibt Luzern auch ausserhalb des Lucerne Festival musikalisch hochattraktiv.

Eben erst hat es sich wieder bestätigt. Auf dem Programm der jüngsten Konzertserie – die Abende des Luzerner Sinfonieorchesters in dem mit 1800 Plätzen versehenen Konzertsaal des KKL werden zwei Mal bei guter Besetzung durchgeführt – stand nichts Geringeres als das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni. Dies im Rahmen eines Busoni-Schwerpunkts, der das so gut wie vergessene Schaffen des grossen Pianisten, Komponisten und Musiktheoretikers an der Wende zwischen Spätromantik und Moderne neu ins Licht rückt. Wer einmal im Leben Busonis Klavierkonzert live hören konnte, darf sich glücklich schätzen, denn kaum jemand wagt sich an dieses monumentale, fünf Viertelstunden dauernde Werk, in dessen fünftem und letztem Satz gar ein Männerchor dazutritt. Und dessen Klavierpart mit schrecklichsten Schwierigkeiten aufwartet, dabei aber über weite Strecken ganz in den Orchesterklang eingebunden ist.

Gerade das, die obligate Anlage der Solostimme, ist in Luzern mit Gewinn unterlaufen worden. Dies mit Unterstützung von Kun Woo Paik, des bald siebzigjährigen Pianisten aus Seoul, der sich en Klippen entspannt näherte und ebenso energisch wie geschmackvoll auf seine Rolle als Solist pochte. James Gaffigan liess das zu, den das Luzerner Sinfonieorchester hatte noch ausreichend Gelegenheit, seine Qualitäten zu zeigen. Zu dem geschmeidigen Gesamtklang, wie er für Gaffigan kennzeichnend ist, gehören leuchtende Holzbläser und ein Blech von samtener Kraft – und das erlaubte dem Dirigenten, das Kreisende, die gründerzeitliche Selbstgewissheit und die verschmitzten Stilzitate der Partitur nach Massen auszukosten. An Mahler, mit dem Busoni gut befreundet war, dachte man eher selten, um so mehr aber im Finale, wo die vorzüglichen Männerstimmen des Ensemble Corund und des Luzerner Chors «Männer molto cantabile» den zweiten Teil von Mahlers Achters in Erinnerung riefen. Eine grandiose Begegnung.

Bruckners «Romantische» – ganz modern

Eine Stunde Fahrt durchs Entlebuch und durchs Emmental – und schon ist man in Bern. Wo seit Herbst 2010, und seit 2012 unter dem Dach von «Konzert Theater Bern», der 1948 geborene Schweizer Mario Venzago und das Berner Symphonieorchesters am Werk sind. Ebenfalls sehr erfolgreich, wie die Besuche in dem 1908 eröffneten Kulturcasino noch und noch erweisen. An diesem Abend jedenfalls ist die Stimmung in dem hellen Konzertsaal mit seinen knapp 1300 Plätzen wieder ausgezeichnet, und das zirka hundert Positionen umfassende Orchester geht fabelhaft mit – und spendet seinem Chefdirigenten am Ende einen herzlichen Sonderbeifall. Es ist auch ein spezieller Abend, ein Abenteuer-Abend. Das Abenteuer heisst: Bruckners Vierte.

Zwischen 2010 und 2014 hat Mario Venzago die zehn Sinfonien Anton Bruckners, die neun bekannten plus die von Bruckner verworfene Nullte, für das deutsche Label cpo auf CD aufgenommen. Dies allerdings nicht mit ein und demselben Orchester, wie es üblich ist, sondern mit verschiedenen Klangkörpern – mit dem Berner Symphonieorchester natürlich, aber auch, besonders erstaunlich, mit der Tapiola Sinfonietta, einem Kammerorchester, mit dem er zum Abschluss der Serie die kontrapunktisch angelegte Fünfte erarbeitet hat. Das entspricht Venzagos Ansatz, der in dieser Musik das Heilige hört, das man in ihr hören kann, aber ein anderes Heiliges als die Mehrheit der Dirigenten. Interpret im besten Sinne des Wortes, setzt Venzago auf klangliche Verschlankung und Durchhörbarkeit statt auf Wucht und Pathos, auf den Spaltklang eher als auf den Mischklang, auf Flexibilität in der Wahl der Tempi anstelle des gleichmässigen Durchziehens. Von all dem ist zu erfahren in einem stimmungsvollen, informativen Dokumentarfilm von Laurent Jaquet mit dem Titel «Venzagos Bruckner»; er kommt dieser Tage ins Kino.

In Bern hat Venzago nun die Vierte in der üblicherweise gespielten Fassung von 1878/80 vorgestellt; 2010, zu Beginn seines Bruckner-Zyklus‘, hat er sie mit dem Sinfonieorchester Basel eingespielt. Erstaunlich, dass in dieser Aufführung nun doch ein verhältnismässig hoher Schallpegel herrschte. Auf den äusserst leisen Streicherteppich zu Beginn plazierte das Solo-Horn seinen Quint-Ruf fast erschreckend laut – vielleicht war hier die Sicherheit des Einsatzes wichtiger als das aus weiter Ferne kommende Piano. Überhaupt trug das Blech, von exzellenter Qualität, ziemlich massiv auf, der Dirigent musste die Posaunisten, die lustvoll bei der Sache waren, in jedem Satz mehrmals zur Zurückhaltung ermahnen. Ohne viel Erfolg übrigens, weshalb das Fortissimo eine Schärfe erhielt, die an die alten Aufnahmen mit Eugen Jochum erinnerte. Ob das mit dem Live-Charakter zusammenhing? Die Aufnahme aus Basel klingt doch merklich anders.

Es kann aber auch Absicht sein. Für Mario Venzago, so der Eindruck an diesem Abend, ist Bruckners Vierte nicht die «Romantische», wie sie der Komponist selber benannt hat, sondern vielmehr die «Moderne». Allerdings nicht in dem Sinn, dass er das Parataktische, das Nebeneinanderstehen, in der musikalischen Entwicklung heraushöbe. Eher geht es ihm um das Trennen und das Pointieren der instrumentalen Farben, die als Einzelne aus dem Geschehen heraustreten und Einzelne bleiben, auch wenn sie sich im Tutti zu einem Ganzen fügen. Eine bedeutende Rolle spielt dabei der Verzicht auf das durchgängige Vibrato, das Bruckner, wie Venzago sehr richtig bemerkt, noch nicht gekannt hat. Das Vibrato wird vielmehr, wie in der alten Musik, zur Steigerung des Ausdrucks eingesetzt. Das führt zu überraschenden Klangmomenten, etwa dann, wenn die Bratschen in den Vordergrund treten und fast so klingen, als wären sie von Klarinetten begleitet. Die (nicht von allen Musikern gleichermassen mitgetragene) Reduktion des Vibratos erzeugt aber auch eine gewisse Härte, denn weder sind die Instrumente dafür eingerichtet noch die Instrumentalisten daran gewöhnt. Wohlfühl-Bruckner hat sich hier nicht ergeben, dafür eine sehr persönliche, äusserst anregende Neubeleuchtung eines altbekannten Stücks.

Natürlichkeit des Musizierens

Dabei sei nichts gesagt gegen das Wohlgefühl, schon gar nicht bei Orchestermusik, vor allem wenn sie so dargeboten wird, wie es, wieder zweihundert Kilometer weiter östlich von Bern, beim Sinfonieorchester St. Gallen geschieht. Seit 2012 steht dort der Niederländer Otto Tausk als Chefdirigent am Pult. Der Habitus des durch einen Frack verkleideten Waldschratts, den Tausk liebevoll pflegt, lenkt ab von der Tatsache, dass in der Tonhalle St. Gallen, einem wunderbaren Jugendstil-Bau von 1909, exzellent musiziert wird. Das wie in Luzern mit rund siebzig Musikern besetzte Orchester lässt einen warmen, sorgsam abgemischten Gesamtklang hören, in dem die Hörner und die Holzbläser besonders auffallen. Und zusammen mit Otto Tausk hat es eine Natürlichkeit und eine Spontaneität des Musizierens ausgebildet, die den akustisch nicht einfachen Saal mit seinen knapp 900 Sitzplätzen, ja das Haus insgesamt ausgesprochen freundlich beleben. Kein Wunder, bleiben nach Konzertschluss nicht wenige Zuhörer im Foyer bei einem Glas Wein zusammen.

Zur Eröffnung «Die Waldtaube», eine kaum je gespielte Sinfonische Dichtung von Antonín Dvořák. Anders als Mario Venzago, der die Musik durch die Nuancierung des Tempos zum Reden zu bringen sucht, bleibt Tausk streng im Schlag. Er vermeidet damit romantischen Überschwang und vertraut darauf, dass die Musik Dvořáks schon selber zu erzählen wisse. Das tritt auch ein, allerdings nicht ohne das Gefühl, dass die Sache hie und da etwas stehenbleibe. Mehr Emphase legen das Orchester und sein Dirigent bei den Vier letzten Liedern von Richard Strauss an den Tag, doch müssen sie sich hier erst recht zügeln, sind diese Orchesterlieder doch so üppig gesetzt, dass die Singstimme leicht in Bedrängnis gerät – bei Malin Hartelius, die an diesem Abend etwas verkrampft wirkte, war das der Fall. Blendend aber, nämlich aus einem Guss und in einem alle vier Sätze umfassenden Spannungsbogen, die dritte Sinfonie von Johannes Brahms, F-dur, deren Aufführung von der in den letzten Jahren bewundernswert gestiegenen orchestralen Agilität lebte. Auch hier liess Orchester am Ende seinen Dirigenten hochleben.

Branchenkenner glauben, dass das Konzert bald an sich selber gestorben sein werde. Und Kaffeesatzleser neoliberaler Herkunft pflegen zu betonen, dass die auf Kleinräumigkeit beruhende orchestrale Vielfalt der Schweiz aus pekuniären Gründen à la longue nicht zu halten sein werde. Vielleicht sind die pekuniären aber nicht die einzigen Gründe, die man hier ins Feld führen kann. Die kleine Tour de Suisse von Luzern über Bern nach St. Gallen liess erleben, auf welch eindrucksvollem Niveau die Orchester wirken und wie sehr sie damit ihre Zuhörer in Bann schlagen. Das ist ein kultureller Mehrwert, der keinesfalls aus der Hand gegeben werden darf.

Mozarts Violinkonzerte

 

Peter Hagmann

Das Schwere am Leichten

Vilde Frang, Christian Tetzlaff und Frank Peter Zimmermann spielen Mozart

 

Zeiten kommen und gehen, auch in der klassischen Musik – das macht ihr Leben aus. Die Violinkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts (und mit ihnen die Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Es-dur, KV 364) sprechen davon. Sie im philharmonischen Gewand zu spielen, wie es etwa Herbert von Karajan 1978 mit der noch blutjungen Anne-Sophie Mutter getan hat, ist heute obsolet. Nur die Wiener Philharmoniker als die Gralshüter des Vergangenen wagen es noch. Sie taten es im Sommer 2014 beim Lucerne Festival, zusammen mit dem Konzertmeister Rainer Küchl und dem Solo-Bratscher Heinrich Koll, am Dirigentenpult begleitet von Gustavo Dudamel – ein gespenstischer Moment «à la recherche du temps perdu».

Beim Musikkollegium Winterthur

Selbst ein so ausgeprägt, aber auch bewusst der Tradition verbundener Geiger wie Frank Peter Zimmermann hält fest, dass er Mozarts Violinkonzerte keinesfalls mehr so spielen könne, wie er es in seinen Aufnahmen von 1984 (mit dem Württembergischen Kammerorchester und dem Dirigenten Jörg Faerber) und von 1995 (mit Wolfgang Sawallisch am Pult der Berliner Philharmoniker) getan habe. Tatsächlich herrscht in der Einspielung der Konzerte Nr. 1, 3 und 4, die er im letzten Jahr vorgelegt hat (Hänssler 98.039), ein neuer Ton: leichter in der Substanz und zugleich griffiger in der Artikulation. Die historisch informierte Aufführungspraxis hat ja manches an den Tag gebracht, was heute auch von Musikern, die nicht explizit für diese Richtung stehen, ganz selbstverständlich berücksichtigt wird. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht mehr als Grundlage der Tonbildung eingesetzt, sondern wieder als Verzierung verstanden wird, mag davon zeugen.

Die Verschlankung des Tons hat natürlich auch mit der Besetzungsstärke des begleitenden Orchesters zu tun. Heute werden die Violinkonzerte Mozarts im Prinzip als Kammermusik angesehen – dies im Gegensatz zu den Klavierkonzerten, die schon von der Gattung her mehr auf Repräsentanz als auf Intimität hin angelegt sind. Beispiel dafür ist das Projekt des Musikkollegiums Winterthur, das die fünf Geigenkonzerte und die Sinfonia concertante mit Christian Tetzlaff erarbeitet hat – mit ihm allein, ohne Dirigenten. Ein interessanter, auch mutiger Ansatz, der durchaus die Zeichen der Zeit aufnimmt: Das Zürcher Kammerorchester, das Kammerorchester Basel, das Freiburger Kammerorchester, aber auch grösser besetzte Klangkörper wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Les Dissonances aus Dijon oder Spira mirabilis verzichten bisweilen auf den Dirigenten.

Allein, auch das braucht Übung, das war beim Musikkollegium Winterthur zu hören. Fehlt der Dirigent, nicht nur als Koordinator, sondern auch als Energiezentrum, sind die Orchestermusiker in einer besonderen Weise gefordert, einer anderen als unter der Leitung eines Dirigenten. Der Konzertmeister – leider werden im Programmheft die Namen der an den jeweiligen Konzerten beteiligten Orchestermitglieder im Gegensatz zu jenen der Gönner nicht genannt – hielt die Fäden energisch in der Hand, die beiden Hörner und die beiden Oboen setzten leuchtkräftige Farblichter – und dennoch fehlte den Interpretation so etwas wie eine Mitte.

Das vielleicht um so mehr, als Christian Tetzlaff doch eher als Solist und nicht so sehr Primgeiger in Erscheinung trat. Ausserdem hinterliess der eine von mir besuchte Abend im Musiksaal des Winterthurer Stadthauses den Eindruck, Tetzlaff habe seine Aufgabe vielleicht doch nicht ernst genug genommen. Viel Temperament gab es da, gewiss – und das hat als Einspruch gegen das Apollinische, das Verharmlosende, das bei den Geigenkonzerten Mozarts auch heute noch gern hervortritt, Reiz wie Berechtigung. Aber es war auch ein gerüttelt Mass an Ungenauigkeit, an Verschleifungen und Beiläufigkeit wahrzunehmen. Als ob der gerade auch für seine Präzision geschätzte Geiger hier den stürmischen Naturburschen hätte geben wollen.

Arcangelo aus London

Von diesem Burschikosen ist die Vorstellung der Violinkonzerte Mozarts durch die kometenhaft aufsteigende Norwegerin Vilde Frang und das Londoner Ensemble Arcangelo mit seinem Dirigenten Jonathan Cohen ganz und gar frei. Hier herrschen so viel Innigkeit des Gefühlsausdrucks und so natürliche Musikalität, dass diese Stücke in neuer Beleuchtung erscheinen – und was die ebenfalls letztes Jahr erschienene CD (Warner 08256462776776) diesbezüglich erkennen lässt, hat der Live-Auftritt bei der Neuen Konzertreihe Zürich voll und ganz bestätigt.

Vilde Frang gehört zu den Geigerinnen einer neuen Generation. Sie spielt nicht auf einem Instrument aus der Entstehungszeit der Kompositionen, wenn auch immerhin auf einer (übrigens sehr schönen) Geige von Jean-Baptiste Vuillaume von 1864. Aber das an sprachlichen Mustern orientierte Phrasieren statt dem möglichst weiten Bogen, die lebendige Artikulation anstelle des möglichst geschlossenen Legatos sind ihr selbstverständlich. Dazu pflegt sie einen mit feinem Pinsel gezogenen, äusserst farbenreichen Ton, der nicht das Gepresste des philharmonischen Klangs hat, aber auch nicht das Zirpende, das in der historischen Praxis da und dort auftaucht. Und nicht zuletzt verbindet sie ihre unverstellte, direkte Emotionalität mit grossartiger Präzision. Und das will etwas heissen, denn die Violinkonzerte Mozarts sind diesbezüglich nicht zu unterschätzen; das scheinbar Leichte ist hier besonders schwer.

Mit Arcangelo bildet die junge Geigerin eine sozusagen ideale Partnerschaft. Vor vier Jahren von dem Cellisten, Cembalisten und Dirigenten Jonathan Cohen gegründet und hierzulande erst wenig bekannt, gehört das Ensemble nicht im strengen Sinn der historischen Praxis an. Die Hörner arbeiten zwar ohne Ventile, die Streicher halten die Bögen so, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, also etwas weiter entfernt vom Frosch, aber der Stimmton bleibt bei 440 Hertz. Auch das, die Vermischung von Elementen aus der hergebrachten wie der historisch informierten Praxis, gehört zum neuen Stil dieser Tage. Dazu eben der Beizug eines Dirigenten – der sich hier um so vorteilhafter auswirkt, als Jonathan Cohen starke, federnde Energie aus dem klein besetzten und geschickt ausbalancierten Ensemble hervorzulocken vermag. Das verleiht auf der CD den beiden Violinkonzerten Nr. 1 (B-dur, KV 207) und Nr. 5 (A-dur, KV 219) hinreissenden Biss. Im Zürcher Konzert profilierte sich das Ensemble zudem mit der A-dur-Sinfonie, KV 201, von Mozart und der sehr eigenartigen, überaus spannend wiedergegebenen Sinfonie in G-dur, Hob. I:47, von Joseph Haydn.

Weniger gut gelang in der Zürcher Tonhalle Mozarts Sinfonia concertante. Lawrence Power war nicht der richtige Partner für diese Interpretation. Sein Ton trägt viel kräftiger auf als der von Vilde Frang und von Arcangelo, was dazu führte, dass die Bratsche sinnwidrig in den Vordergrund geriet. Die Geigerin musste sich nach Kräften dagegen wehren, an die Wand gespielt zu werden, zumal die Körpersprache des Bratschers, der sich über weite Strecken von seiner Partnerin an der Geige abwandte und seine Aufmerksamkeit den Oboen schenkte, einige Fragen in den Raum stellte. Mit Maxim Rysanov gerät das auf der CD erheblich besser. Weitaus eindrücklicher wirkte das Stück auch beim Musikkollegium Winterthur, wo der Geiger Christian Tetzlaff mit Hanna Weinmeister an der Bratsche ein echtes Duo bildete und das Orchester aktiv bei der Sache war.

Hohe Kunst und privates Engagement

Das gemeinsame Musizieren hat eben in hohem Mass mit der zwischenmenschlichen Beziehung zu tun. Das war auch vor dem Auftritt von Arcangelo bei einem Sonderkonzert im Kleinen Saal der Tonhalle zu erleben, wo Jürg Hochuli, der engagierte Unternehmer, der die Neue Konzertreihe Zürich veranstaltet, die Gründung einer Stiftung zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker bekanntgab. Geboten wurden das Klavierquartett in g-moll, KV 478, von Mozart und das Klavierquartett von Brahms, das ebenfalls in g-moll steht und die Opuszahl 25 trägt. Und das auf jenem hohen Niveau, das in den Konzerten Hochulis fast die Regel ist. Bei Mozart brachte sich der Pianist Martin Helmchen auf dem etwas grellen, für diesen Saal zu lauten Steinway derart prononciert ein, dass einem im Zuhören bewusst wurde, wie sehr dieses Stück ein heimliches Klavierkonzert ist. Bei Brahms dagegen fügte er sich ganz in den Gesamtklang ein und bildete mit der Geigerin Veronika Eberle, dem Bratscher Antoine Tamestit und der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker ein äusserst vital agierendes Ensemble. So lange es solche Musiker gibt, wird es klassische Musik geben. Der Saal war nämlich voll besetzt.

Bernard Haitink und das Requiem von Brahms

 

Peter Hagmann

Wenn die Zeit zu Ende ist

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit seinem heimlichen Hauptdirigenten

 

Sonder Zahl sind die musikalischen Höhepunkte, die der Dirigent Bernard Haitink mit dem Tonhalle-Orchester Zürich geschaffen hat. Zumal seit der Jahrtausendwende, seit er einigermassen regelmässig ans Zürcher Pult tritt. Unvergesslich etwa die Reihe der Sinfonien Bruckners, die Sechste Anfang 2003, die Achte im Frühjahr 2007, die Neunte von 2010. Oder jene der Sinfonien Mahlers von der Fünften 2002 bis zur denkwürdigen Aufführung der Neunten im Mai 2014. Das waren jeweils, und durchwegs, Konzerte der Sonderklasse. Nämlich Weltklasse.

Grund dafür ist auch, dass das Tonhalle-Orchester, wenn Bernard Haitink erscheint, sogleich ein anderes wird. Das ist so, seit ich es erlebe. Vor einem Vierteljahrhundert war es so, als das Orchester in schwerer Depression darniederlag, in dem Augenblick aber, da Haitink für Mahlers Erste den Taktstock hob, sich wie ein Phoenix aus der Asche erhob. Heute gilt es erst recht. Nichts von jener klanglichen Grobheit, die nach dem Abschluss der Ära Zinman um sich griff, ist zu hören, wenn Haitink das Zepter führt – im Gegenteil: Warm klingt das Orchester, wie es seine Natur und seine Tradition ist; mächtig, aber nie schmerzhaft im Fortissimo, sensibel abgestuft bis hin zum zart schimmernden Pianissimo der Ersten Geigen. Oft ist die Rede vom Identitätsverlust der Orchester im Zeichen der Globalisierung; das mag ja sein. Dass aber jeder Dirigent von Format seinen ganz eigenen Klang erzeugt, sei das bei welchem Orchester auch immer, bei Bernard Haitink ist es offenkundig.

Schwarze Trauer, tröstliche Zuversicht

Auch der jüngste Auftritt Haitinks in Zürich, eine drei Mal gebotene Aufführung des «Deutschen Requiems» von Johannes Brahms, stand in diesem Zeichen. Haitink nutzte den Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt, zu einer ganz und gar dunklen, in den Grabes-Tiefen der Bässe ruhenden Wiedergabe. Unterstrichen wurde diese Tiefe durch die Mitwirkung des Kontrafagotts und der Orgel. Beide Instrumente hat Brahms «ad libitum» vorgesehen; sie können verwendet werden, müssen es aber nicht. Haitink setzte sie ein, und er liess damit erleben, wie sie, der Pauke vergleichbar, das Geschehen von Fall zu Fall unterstreichen – was zu ebenso hinreissenden wie sinnfälligen Wirkungen führte.

Äusserst leise und in herrlich ausgesungenem Legato erhebt sich der Anfang aus dem tiefen F heraus, und weil die Bratschen mit ihrer kernigen Mittellage zunächst die höchste Stimme bilden, wirkt der Chor bei seinem ersten Einsatz vergleichsweise hell. Es ist in dieser Aufführung die Zürcher Sing-Akademie, die in ihrer erweiterten Besetzung als grosser Bürgerchor angetreten ist. Während in Chören solcher Art die Alt- und die Tenorstimmen gerne Probleme bereiten, ist es hier gerade umgekehrt: strahlend der Tenor, leuchtend der Alt, der Sopran dagegen etwas im Schatten und nicht immer sicher, der Bass immerhin solide. An eine Professionalität, wie sie sich im Orchester von selbst versteht, ist die Sing-Akademie noch nie herangekommen, da war ihr der von Fritz Näf geleitete Schweizer Kammerchor um Welten voraus. Im Rahmen des Möglichen hat Tim Brown, der seine Aufgabe als Chorleiter jetzt unter einigen Misstönen niederlegt, hier jedoch ein Optimum erreicht.

Jedenfalls macht das ausgesprochen langsame Tempo, das Haitink im ersten Satz anschlägt, niemandem Schwierigkeiten. Es erlaubt dem Dirigenten, den Gegensatz zwischen schwarzer Trauer und tröstlicher Zuversicht, der sich hier erstmals anzeigt, das Werk aber insgesamt prägt, plastisch herauszuarbeiten. Den von zukünftigen Freuden kündenden Mittelteil nimmt er eine Spur schneller, um bei der Reprise des Anfangs mit Nachdruck in die ursprüngliche Gemessenheit zurückzufinden. Grossartig, wie sich der Kontrast zwischen Schmerz und Hoffnung dann im zweiten Satz zeigt: im Gewand eines Trauermarsches, eines heftigen «Memento mori» und eines fast trotzigen Blicks auf den Kreislauf der Natur.

Und dann: Christian Gerhaher, Bariton. Er streut Salz in die Wunden. Und das mit einem Auftritt, der aus der Sprache lebt und den Text in beinah szenisches Licht stellt. Er tut es mit seiner unglaublich prägnanten Diktion, die auf hellen Vokalen basiert, und mit der Vielfalt der Töne, die bei aller Schönheit seines Timbres auch das Aschfahle einschliesst. So macht er unmissverständlich bewusst, worum es hier geht: um Endlichkeit und Tod. Dass jedes Leben ein Ziel hat und jeder, wie es der Text fünf Mal ausspricht, «davon muss» – Gerhaher stellt diesen Satzteil mit einer Drastik heraus, dass es einem kalt wird. Er kann es, weil ihm Haitink, der zuhört wie kein Zweiter, das Feld dafür bereitet.

Grundlegend anders Camilla Tilling. Die schwedische Sopranistin gestaltet ihren kurzen Part ganz aus der vokalen Linie heraus: mit einer schlanken, trotz der heiklen Lage wunderbar leuchtenden Höhe, mit geschmeidigem Legato und konsequenter Verschmelzung der sprachlichen Formanten. In diesem Moment scheint etwas nach oben zu schweben, ein Engel vielleicht. Da ist er wieder, der Kontrast, aus dem das Werk seine Spannung gewinnt. Und für einen Augenblick scheint der Trost die Oberhand gewonnen zu haben.

Es kommt aber bald wieder heftig; die Posaune erschallt, und die Toten erheben sich aus den Gräbern. Da findet die Aufführung zu einer Intensität, wie sie sich eindringlicher kaum denken lässt. Sie hat sich schon einmal angedeutet: über dem gewaltigen Orgelpunkt am Ende des dritten Satzes, in dessen unglaublichem Zug das Orchester förmlich in Trance geraten ist. Im sechsten Satz kommt dieses Vibrierende nun zu voller Ausformung. Viel macht Bernard Haitink nicht, seine Zeichengebung skizziert bloss, es ist allein das Charisma, das hier wirkt, und vielleicht die einzigartige Identifikation des stumm gestaltenden Dirigenten mit dem Komponisten. Das Tonhalle-Orchester klingt, als spiele es stehend, und zieht den Chor mit, Christian Gerhaher blickt immer wieder fast ungläubig zum Dirigenten empor, Camilla Tilling beginnt den Kopf zu wiegen – und kann dann nicht mehr anders als ganz leis in den Chor einzustimmen. Das lässt sich nicht beschreiben, man muss es gesehen, man muss es gehört haben. Am Ende, nach dem in leiser Feierlichkeit verklingenden siebten Satz, ein unglaublicher Moment der Stille. Dann Stehapplaus und verstohlenes Augenwischen, hüben wie drüben.

Weite des Horizonts

Vielleicht gelingt ein solcher Moment nur einem ganz alten Menschen – einem, der schon etwas losgelassen hat und sich dem Glück des noch einmal geschenkten Augenblicks hingibt. Jedenfalls war es die reine Liebe, die hier sprach: die Liebe zu einer Kunst und zu den Menschen, die sie weitertragen. Stilistisch stand diese Aufführung für eine romantische Tradition, die längst entschwunden schien, ersetzt durch ein neues, von verschlanktem Ton, flüssigeren Zeitmassen und verdeutlichter Artikulation geprägtes Brahms-Bild. Die Abende in der Tonhalle Zürich liessen dieses Romantische noch einmal auferstehen: in exzellenter Ausformung, in bezwingender Authentizität und damit gültig.

Das heisst nicht, dass Bernard Haitink ein Traditionalist wäre. Seines hohen Lebensalters zum Trotz nimmt er die Bewegungen in seinem musikalischen Umfeld wahr, lässt er sich anregen und macht er sich zu eigen, was ihm gelegen kommt. Sein Beethoven-Bild etwa hat in jüngerer Vergangenheit eine beträchtliche Wandlung erlebt – angeregt durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis und durch deren Weiterungen auf den Konzertpodien. In aller Eindrücklichkeit war das beim Lucerne Festival zu erfahren, wo er die Sinfonien Beethovens mit dem Chamber Orchestra of Europe in ihrer Gesamtheit auslegt hat. Zu hören war es auch beim Tonhalle-Orchester Zürich, mit dem er eine Woche vor dem Brahms-Requiem das Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll und die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, die «Eroica», dirigiert hat. Bei beiden Werken war das Orchester klein besetzt und herrschte griffiges Musizieren – auch wenn der Solist Igor Levit im Largo des Klavierkonzerts ein sehr langsames, allerdings erfüllt langsames Tempo anschlug. Glücklich, wer diese Konzerte gehört hat.

Der Pianist Igor Levit

 

Peter Hagmann

Strukturelle Einsicht und glühende Empathie

Igor Levit als Solist und Partner in der Tonhalle Zürich

 

In Zürich eingeführt hatte sich Igor Levit, es war Anfang Mai 2014 in der «Série Jeunes» des Tonhalle-Orchesters, mit nicht weniger als den «Diabelli-Variationen» Ludwig van Beethovens und «The People United Will Never Be Defeated», den 1975 entstandenen Variationen des Amerikaners Frederic Rzewski – ein denkwürdiges Programm, von dem bis heute die Rede ist. Inzwischen sind die beiden Zyklen zusammen mit den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs bei Sony in einer wagemutigen CD-Edition herausgekommen; neben den zwei Jahre zuvor erschienenen Einspielungen der fünf letzten Klaviersonaten Beethovens aus dem Jahre 2013 bildet diese Box die Visitenkarte eines Pianisten, der zwar erst 28 Jahre alt ist, aber schon gehörig von sich reden macht.

Während Radu Lupu auf seinem gewöhnlichen Stuhl mit Rückenlehne am Klavier sitzt, als harre er der demnächst beginnenden Mahlzeit, lehnt sich Igor Levit immer wieder ganz weit nach vorn – so weit, dass es kein Klavierlehrer durchliesse. Fast hat es den Anschein, als wolle er die Noten, wenn nicht gar die Hämmer verschlingen. Das ist keine Macke, so viel ist deutlich geworden bei der einwöchigen Residenz, die den aus Nischni Nowgorod stammenden, in Hannover aufgewachsenen Pianisten in die Tonhalle Zürich gebracht hat. Es ist vielmehr Ausdruck einer unbändigen Intensität, einer ganz aus dem Inneren des Musikers kommenden, ebenso erfüllten wie unmittelbaren Verbindung mit der Musik. Sie überträgt sich sogleich auf die Zuhörer. Die Aufmerksamkeit war enorm, die Spannung mit Händen zu greifen, und am Ende kam es zu Ovationen, wie sie sich das im Masshalten geübte Zürcher Publikum selten erlaubt.

Ein Kosmos

Und das bei einem Projekt, das alles andere als einfache Kost versprach. In drei aufeinander folgenden Programmen gab es – übrigens trotz den Bereicherungen, mit denen ein ungemütlich in die Schlagzeilen geratener Sportverband die Langmut der Konzertbesucher testete – die Gesamtheit der Sonaten für Klavier und Violine, die Ludwig van Beethoven zwischen 1797 und 1803 sowie im Jahre 1812 zu Papier gebracht hat. Zehn Werke sind das, und auch wenn sie nicht in gleichem Mass eine Reise durch das musikalische Denken des Komponisten erlauben wie die ins radikale Spätwerk reichenden Klaviersonaten, so machte der chronologisch angeordnete Zyklus doch offenkundig, wie rasch sich Beethoven von vorgegebenen Modellen gelöst und seiner stupenden Erfindungskraft ihre eigenen Wege eröffnet hat.

Klavier und Violine – nicht umgekehrt, nicht Violine mit Klavierbegleitung. Hat das Julia Fischer verstimmt? Am ersten Abend erschien die 32-jährige Münchnerin arrogant, ja widerborstig, jedenfalls nur wenig verbunden mit ihrem Gegenüber am Klavier. Für die sonntägliche Matinee hatte sich der Himmel etwas aufgelichtet, schien die Geigerin nicht nur bei besserer Laune, sondern auch stärker involviert, weshalb sich die «Frühlingssonate» zu herrlicher Kantabilität aufschwang. Ganz auf der Höhe – und ein grossartiger Moment der kammermusikalischen Verständigung – dann der dritte Abschnitt, zu dem die fast eine Dreiviertelstunde währende «Kreutzersonate» den vor Spannung schier berstenden Hauptteil bildete.

Allein, eine Patricia Kopatchinskaja ist Julia Fischer nicht. Deren ungezügelte Wildheit, die vor Extremen nicht zurückschreckt und kompromisslos auf das Grenzgängerische der A-dur-Sonate op. 47 mit dem Beinamen ihres Widmungsträgers zielt, gehört nicht zum musikalischen Weltbild Julia Fischers. In ihrer ästhetischen Grundeinstellung steht sie Anne-Sophie Mutter näher. Jedenfalls bleibt ihr Ton stets gepflegt – auch dort, wo Beethoven Schroffheit aufblitzen, Abgründe einbrechen oder überraschende Kehrtwendungen eintreten lässt. Und bildet das Vibrato eine Konstante. Wenn es nuanciert wird, dann in engen Grenzen. Das verlieh dem Spiel der Geigerin, so berückende Momente sie auf ihrer Guadagnini immer wieder schuf, ebenso oft Augenblicke der Beiläufigkeit, zumal in den frühen Sonaten. Dabei liess der von Julia Fischer in geradem Ton genommene Einstieg in das wunderbare Adagio der Es-dur-Sonate op. 12, Nr. 3 erahnen, welches Potential hier zu heben wäre – die Geiger, die um die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis wissen, machen es vor.

Wunderbar aufgegangen

Bei Igor Levit sind solche Anregungen längst auf fruchtbaren Boden gefallen – obwohl er an seinem Steinway natürlich nicht als ein Vertreter der historischen Praxis agieren kann. Aber er bringt die Phrasen zum Sprechen, indem er, ohne den Überblick zu verlieren, in die Einzelheiten der Struktur eindringt und den Motiven mit einer Zuwendung sondergleichen individuelle Physiognomien verleiht. Daraus entsteht packende Lebendigkeit. Dazu passt, dass der Pianist die Geigensonaten Beethovens aktiv und explizit ganz unterschiedlich beleuchtet: sie hier als Solosonaten mit Begleitung durch die Violine, dort als Duosonaten in Gleichberechtigung zwischen Violine und Klavier, manchmal aber auch als echte Triosonaten erscheinen lässt – gebildet durch die Stimme der Geige und jene der rechten Hand des Pianisten sowie den Bass seiner linken Hand.

Besonders deutlich wurde das in der F-dur-Sonate op. 34, der «Frühlingssonate» – bei der die Violine schwelgte, an den Lichtwechseln des Pianisten aber doch etwas wenig Anteil nahm, hie und da sogar reine Begleitfiguren zu sehr in den Vordergrund rückte. Umso klarer trat heraus, in welch bewegender Weise der Pianist an seinem im Grunde perkussiven Instrument zu singen versteht. Er kann das, weil er – auch das Adagio der A-dur-Sonate op. 30, Nr. 1 sprach davon – die Dynamik bis ins Äusserste ausdifferenziert, weil er ein Mezzavoce von zarter Innigkeit pflegt und das rechte Pedal mit letzter Sorgsamkeit einsetzt. Und das bei einem für diesen Satz vergleichsweise flüssigen, fast wie ein ruhiges Andante wirkenden Grundtempo. Da ging alles in eigener Weise auf.

Dabei bleibt Igor Levit dem Zerklüfteten, das zu Beethovens Handschrift gehört und in Werken wie der grossartigen c-moll-Sonate op. 30, Nr. 2 oder der «Kreutzersonate» zum Ausdruck kommt, nicht das Geringste schuldig. Die Kontrastbildungen geraten ihm gerne heftig ausgeprägt. Und in einzelnen, allerdings den genau richtigen Momenten lässt er den zur Gänze geöffneten Flügel in jenes donnernde Fortissimo ausbrechen, das dem Komponisten die Instrumente seiner Zeit schuldig bleiben mussten. Das alles wird mit einer hohen musikalischen Intelligenz ins Werk gesetzt – was beim letzten Stück des Zyklus zu besonderen Überraschungen führte. Die Ambiguität der musikalischen Verläufe in den beiden ersten Sätzen der G-dur-Sonate op. 96 lösten Julia Fischer und Igor Levit nicht auf; sie bewahrten das Schwebende, das im Kopfsatz von dem kleinen, aus einem Triller herauswachsenden Zentralmotiv ausgelöst wird, und überliessen es dem vielleicht doch etwas verdutzten Zuhörer, in diesem zarten Gewebe seinen eigenen Sinn zu finden.

Gegenwärtigkeit

Von all dem lebte auch Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll, op. 37, für das sich Igor Levit vor dem Zyklus der Geigensonaten mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Bernard Haitink zusammengetan hatte. Auch hier tauchte er ganz in die Partitur ein – und hob Schätze, die man bis dato noch nie gehört. Nach dem kraftvollen Einstieg schlug der Pianist bald einen ausnehmend geschmeidigen Ton an; er horchte ins Geschehen hinein – und auch ins Orchester, das ihm dank Haitinks empathischem Mitgehen allen Raum liess. Überraschend, wie er im Kopfsatz die Durchführung dynamisch drosselte und die harmonischen Weiterungen in einem Selbstgespräch vorüberziehen liess. Wie er später einen ersten Triller sacht beschleunigte und dann die Kadenz unter einen immensen Bogen brachte. Besonders eindringlich geriet das Largo, das er mit einer vielleicht etwas problematischen Fermate begann, dann aber in goldener Ruhe zur Entfaltung brachte. Dabei blieb nichts stehen, denn raffiniert liess Igor Levit da und dort die rechte Hand etwas drängen, während die linke den Schlag bewahrte, was enorme Spannung auslöste. Und Spannung heisst hier: Gegenwärtigkeit.

Lucerne Festival am Piano (2)

 

Peter Hagmann

Poet an Tasten

Ein Klavierabend mit Radu Lupu

 

Klavier, nichts als Klavier – und doch: was für Welten. Jeder der Pianisten, die ich diesen Herbst beim Lucerne Festival am Piano gehört habe, repräsentierte ein Universum, sein Universum, und die Kontraste hätten dabei nicht markanter ausfallen können. Das ist nichts als natürlich, wenn nicht sogar zwingend; ohne ausgeprägtes Ego keine Interpretation, und ohne Interpretation keine Musik (womit auch gesagt ist, dass der von Musikern bisweilen vertretene Anspruch, «nur die Noten» zu spielen und nichts mehr, ins Reich der Fabel gehört).

Auf die lächelnde Gelassenheit, mit der András Schiff seine reich ausgebaute und hochgradig inspirierende Subjektivität mit einem Mantel der Objektivität umgibt, mit der er jedenfalls den Anschein vermittelte, so und nicht anders müsse es klingen – auf András Schiff also folgte Radu Lupu, der sich am Instrument tief in die Seele blicken lässt. Lupu ist der Poet an den Tasten; wenn er die Musik formt, beginnt zu sprechen – nicht in Prosa, sondern in Form von Gedichten. An Spannung hat es demzufolge nicht gefehlt.

Radu Lupu, eben gerade siebzig geworden, nahm den Faden auf, den András Schiff mit Bachs «Goldberg-Variationen» ausgelegt hatte. Mit den Variationen über ein eigenes Thema in D-dur (op. 21, Nr. 1) von Johannes Brahms, den 32 Variationen über ein eigenes Thema Ludwig van Beethovens und Wolfgang Amadeus Mozarts Variationen über ein Menuett von Jean-Pierre Duport (KV 573) bot Lupu zudem Werke, die im Konzertsaal so gut wie nie erklingen. Und das in einem chronologischen Gang zurück, der auch erkennen liess, wie sehr sich die Gattung der Variation in den sechzig Jahren zwischen Mozart und Brahms verändert hat. Allein schon als Programm wirkte der erste Teil seines Luzerner Rezitals ganz ausserordentlich.

Während Mozart das doch sehr simple Thema Duports in seinem vorletzten Lebensjahr mit allen Mitteln seiner Kunst ausleuchtete und dabei in erster Linie auf strukturelle Werkzeuge setzte, nahm Beethoven in seinen gut fünfzehn Jahre später entstandenen, der mittleren Zeit des Komponisten zugehörigen  Variationen zusätzlich emotionale Aspekte in den Blick – und Radu Lupu blieb diesen Weiterungen nichts schuldig. Anders als Schiff, dessen Klang seine Charakteristik im Obertonreichtum findet, pflegt Lupu einen Ton, der sich eher aus einer warmen Mitte nährt. Und zusammen mit dem ausgeklügelten Einsatz des rechten Pedals, der bisweilen recht eigentliche Hallräume entstehen liess, und seiner ausserordentlich empfindsamen Piano-Kultur schuf er Klangbilder, die weit in die Romantik wiesen.

Dort wiederum waren die schlicht genialen Variationen des jungen Brahms angesiedelt; wer der Sammlung begegnet, denkt sogleich an den ebenso prophetischen wie enthusiastischen Ausspruch Robert Schumanns. Das Technische der Variation ist hier endgültig mit Emotionalem verbunden – Radu Lupu, der dem in jeder Hinsicht anspruchsvollen Werk grandios gerecht wurde, machte es hörbar. Restlos auf das innere Erleben fokussiert, sich gleichsam selber zuhörend und mit weit ausgestreckten Armen sass er auf seinem gewöhnlichen Stuhl mit Rückenlehne, nicht auf einer Klavierbank; er erinnerte damit an das berühmte Gemälde Willy von Beckeraths aus dem Jahre 1911, das Brahms, eine Zigarre rauchend, am Flügel zeigt.

Aber nicht das Knorrige, das sich hinter dieser Abbildung auch vermuten liesse, trat bei Lupu hervor, nicht das Erratische und nicht das Markige, das Interpreten früherer Zeiten an Brahms gerne betonten. Nein, wie auf den vier Porträtphotographien von Brahms aus der Entstehungszeit der Variationen, die das Programmheft in reizvoller Ergänzung zu den Texten auf einer Seite gruppierte, erschien der Komponist als ein sensibler junger Mann. Wenn sich, bei Brahms obligat, gerade und ungerade Zählzeiten aneinander rieben, verband sie Lupu zu geschmeidigem Fluss. Die Oktavparallelen donnerten nicht, sie huschten durch die Gegend – satt, aber nicht dominant. Und wie sich gegen das Ende hin der Klang vergrösserte, wurde es nicht laut, dafür aber breiter in den Tempi.

In ähnlichem Geist nahm Lupu die G-dur-Sonate D 894 von Franz Schubert: als eine Geschichte voller Geheimnisse, mit leiser, aber eindringlicher Stimme erzählt. Den Höhepunkt bildete aber ohne Frage das Intermezzo in Es-dur, die Nummer eins aus dem späten Opus 117, von Lupu als Zugabe gespielt. Welches Ausmass an Verlorenheit fand da Klang – und zugleich welche Art der tröstlichen Versicherung. So weit kann Musik gehen.

Lucerne Festival am Piano (1)

 

Peter Hagmann

Konstruktive Kunst, vitale Erzählung

András Schiff spielt Bachs «Goldberg-Variationen»

 

Ob man Musik verstehen müsse, um sie geniessen zu können – das ist in diesem Fall mehr als anderswo die Frage. Bei den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs liegt der Reiz ja darin, dass die insgesamt 32 Teile über einen stets gleichbleibenden Bass von 32 Tönen eine Summe dessen bieten, was in der Mitte des 18. Jahrhunderts als späte Frucht langer Entwicklungen an satztechnischem Raffinement möglich war. An höchststehender musikalischer Konstruktion also, die man umso mehr bewundern kann, je tiefer man in ihre Geheimnisse eindringt. Das ist der Grund dafür, dass András Schiff, wenn er die «Goldberg-Variationen» vorträgt, den Abend bisweilen zweiteilt. In einem ersten Teil führt er erläuternd, nämlich sprechend und spielend, durch die Komposition –wie er es im Ansatz schon im Booklet zu seiner CD-Aufnahme von 2001 getan hat. Im zweiten Teil des Abends trägt er dann das Werk vor. So hat er es etwa in der Alten Oper Frankfurt getan, die den «Goldberg-Variationen» vor gut zwei Monaten ein ganzes zweiwöchiges Festival gewidmet haben.

Vielleicht wäre die Eröffnung der Klavierwoche, die das Lucerne Festival wie jeden Herbst zur Zeit durchführt, noch eine Spur konkreter geworden, wenn der konstruktive Reichtum der «Goldberg-Variationen» etwas direkter ans Licht gehoben worden wäre; denkbar, dass eine stichwortartige Verlaufsskizze dienlich gewesen wäre – dies nicht anstelle von, sondern als Ergänzung zu dem wiederum sehr schönen Text von Wolfgang Stähr im Programmheft. Aber möglicherweise hat das Festival auch Recht, wenn es András Schiff die «Goldberg-Variationen» ohne Vermittlung durch das Wort darbieten lässt. Und ihm dafür die Gelegenheit bietet, vor den 75 Minuten des zweiten Teils eine Ergänzung zu bieten, die in ihrer Weise einen aufschlussreichen Horizont bildet. Schiff spielte nämlich das Italienische Konzert in F-dur und die Französische Ouvertüre in h-moll, mithin den zweiten Teil der von Bach selbst zusammengestellten und zum Druck gebrachten «Klavier-Übung». Ihren vierten Teil bilden wiederum die «Goldberg-Variationen» – in denen vieles anklingt, was im Italienischen Konzert und in der Französischen Ouvertüre prächtig vorgeformt ist.

Wenn András Schiff die «Goldberg-Variationen» spielt, sein erklärtes Lieblingsstück, wird das mehr als ein Konzert, es gerät zu einem gemeinschaftlichen Erleben mit einem Zug ins Spirituelle. Nicht zuletzt geht das auf die unglaubliche Verbundenheit des Interpreten mit der von ihm dargebrachten Musik zurück – nicht nur auf seine Identifikation, nicht nur auf seine Einlässlichkeit im Moment, sondern vor allem auf das Mass, in dem er sich diesen unvergleichlichen Notentext zu eigen gemacht hat. In jedem Winkel dieser klingenden Kathedrale kennt er sich aus – inzwischen so gut, dass bisweilen die Befürchtung aufkommt, das Werk könnte unter seinen Händen doch zum Denkmal und zum Bildungsgut erstarren. Indes verfügt András Schiff noch über einen derartigen Vorrat an Phantasie, Spontaneität und Entflammbarkeit, dass man ihm hingerissen auf dem Spaziergang durch diese zehn Mal drei Veränderungen über die zu Beginn und am Ende erklingende Aria folgt.

Diese Aria gibt er mit jener ausdrucksvollen Einfachheit, wie sie nur ihm zu Gebote steht. Sie ist in der Oberstimme ja schon sehr verziert, was das Ohr gefangen nimmt – und was der Interpret nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich fördert: durch seine Kunst, die Verzierungen flexibel in den Verlauf einzubauen und sie in der Ausformung subtil zu nuancieren. Im jeweils zweiten Durchgang der beiden Teile – Schiff lässt keine der Wiederholungen aus – hebt er die Dynamik der linken Hand jedoch um ein Weniges an, auf dass der Bass als das Fundament des Ganzen ins Bewusstsein rücke; einleuchtend, geschickt und fern jeder Belehrung ist das. Ebenso diskret, in der Wirkung aber noch weit frappierender die Massnahme, die Schiff am Ende ergreift, wenn die Aria ein zweites Mal erklingt und den Bogen der Variationen zum Abschluss bringt. Im Gegensatz zu der üblichen Praxis, dass ein Abschnitt eines Werks im zweiten Durchgang ausgeziert wird, lässt er hier in den Wiederholungen alle nicht explizit niedergeschriebenen Verzierungen weg, weshalb die Aria zum Schluss bar jeder Verschönerung, gleichsam in der Urgestalt erscheint. Das war stark als Einfall, aber auch als Ausdruck jener Symmetrie, die Bach, dem vom Barock geprägten Menschen, so viel bedeutete.

In seiner Einfachheit bildete das den krönenden Abschluss einer ganzen Reihe interpretatorischer Glanzlichter. Das Laufwerk der Sechzehntelketten in den vom Geist der Toccata erfüllten Stücke nahm András Schiff mit ausgeprägter Lust an der blitzenden Geläufigkeit und am virtuosen Effekt der gekreuzten Hände. Wobei hier bisweilen Vorbehalte aufkamen, weil da und dort die Erinnerung an den Nähmaschinen-Bach der Nachkriegszeit nicht zu unterdrücken war. In den imitierenden Stücken wiederum hob der Pianist die Kanonbildungen ohne ein Übermass an Unterstreichung hervor; wer wollte – und nicht alle wollten, wie Abgänge aus dem Publikum erwiesen –, konnte die Reden und Gegenreden der sich in unterschiedlichen Abständen verfolgenden Stimmen sehr genau nachvollziehen. Höhepunkte stellten aber jene drei Variationen in g-moll dar, die als einzige Teile von dem sonst durchgehenden G-dur abweichen. In der ersten Variation dieser Art, der in der Mitte stehenden Nummer 15 mit ihrem Kanon im Abstand einer Quarte, zeigte Schiff, wie sehr Bach, der bei aller rauschenden Sinnlichkeit doch klar im konstruktiven Denken verankerte Kontrapunktiker, an der Weiterung der Musik in die Bereiche des Empfindsamen Anteil nahm.

Das Ganze kam in jenem hellen Ton daher, den András Schiff seinem Flügel entlockt, und in der leuchtenden Transparenz, die sein leichter, auch im Nonlegato geschmeidiger Anschlag erzeugt. Bei Schiff kommt die Musik Bachs zu einer sprechenden Fasslichkeit ganz eigener Art, und das seit langem, seit der Aufnahme der zwei- und dreistimmigen Inventionen (1983) und der ersten Einspielung des Wohltemperierten Klaviers (1986). Zugleich herrschen aber eine Fokussierung auf die Musik selbst und ein (natürlich nur scheinbares) Zurücktreten des Interpreten als deutendes Subjekt, dass man geradezu von einem modernen Ansatz sprechen möchte. Unter den Händen von András Schiff löst sich dieser Widerspruch in einer packenden Synthese auf. Die Luzerner «Goldberg-Variationen» sprachen davon – jenseits der Frage nach dem Verhältnis zwischen Verstehen und Geniessen.

Tage für Neue Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Klarheit in der Vielfalt

Das Tonhalle-Orchester Zürich erstmals mit Sylvain Cambreling

 

Schreiben sie sich jetzt mit grossem oder mit kleinem «N», die Tage für Neue Musik Zürich? Einmal und meist mit grossem, ein anderes Mal mit kleinem – und das hat durchaus seinen Hintersinn. Erinnert das grosse «N» im Adjektiv doch an jene nun schon weit zurückliegende Zeit, da sich die Neue Musik mit aller Emphase als unerhört, als Beitrag zur Weiterentwicklung des Materials, somit im weitesten Sinn als Fortschritt verstand. Während das kleine «n», das heute und im Zeichen des «anything goes» üblich geworden ist, bescheidener auf irgendeine Art Gegenwärtigkeit verweist.

Beides gehört zu dem von der Stadt Zürich jeden Herbst durchgeführte – und grosszügig durchgeführte – Festival. Auf der einen Seite nämlich, so scheint es, nehmen die Tage für Neue Musik Zürich durchaus in Anspruch, zeigen zu wollen, dass die Tonkunst keineswegs so stehenbleibt, wie es das Abonnementskonzert suggeriert, dass sie sich vielmehr laufend und produktiv verändert. Auf der anderen möchte aber auch dieses Kurzfestival, und das ist legitim, reine Information bieten über das, was sich in der Szene tut.

Das Kuratorenmodell

Ihre Ziele verfolgen die Tage für Neue Musik Zürich in ausgesprochen persönlicher Weise. Jedes Festival im Bereich der Gegenwartsmusik wird von einer Handschrift geprägt, die sich in der Programmgestaltung verwirklicht. Die Donaueschinger Musiktage trugen lange Zeit die Signatur von Armin Köhler, der letztes Jahr viel zu früh einer Krebserkrankung erlegen ist, bei Wien Modern wirkte im Hintergrund der überaus kenntnisreiche und stilsichere Lothar Knessl und wird im nächsten Jahr der in Österreich lebende Schweizer Bernhard Günther das Zepter übernehmen, bei der Strassburger Musica bestimmt seit langem Jean-Dominique Marco den Kurs. In solcher Konstellation entwickelt sich die Handschrift über längere Zeiträume, sie verändert sich im besten Fall, im schlechteren versteinert sie.

Bei den Tagen für Neue Musik Zürich ist das grundsätzlich anders. 1986 von den beiden Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag ins Leben gerufen und 1994 ins Dossier von René Karlen aus der Präsidialabteilung der Stadt Zürich übergeführt, trug das Festival lange den Stempel der Gründer. Seit einiger Zeit wird es nun aber von jährlich wechselnden Kuratoren geleitet. Das führt zu raschen Beleuchtungswechseln, zu erhöhter Agilität und letztlich vielleicht doch einer breiteren Wahrnehmung der Geschehnisse. Jeder Kurator hat seinen ganz persönlichen Blick, das bringt Einengung mit sich und zugleich, in der Abfolge der Kuratoren, Erweiterung.

Diesen Herbst war die Reihe an Bettina Skrypczak, der seit langem in der Schweiz lebenden Komponistin aus Polen. «Heureka!» überschrieb sie ihr vier Tage umfassendes Programm – als ob sie hätte anzeigen wollen, was die Neue oder die neue Musik ausmache. Fehlanzeige; gerade das Gegenteil war der Fall. Ihr Programm liess vielmehr aufscheinen, mit welcher Vielfalt der Erscheinungsformen der Begriff der «neuen Musik» heute verbunden ist. Die ehemalige Avantgarde von Karlheinz Stockhausens «Gesang der Jünglinge» kam ebenso zu Wort wie das Unterfangen des «Stone Orchestra», das den Klang von Natursteinen in die Szene einzubringen sucht.

Besonders packend verwirklichte sich der Ansatz der Kuratorin dieses Jahres in jenem Konzert, mit dem sich das Tonhalle-Orchester Zürich an den Tagen für Neue Musik beteiligte. Programme, die so schlüssig gebaut sind und so anregend wirken, wie es an diesem Abend der Fall war, sind Raritäten, die man nicht hoch genug schätzen kann. Und die Selbstverständlichkeit, mit der hier Musik unserer Zeit als Ausdruck von Geschichte wie von Gegenwart dargebracht wurde, hatte etwas Bezwingendes. Zu verdanken war das dem Dirigenten Sylvain Cambreling, einem Interpreten, der im Spezialgebiet der neuen Musik genauso profiliert wirkt wie im Bereich des klassisch-romantischen Repertoires. Und der hier zum ersten, aber hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Zürcher Orchesters trat.

Freiheit und Kontrolle

Zwei Stücke in der Besetzung des Tripelkonzerts bildeten sozusagen einen langen ersten Teil des Abends; und zwei Werke, in denen das Erklingende nicht ausschliesslich auf schriftlicher Fixierung basiert, die Klammer. In dieses dramaturgisch konzis gebaute Programm mischten sich Töne denkbar unterschiedlichster Herkunft. Eröffnet wurde der Abend durch die Uraufführung von «No Alarming Interstice» des Genfers Jacques Demierre – wobei das schon eine halbe Fehlinformation darstellt. Demierre ist Pianist und wirkt zusammen mit dem Luzerner Saxophonisten Urs Leimgruber und dem aus San Francisco stammenden Kontrabassisten Barre Phillips in einem Trio, das seine Musik aus der Improvisation heraus entwickelt. Und das sich hier mit einem Klangkörper zusammengetan hat, der mit notierter Musik zu arbeiten gewohnt ist. Was das im Einzelnen bedeutet, war im Zuhören nicht direkt zu fassen. Das Stück, im Rahmen des Projekts «œuvres suisses» entstanden, wartete mit einer Fülle an disparaten Entwicklungen auf, an denen das Orchester auch mit Geräuschklängen  Anteil nahm. Im Endergebnis präsentierte sich da eine rüde, aufgeladene Klangwelt, wie sie in gewissen Sektoren der neuen Musik zum guten Ton gehört.

Welchen Gegensatz bot da Wolfgang Rihm mit seinem 2014 in Berlin uraufgeführten, vom Tonhalle-Orchester mitbestellten «Trio Concerto» für Klaviertrio und Orchester, also die von Beethoven her bekannte Tripelkonzert-Besetzung. Rihm hat alle Zwänge der avantgardistischen Masken hinter sich gelassen; er komponiert, wozu er Lust hat und was ihm einfällt – aber jenseits jeder Beliebigkeit: kreatürlich und zugleich bewusst entwickelnd. In seinem Tripelkonzert geht er diesbezüglich besonders weit. Das Trio Jean Paul mit Ulf Schneider (Violine), Martin Löhr (Violoncello) und Eckart Heiligers (Klavier) sowie das Tonhalle-Orchester Zürich verbreiteten ein hohes Mass an Sinnlichkeit: in Kantilenen, innerhalb deren dichte Bezüge hörbar werden – etwa dort, wo Gesten vom einen Instrument ans andere weitergegeben und dann verwandelt werden. Vor tonalem Wohlklang schreckt der Komponist keineswegs zurück, ja er spricht sogar offen von seiner Liebe zur Musik Gabriel Faurés. Die neue Musik nicht als Unerhörtes, sondern als Teil, Fortsetzung und Erweiterung des Gewesenen.

Ähnlich hat der grosse, leider viel zu selten gespielte Pole Witold Lutoslawski gedacht: streng in seinen handwerklichen Kriterien, frei in seinen Vorstellungen von Klangentwicklung. In «Livre pour orchestre» von 1968 setzt er ein wenig nach der Art eines Rondos den kontrollierten Zufall ein. Zwischen vier Hauptteile schieben sich Intermedien, bei denen sich die Orchestermitglieder im Rahmen gewisser Vorgaben nach eigenem Gutdünken entfalten können. Dem Tonhalle-Orchester Zürich hat das einen ungeheuren Energieschub verliehen; präsent, lustvoll und mit Verve nahmen sich die Musikerinnen und Musiker des Stücks an und brachten es unter der so präzisen wie motivierenden Leitung von Sylvain Cambreling zu einer eine absolut bezwingenden – mehr noch: zu einer restlos begeisternden Deutung. Ob das nun Neue oder neue Musik sei oder vielleicht gar nichts von beidem, durfte da getrost offen bleiben.