«Die Entführung ohne Serail», aber mit Mozart

 

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Allein unterwegs: Belmonte (Pavol Breslik) in der Zürcher «Entführung» / Bild Opernhaus Zürich, T+T Fotografie

 

Peter Hagmann

Der Mann als solcher

Mozarts «Entführung aus dem Serail» im Opernhaus Zürich

 

Keine Sorge, das Opernhaus Zürich benötigt in den kommenden Wochen und Monaten keinen besonderen Schutz. Es bringt zwar Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail», in der es auch um die verschiedenen Gesichter des Islam geht, doch davon ist an diesem Abend nicht die Rede. Es ist überhaupt nicht die Rede. Vom Libretto wird Mozarts Oper zwar ein «Singspiel in drey Akten» genannt, in Zürich aber ist der Sprechtext von Christoph Friedrich Bretzner in der Einrichtung von Johann Gottlieb Stefanie dem Jüngeren – zur Gänze gestrichen. Umstandslos folgen sich die insgesamt 21 Arien, Ensembles und Chöre. Verbunden werden sie durch das szenische Geschehen, das vollkommen stumm bleibt, vor allem aber durch die eigenartigen Geräusche von Malte Preuss; ihr Summen und Brummen erinnert an die «Truckera», jenes Hintergrundrauschen, das John Cage für seine «Europeras» ersonnen hat, indem er Hunderte von Opernaufnahmen aufeinanderlegte und zu einer Art Lastwagenlärm vermengte.

Stummes Singspiel

Das ist nun die reine Gegenposition zu der Aufnahme von Mozarts «Entführung», die der Dirigent René Jacobs 2014 für Harmonia mundi erstellt hat (https://www.peterhagmann.com/?p=781). Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung von Regisseuren glaubt Jacobs nicht nur an den Sprechtext der «Entführung», er gewinnt ihm sogar vieles ab, gerade weil er von den Sängern, selbst von den fremdsprachigen, so ungeheuer gut, nämlich konkret und fasslich gesprochen wird. Das Stück wird da jedenfalls ungeheuer, wenn auch unaufdringlich aktuell. Für derlei Ansätze hat eine Oper wie die in Zürich weder Sinn noch Zeit. Zudem ist mit David Herrmann ein junger Regisseur gerufen worden, der seine eigene Geschichte, nicht die Mozarts, erzählen möchte – und damit den Reflexions- und Erkenntnisprozess rund um «Die Entführung aus dem Serail» zu bereichern gedenkt. Das ist sein Recht, wenn nicht sogar seine Pflicht, denn auch Regisseure sind Interpreten – selbst dann, wenn sie bloss illustrieren. Die kleine Frage ist einfach, was von Mozarts Werk noch übrig bleibt, wenn seine eine Hälfte kurzerhand weggelassen und durch Erfindungen des Regisseurs ersetzt wird. Mozart? Herrmann?

Von Vorteil ist immerhin, dass durch den Ansatz David Herrmanns «Die Entführung aus dem Serail» aus der Islam-Debatte dieser Tage gelöst wird. Als Mozart das Stück schrieb, bildeten die Belagerung Wiens durch die Türken und die damit verbundenen Grausamkeiten noch absolut Teil des kollektiven Gedächtnisses. Der Klang der türkischen Schlaginstrumente bis hin zum Schellenbaum evozierte mehr oder weniger lustvolles Schaudern. Heute stehen wir an einem ganz anderen Ort, hat die Diskussion um den Islam und seine Auslegungen in Theorie und Praxis ganz andere Dimensionen angenommen. David Herrmann belässt es dabei, die couleur locale des Türkischen in Anspielungen und szenischen Randbemerkungen anklingen zu lassen: sie durch eine Kette arabischer Schriftzeichen zu evozieren, durch einen kurzen Auftritt von Choristen in Burkas und durch einen Anklang an Szenenbilder aus dem Theaterlexikon, ein liebevolles, sanft brechendes Zitat gegen Schluss der Oper. Das ist hic et nunc wohl doch eine sehr vertretbare Lösung.

Selbst der Bassa ist kein Pascha, zumal er ja nicht spricht. Er wird von Sam Louwyck verkörpert – und das in wörtlichem Sinn, denn der belgische Schauspieler, schlank, gross gewachsen, viril und agil, verfügt über eine sagenhafte szenische Präsenz. Er ist das, wovor sich Belmonte fürchtet, er ist jener Andere, der seiner Konstanze vielleicht auch noch gefiele. Womit angedeutet ist, was die Zürcher «Entführung» verhandelt: nicht die «Entführung», sondern Belmonte, seine Schwierigkeiten mit sich selber und sein Problem mit den Frauen. Nein, man muss noch einen Schritt weiterdenken: Es geht mehr noch um den Mann ganz allgemein, den Mann unserer Tage und seine heikle Befindlichkeit – denn Pedrillo und seine Blonde sind von der Kostümbildnerin Esther Geremus aufs Haar gleich eingekleidet. Beide Männer tragen die gleichen grauen Anzüge heutigen Schnitts, beide Frauen dieselben violetten Kleider. Der Unterschied zwischen dem hohen Paar und dem niederen der Diener ist eliminiert, die beiden Paare sind sozial so nivelliert, wie es diesen Tagen entspricht. Und von den beiden Männern ist der eine wie der andere: Hasenfuss und Grossmaul zugleich.

«Die Entführung aus dem Serail» demnach als Versuch, die Geschichte ganz aus der Sicht Belmontes zu erzählen, als seine ganz persönliche Imagination. Seinen Ausgang nimmt der Abend von dem Quartett am Ende des zweiten Akts, in dem die Fragilität der Beziehungen bei den beiden Paaren unverstellt ans Licht kommt. Das vermeintliche Gerücht, von dem Belmonte dort singt, ist der erste Satz. Er platzt mitten in die Ouvertüre hinein, und ausgesprochen wird er in einem gut besuchten Restaurant. Konstanze und Belmonte sitzen sich gegenüber; ihre Körpersprache lässt keinen Zweifel an der dicken Luft, die zwischen ihnen herrscht. «Man sagt», hebt er an, «nun weiter», antwortet sie – und dann schiesst es aus ihm heraus: «dass du die Geliebte des Bassa seist.» Worauf sie ihm ihr Mineralwasser ins Gesicht schleudert, sich erhebt sich und in der Toilette verschwindet: auf Nimmerwiedersehen.

Das ist das Trauma, aus dem sich im weiteren Verlauf die Geschichte eines fortwährenden Suchens, eines ängstlichen Beobachtens, eines selbstquälerischen Vermutens entwickelt – und das am Ende zur Wiederkehr des Anfangs führt. Wie auf einer Geisterbahn geht es zu. Zum surrenden Geräusch zwischen den Arien dreht sich die spektakuläre, in aller Einlässlichkeit ausgestaltete Bühne von Bettina Meyer, auf der das Öffentliche des Restaurants vom Privaten eines Schlafgemachs durch eine schmale Gasse zwischen hohen weissen Vorhängen getrennt ist. Und wie im Spiegelkabinett stösst Belmonte gegen Türen, die verschlossen bleiben, wo sie sich doch eben noch geöffnet haben, und tapst er an grosse Glasfenster, die ihn Dinge sehen lassen, die er besser nicht sähe.

Wunschkonzert mit Niveau

Das ist alles zum Teil sehr witzig angelegt und hochvirtuos durchgeführt – an guter Unterhaltung fehlt es nicht. Dennoch bleibt die Frage nach der Plausibilität; dies nicht zuletzt unter dem Eindruck, dass sich das Szenische wieder einmal verselbständigt und sich das Werk für die eigenen Interessen zunutze gemacht habe. Ist Belmonte tatsächlich die Hauptfigur, als den ihn die Inszenierung portiert? Ist er nicht vielmehr Teil eines von Mozart und seinen Librettisten sehr sorgfältig austarierten Ensembles, das durch den interpretatorischen Zugriff in Schräglage gerät? Oder dient er gar als Projektionsfläche für den Regisseur? Anlass zum Zweifel ist der Umstand, dass die dramatis personae für sich selbst genommen nicht wirklich das Profil erhalten, das ihnen der Komponist entwickelt hat.

Pavol Breslik vermeidet erfolgreich jede Larmoyanz, sein Belmonte bleibt aber trotz aller szenischen Präsenz mehr Figur als Charakter. Dasselbe gilt, logischerweise und abgewandelt, für Pedrillo als der Doppelgänger Belmontes, obwohl (oder gerade weil) Michael Laurenz sich während der Vorbereitungen zur Flucht polternd Mut macht. Dass diese Arie, in der sich Pedrillo frisch zum Kampfe ruft, ein heikles Unterfangen beschwört, den Versuch nämlich, den meist als Oberkellner kaschierten, allgegenwärtigen Aufpasser Osmin lahmzulegen und dann die beiden Damen zu befreien, das macht die Bühne nicht deutlich, man muss es wissen oder sich das Wissen vor der Vorstellung aneignen: Mozarts «Entführung» für Eingeweihte? Im übrigen ist der bedrohlich garstige Osmin von Nahuel Di Pierro neben seinem stummen Dienstherrn der einzige Mann vor Ort, der Biss hat. Äusserst klangvoll seine Stimme, fest in ihrer Tiefe verankert, dabei aber nie orgelnd – da könnte einem schon bang werden, gäbe er sich nicht am Ende als Theatertürke mit ordentlichem Krummsäbel zu erkennen.

Konturierter wirken die beiden Frauen – vor allem Konstanze. Olga Peretyatko für diese Partie zu verpflichten, war nicht ohne Risiko; ihre wunderbare Stimme hat Dimensionen angenommen, die über ein Kammerspiel wie die «Entführung» deutlich hinausreichen. Zwischendurch gibt sie ordentlich Gas, bleibt dabei aber doch stets im Rahmen der Gesamtbalance. Jedenfalls stören die Spitzen nicht, sie unterstreichen vielmehr den emanzipatorischen Zug, der in ihrer Figur angelegt ist – und was sie an technischen Wundern in ihren Auftritt einbaut, darf echt bewundert werden. Befremdlich nur, dass sie ihre beiden grossen Arien des zweiten Akts, die eine in g-moll und die Martern-Arie in C-dur, unvermittelt hintereinander zu singen hat – da führt sich des Regisseurs Versuch ad absurdum. Schade auch, dass Claire de Sévigné mit ihrem hellen, aber durchaus körperhaften Timbre die Blonde zur automatisch getriebenen Puppe machen muss. Das denunziert diese Erscheinung, die als Frau wie als Dienerin doch eigentlich einen doppelten Befreiungsversuch wagt.

Zum Schluss der Premiere schenkte das Publikum dem Bühnenteam ein heftiges Buh-Konzert, das hat in Zürich inzwischen wieder Tradition. Beim Erscheinen des Dirigenten gab es keinen Widerstand, dabei hat dieser schmächtige Junge in seinem zu grossen Anzug nicht weniger persönlich interpretiert und nicht weniger an den Rezeptionsmustern gekratzt als der Regisseur und seine Kolleginnen. Maxim Emelyanychev heisst der junge Mann; er ist kurzfristig in die Stelle von Teodor Currentzis getreten, der aus gesundheitlichen Gründen von seiner Mitwirkung hatte absehen müssen. Historisch informierte Aufführungspraxis ist hier kein Programm, sondern gelebtes Leben. Man hört es der Scintilla an, der Barockformation des Zürcher Opernhauses mit ihren alten Instrumenten, die so herrlich farbig klingen. Man entnahm es auch Einzelheiten wie den phantasievoll ausgeführten Kadenzen oder den Trillern, die nicht einfach ausgelassen, sondern explizit ausgeführt wurden – nämlich oft mit dem zugespitzt verlängerten Nebenton angefangen und dann brillant gesteigert wurden. Und an manchen Stellen hat der junge Dirigent Tempi angeschlagen, die im wörtlichen Sinn aufhorchen liessen. Wenn «Die Entführung aus dem Serail» auf der Zürcher Bühne ihren Boden verliert und zum szenisch aufgepeppten Wunschkonzert wird, so tut sie das doch auf denkbar anregendem Niveau.

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La Scintilla – respektive die Bläserformation des Orchesters, die sich La Scintilla die fiati nennt – hat Mozarts «Entführung» bei Solo Musica (im Vertrieb von Sony) auf CD aufgenommen, dies in der ausnehmend schönen Bearbeitung für Harmoniemusik aus der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen. Sehr zu empfehlen.

Keine Vertragsverlängerung mit Lionel Bringuier in Zürich

 

Peter Hagmann

Die richtige Entscheidung

Lionel Bringuier bleibt nur bis 2018 in Zürich

 

Der auf vier Jahre ausgelegte Vertrag zwischen dem Tonhalle-Orchester Zürich und seinem Chefdirigenten Lionel Bringuier wird nicht über sein Ende im Sommer 2018 hinaus verlängert. Das liess die Tonhalle-Gesellschaft Zürich am heutigen 17. August 2016 bekannt werden. Die Entscheidung erfolge in gegenseitige Einvernehmen. Seine Verpflichtungen bis zum Ende der Saison 2017/18, der ersten im Provisorium der Maag-Halle, werde Lionel Bringuier voll und ganz wahrnehmen.

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Ein junger Mann von gewinnender Erscheinung, französischer Sprache, mit einem schon ansehnlichen Leistungsausweis – so trat Lionel Bringuier im Herbst 2014 sein neues Amt als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich an. Die Begeisterung im Orchester war gross, die Musikerinnen und Musiker hatten ihn als Nachfolger David Zinmans ausdrücklich gewünscht. Tatsächlich kam musikalisch frischer Wind auf; das Orchester legte sich wie losgelassen ins Zeug, und es klang mit einem Mal ausnehmend kräftig. Jung und frei, erfrischend laut, jedenfalls in dem erwünschten neuen Geist – so wurde der Einstieg auf vielen Seiten wahrgenommen.

Wer wirklich zuhörte, konnte jedoch auf Anhieb zweierlei beobachten. Zum einen war die unbestrittenermassen vorhandene Lautstärke nicht wirklich gestaltet; sie ging nicht selten über die Kapazität des Saals hinaus, und sie liess gern jenes Mass an Differenzierung vermissen, das auch in den oberen Graden der Dynamik herrschen muss. Zum anderen wurde auch nach der Zeit der gegenseitigen Angewöhnung kein klarer interpretatorischer Ansatz fassbar. Waren bei David Zinman, meistens zum Vorteil der Kompositionen, Leichtigkeit des Tons, strukturelle Klarheit und emotionale Zurückhaltung bestimmend, schien das Orchester mit Lionel Bringuier draufloszuspielen: fröhlich, aber ohne erkennbaren Sinn. Das galt sogar bei einem Kern von Lionel Bringuiers Repertoire, bei der Musik Maurice Ravels, der die erste (und wohl auch letzte) CD-Einspielung galt.

Eine Beliebigkeit machte sich breit, die wenig zu tun hatte mit dem scharf konturierten, auch erfolgreich zu Markt getragenen Profil, welches das Tonhalle-Orchester in den zwei Jahrzehnten mit David Zinman erreicht hatte. Aufgewogen wurde das durch das vitale, engagierte Auftreten des neuen Präsidenten Martin Vollenwyder und das umsichtige, kenntnisreiche Vorgehen der neuen Intendantin Ilona Schmiel. Den beiden Stützen im Leitungsteam ist der glanzvolle Zürcher Abstimmungserfolg im Zusammenhang mit der Instandsetzung von Kongresshaus und Tonhalle zu verdanken – Lionel Bringuier hielt sich da vornehm zurück. Das kann man als Akt der Konzentration aufs rein Künstlerische vertreten. Ob es richtig ist, bleibt jedoch die Frage. Wenn man sieht, wie umfassend sich Iván Fischer in rauhem Klima um seine Orchester in Budapest und Berlin kümmert, liegt die Antwort auf der Hand.

Bewegung hat sich also eher ausserhalb des musikalischen Kerngeschäfts ergeben. Wo es um die Sache geht, begann sich Stillstand einzunisten, war ein ernsthaftes Einlassen auf die Partituren und die Entwicklung eigener Aussagen als Interpret bei Lionel Bringuier nicht zu erkennen – dazu ist der junge Dirigent viel zu beschäftigt. So ist die auf 2018 festgelegte Trennung in Ehren der richtige Schritt zur richtigen Zeit – trotz dem bevorstehenden Exil in Zürich-West. Jetzt kann die Lage überdacht und kann eine künstlerische Vision entworfen werden. Denn wenn es eines zu vermeiden gilt, so sind es die kurzzeitigen, erst euphorischen, dann aber rasch erlahmenden Engagements von Chefdirigenten, wie sie vor der Ära Zinman üblich waren. Das Tonhalle-Orchester Zürich, inzwischen durchaus mitverantwortlich, hat Besseres verdient.

René Jacobs beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Peter Hagmann

Alte Musik in neuer Freiheit

Haydns «Jahreszeiten» mit René Jacobs in der Tonhalle Zürich

 

Eine unverkennbare Art federnder Energie hatte die Interpretationen von René Jacobs schon immer ausgezeichnet – dies im Verein mit einer Kunst der Phrasierung, die sich bei Vokalmusik stets eng an den Sprachverlauf anlehnte und die dadurch gewonnenen Prinzipien der musikalischen Formung auf den Bereich der Instrumentalmusik übertrug. In den letzten Jahren allerdings hat sich die Handschrift des flämischen Dirigenten, bekannt als einer der prominentesten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, in einer bemerkenswerten Weise erweitert. Eine klangliche Opulenz, wie sie im Bereich der alten Musik vergleichsweise wenig verbreitet ist, zog in sein Musizieren ein und eröffnete ihm ganz neue Perspektiven. Ahnungen davon hatten schon die äusserst reichhaltigen, phantasievollen Ausgestaltungen des Continuo-Parts in den Aufnahmen der Opern Mozarts vermittelt. Vollends bestimmend wurden die neuen ästhetischen Auffassungen dann aber in den Einspielungen der beiden grossen Passionen Bachs.

Diese Weiterungen prägten auch das späte Debüt von René Jacobs beim Tonhalle-Orchester Zürich. Wie ihm bei den Passionen Bachs die Räumlichkeit, mithin die Aufstellung von Chor und Orchester wichtig war, spielte Jacobs bei der Wiedergabe von Joseph Haydns Oratorium «Die Jahreszeiten» in der Tonhalle Zürich ganz gezielt mit der Positionierung der Schallquellen. Die Streicher waren in deutscher Weise angeordnet – mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten und den tiefen Stimmen auf der linken Seite. Die Trompeten sahen sich zusammen mit der Pauke nach rechts gerückt, während die Posaunen von der hinteren Mitte aus erklangen. Und für die Jagdszene im «Herbst» antworteten sich zwei Hörnerpaare links und rechts oben, wobei für diese antiphonale Anlage die Hornstimmen aufgeteilt wurden.

Dazu kommt in Jacobs’ neuer Ästhetik die Lust am extravertierten Klang. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis verbunden war zum Beispiel die Verminderung der Basswirkung; der Bass wurde zurückgenommen und verschlankt – angesichts der Tatsache, dass sich diese Art des Musizierens anfänglich geradezu obsessiv vom schweren, basslastigen Ton der spätromantischen Interpretationstradition abzusetzen suchte, nichts als verständlich. Für René Jacobs ist die Zeit der Fundamentalopposition freilich längst überwunden (wenn sie für ihn je existiert hat). In den Aufnahmen der beiden Passionen Bachs klingt der Bass mindestens so kräftig wie seinerzeit bei Karl Richter – und so erstaunt nicht, dass bei den Zürcher «Jahreszeiten» das Kontrafagott munter mitbrummte: eingesetzt nach der Art eines Orgelregisters, das da und dort den Boden verstärkte und knarrend Farbe beitrug.

Das alles hat zu einem äusserst prachtvollen Klangbild geführt. Und das Tonhalle-Orchester Zürich, das sich seit den zwei Jahrzehnten mit David Zinman manches aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis zu eigen gemacht hat, war voll mit von der Partie. Grossartig die Virtuosität der Naturhörner, auch jene der Trompeten und Posaunen in alter Mensur. Und alle Musiker schienen ihr Bestes zu geben, auch wenn das, was sich bei René Jacobs von selbst versteht, nicht unmittelbar zu ihrem Alltag gehört. Bestens ins Geschehen eingefügt auch die Zürcher Sing-Akademie, die ein letztes Mal von Tim Brown vorbereitet war. Sehr agil klang der Chor, homogen und transparent zugleich; und als beim Lobgesang auf den Wein im «Herbst» ein zweites Schlagwerk mit Schellenbaum, Tambourin und Trommel dazu trat, wurde die Stimmung geradezu ausgelassen.

Ein Vergnügen erster Güte wurde diese Aufführung von Haydns «Jahreszeiten» – zu dem die drei Vokalsolisten nicht wenig beitrugen. Johannes Weisser (Bass) schien ein wenig unter Druck; im Leisen verlor seine Stimme an Substanz, im Lauten dagegen an Klarheit des Timbres. Die beiden anderen Solisten boten jedoch exquisite Leistungen: Marlis Petersen (Sopran) mit Lieblichkeit und Beweglichkeit, Werner Güra (Tenor) mit verschmitztem Humor und einem Obertonreichtum sondergleichen – und wie elegant der Sänger, wenn er in oberste Regionen zu steigen hatte, Elemente der Kopfstimme beimischte, war hohe Kunst. Zusammen mit dem farbenfrohen Orchesterklang führte die vokale Vitalität dazu, dass aus dem Oratorium bisweilen geradewegs eine Oper wurde.

Festspiele Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Alles Dada – oder fast alles

Abschluss der Ära Elmar Weingarten bei den Festspielen Zürich

 

Was waren das für Zeiten, als es in Zürich noch Junifestwochen gab. Als, im Rahmen grosser thematischer Schwerpunkte und veranstaltet von der Stadt selbst, Japan zu Gast war oder John Cage himself für erheiternde Unruhe sorgte. In den frühen neunziger Jahren war Schluss damit, angeblich aus finanziellen Gründen. Wenige Jahre später kam es zu einem Neustart – unter neuen Vorzeichen und dem neuen Namen «Zürcher Festspiele». Die Hoteliers der Stadt hatten sich über schlechten Geschäftsgang Ende Juni beklagt und waren bei Alexander Pereira vorstellig geworden, dem damaligen Intendanten des Opernhauses Zürich, von dem sie für die fragliche Zeit einen kulturellen Akzent und in der Folge eine kommerzielle Belebung erhofften.

So kam es vor zwanzig Jahren zu den Zürcher Festspielen, die eigentlich keine Festspiele waren. Denn die Stiftung, die sie ausrichten sollte, verfügte über geringe Mittel und dementsprechend wenig Handlungsspielraum. Im Stiftungsrat vertreten waren die grossen Zürcher Kulturinstitute, die von den Subventionsgebern aufgerufen waren, das Ende der Saison mit besonderem Glanz zu versehen. Wenn sich dieser Glanz einstellte, dann am ehesten in den Preisen, die das Opernhaus für seine Vorstellungen im Rahmen der Festspiele verlangte. Inhaltlich ergab sich kein Profil, da jedes der grossen Kulturinstitute sein ohnehin vorgesehenes Programm präsentierte – und es, weil ja Festspiele waren, mit einem speziellen Fähnchen versah.

Neue Ausrichtung

Das wurde erst anders, als Elmar Weingarten, mit seinem Ideenreichtum und seiner Konzilianz prädestiniert für diese Aufgabe, vor vier Jahren den widerwilligen Stier bei den Hörnern packte. Er übernahm die Leitung der Festspiele 2012 noch als Intendant des Tonhalle-Orchesters Zürich und führte die Geschäfte nach seinem Rücktritt beim Orchester 2014 weiter. Vier Ausgaben der Festspiele sind unter Weingartens gütiger Hartnäckigkeit zustande gekommen. Die Institution hat in dieser Zeit nicht nur ihren Namen gewechselt: von den eher lokal gedachten «Zürcher Festspielen» zu den «Festspielen Zürich» mit bewusst internationaler Ausstrahlung. Das Festival hat auch, und vor allem, ein Gesicht erhalten. Denn Weingarten hat den thematischen Schwerpunkt, der die Junifestwochen ausgezeichnet hatte, wieder eingeführt und ihn den neuen Bedingungen der Festspiele gemäss rehabilitiert.

Den Geburtsfehler der Institution hat auch Weingarten nicht beheben können. Tatsache ist, dass für die Festspiele Zürich mit dem Opernhaus und dem Tonhalle-Orchester sowie dem Schauspielhaus und dem Kunsthaus vier grosse Kulturinstitute der Stadt zusammenarbeiten sollten, die das aber nicht unbedingt wollen, ja der unterschiedlichen Planungsfristen wegen gar nicht können – was der Entwicklung einer gemeinsamen Dramaturgie fundamental im Wege steht. Dass die Festspiele dennoch ihr Profil so schärfen konnten, wie es geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Es basiert auf der Einsicht, dass eine Veranstaltungsreihe von einem thematischen Kern, einer thematischen Leitlinie nichts als profitieren kann – und dass sie selbst dann profitieren kann, wenn nicht alles und jedes im Angebot dem Thema gehorcht.

So hat Elmar Weingarten den Festspielen Zürich neue Horizonte eröffnet; er hat seinen Partnern die nötigen Freiheiten gelassen, zugleich aber als Anreger gewirkt und selber beherzt als Veranstalter agiert. Das mag zu einem gewissen Überangebot wie zu Terminkollisionen geführt haben, es hat dem Zürcher Kulturleben vor dem Beginn der sommerlichen Schulferien aber auch eine spürbare Zufuhr von frischer Luft und bunter Vielfalt verschafft. Alle sind sie in ihrer Weise unvergessen, das «Treibhaus Wagner» 2013, «Prometheus» mit der grandiosen Aufführung von Luigi Nonos Hörtragödie im Jahr darauf, «Shakespeare» 2015 und diesen Sommer, hundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, «Dada – zwischen Wahnsinn und Unsinn». Und heuer, nicht zu unterschätzen, lagen die Festspiele auch erstmals etwas früher als ehedem, um die Sommer-Ausstellung des Kunsthauses besser ins Gesamtprogramm einzubinden.

Dada und die Musik

Eine der Spezialitäten der vier zurückliegenden Jahre bestand darin, dass es nicht der Künstlerische Leiter allein war, der die Ideen entwickelte, dass Elmar Weingarten vielmehr seine Gattin Claudia von Grote zu Seite stand; entschieden wirkte sie an der Ausarbeitung der dramaturgischen Ansätze mit. So gab es dieses Jahr etwa eine Reihe von Soiréen, bei denen sich die Dada-Bewegung mit den etablierten Künsten traf, aber auch eine Folge von Begegnungen mit Dada in Zürcher Privatwohnungen – analog einer Idee, wie sie an den Wiener Festwochen seit langem üblich ist. Die Musik dagegen, sie geriet beim Thema dieses Jahres etwas in den Hintergrund – wenn auch nicht ganz. Das Infragestellen und das Aufbrechen herkömmlicher Rituale fand auch in der Musik statt, und vor allen Dingen setzte es sich bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in die Jetztzeit hinein fort.

Von solchem berichtete die grosse Dada-Nacht in der Tonhalle Zürich, die auf den Punkt genau um 19.16 Uhr begann und einen langen Abend währte. Wie ein Wirbelwind fegte Ursula Sarnthein, Bratscherin im Tonhalle-Orchester, durch den dritten Satz der Sonate für Viola allein, op. 25 Nr. 1, von Paul Hindemith; sie nahm die Vorschrift des Komponisten, dieses Stück Musik in rasendem Zeitmass und wild zu spielen, Tonschönheit sei dabei Nebensache, atemberaubend beim Wort. Wie viel Dada in Mauricio Kagel steckt, erwies dessen Stück «Match» für zwei Celli (Thomas Grossenbacher und Karolina Öhmann) und Schlagzeug (Erika Öhmann) von 1964. Und in ihrer Weise dadaistisch schräg die «24 Duos» von Jörg Widmann, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Ihre Höhepunkte fand die dadaistisch-musikalische Veranstaltung freilich im Auftritt der Stimmkünstlerin Salome Kammer, die dadaistische Sprechstücke aus ihrer persönlichen Schatzkammer präsentierte und neue Werke auf den Spuren Dadas dazustellte. Zur grossartigen Ausstrahlung der weit ausserhalb jeder Norm stehenden Sängerin kam die Kunst der Diseuse, die ihre Stimme in unglaublicher Weise zu wandeln versteht. Jedenfalls konnte man gewahr werden, wie sehr auch im deutschsprachigen Umfeld der Tonfall allein Bedeutungsträger sein kann.

Die Kunst der Interpretation

Neben Dada setzte sich das quasi normale Kunstleben fort – mit seinen helleren wie seinen dunkleren Seiten. Im Opernhaus trug der Bariton Christian Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber «Die schöne Müllerin» von Franz Schubert in einer Weise vor, dass einem das Blut ins Stocken geriet. Schon das scheinbar simple Strophenlied des Beginns liess kaum Heiterkeit aufkommen. Wenige Lieder später war klar, dass dem Müllerburschen, der hier von sich singt, grausam mitgespielt wird, dass die Müllerstochter alle vorführt, auch ihren Vater, und dass sie sich ganz rasch für den schmucken Jäger in Grün erwärmen wird, worauf dem Verschmähten nichts als der Sturz ins kalte Wasser des munter plätschernden Bächleins bleibt. Da in dem singenden Sprechen oder dem sprechenden Singen Gerhahers so gut wie jedes Wort verständlich war, wurde der Liederzyklus, den der Sänger mitsamt den von Schubert nicht vertonten Gedichten vortrug, zu einer ganz eigenen, äusserst dramatischen Erzählung, während die Dichtung des verkannten Wilhelm Müller in neuer Würde erschien. Ganz zu schweigen von der Vertonung Schuberts, die mit ihren Schlünden und ihren Abgründen an diesem Abend zutiefst erschütternd wirkte.

Solche Kunst der Interpretation ist für Lionel Bringuier, den Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich, ein Fremdwort. Weil es sich um den sinfonischen Erstling eines jungen, ambitionierten Komponisten handelt und weil im Untertitel von einem Titanen die Rede ist (allerdings in Anspielung an einen Roman von Jean Paul), stürmte Bringuier ohne Rücksicht auf Verluste durch die erste Sinfonie von Gustav Mahler – am Tag nach der «Schönen Müllerin» bot das reichlich Ernüchterung. Für eine Vortragsanweisung wie «gemächlich» hat er keinen Sinn; wenn er darf, dreht er die Laustärke sogleich und mächtig auf. Und um das etwas weinerlich Weiche der k.u.k-Mentalität schert er sich ebenso einen Deut wie um die ironische Doppelbödigkeit, die sich ganz besonders im langsamen Satz mit seinen verfremdenden Anklängen an «Frère Jacques» manifestiert. Dass musikalische Interpretation auch und gerade einen Akt der Sinngebung beinhaltet und dass dieser Akt seine intellektuelle Basis haben muss, das scheint Bringuier keineswegs zu kümmern – das ist das Verstörende an diesem unglaublich sympathischen und zugleich erschreckend naiven jungen Musiker. Wie soll das nur weitergehen?

Solche Fragen stellen sich bei Fabio Luisi nicht, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich weiss genau, was er will – das zu hören und zu erleben, bringt Erlebnisgewinn, auch wenn es unter dem Strich nicht überall aufgeht. Bei «I Puritani», der letzten Oper Vincenzo Bellinis, die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Festspielen herausbrachte, gedachte Luisi ans Licht zu heben, welch neue Bedeutung Bellini dem Orchester zumass. Das ist ihm an mancher Stelle vorzüglich gelungen, das Orchester der Oper Zürich stellte prachtvoll heraus, dass Bellini zu Recht stolz war auf seine Mühewaltung im Bereich der Instrumentation. In anderen Momenten aber explodierte die Lautstärke, dröhnte der Chor, schrien die Sänger, tutete das Orchester, als wären alle gegen alle, vor allem alle gegen die Partitur. Und das in einem Bühnenbild, das den Schall sehr direkt in den kleinen, für ein Sprechtheater konzipierten Zuschauerraum des Zürcher Stadttheaters abstrahlte. Der schwere, kreisende Zylinder, den Henrik Ahr entworfen hat, gab dem Regisseur Andreas Homoki Gelegenheit, eine Bildfolge zu entwickeln, die den narrativen Strang des eigenartig an Ort und Stelle tretenden Librettos erkennen liess. Und die Umdeutung des lieto fine in eine finale Katastrophe passte in ihrer drastischen Konkretisierung ganz und gar in diese Zeiten. Mit dem stimmgewaltigen, höhensicheren Lawrence Brownlee (Arturo) und der nicht weniger ausstrahlungsmächtigen Pretty Yende (Elvira) war die Szene durch zwei vorzügliche Protagonisten beherrscht.

Das waren die Festspiele Zürich 2016. Elmar Weingarten verabschiedet sich definitiv. Unter gründlich erneuerter Leitung sollen die Festspiele jetzt zur Biennale werden. Was das heisst, wird sich weisen.

Schöne neue Musik

 

Peter Hagmann

Weiter Blick, farbiger Klang

«Glut» von Dieter Ammann, eine Uraufführung beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Elf Orchester und je drei Auftragskompositionen innerhalb dreier Jahre – das ist das Projekt «Œuvres suisses», das die im Verband «orchester.ch» organisierten Sinfonieorchester der Schweiz und die Schweizer Kulturstiftung «Pro Helvetia» verfolgen. 33 neue Werke für grösser oder kleiner besetzte Klangkörper kommen da zusammen, und sie sollen, so der fromme Wunsch, nicht nur von den Auftraggebern aus der Taufe gehoben, sondern auch für zweite und dritte Einstudierungen an die anderen Orchester weitergereicht werden. Mit im Boot ist zudem das Radio; SRF2 schneidet die Uraufführungen mit und stellt diese Aufzeichnungen dann für eine CD-Box zur Verfügung.

Das Projekt richtet sich an Komponistinnen und Komponisten, die den Schwerpunkt ihres Wirkens in der Schweiz haben. Seinen Anfang nahm es mit «Vergessene Lieder» von Nadir Vassena, uraufgeführt im Dezember 2013 durch das Orchestra della Svizzera italiana unter der Leitung von Ion Marin. Seither ist einiges geschehen, denn inzwischen stehen wir bei der Nummer 26, der «Erosion» von Martin Wettstein – die sinnigerweise am genau gleichen Abend vom Musikkollegium Winterthur vorgestellt wurde wie die Nummer 25, nämlich «Glut» von Dieter Ammann, herausgebracht vom Tonhalle-Orchester Zürich. Es lebe der Föderalismus.

Die Idee mag in Zeiten, da auch in künstlerischen Bereichen die nationalen Grenzen sich doch deutlich relativiert sehen, nicht ganz taufrisch wirken. Auch war nicht zu erwarten, dass das Projekt zu 33 Neuentdeckungen führt; es geht da mehr um eine Bereicherung des Repertoires auf der Basis des Status quo. Für Überraschungen bleibt aber gleichwohl Raum, wie das jüngste Werk Dieter Ammanns erwies. «Glut» ist ein wunderbares, in seiner Weise herrlich schönes, dabei ganz und gar gegenwärtiges Stück Musik – die Uraufführung mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Markus Stenz unterstrich es.

Eine Tondichtung ist «Glut» nicht, dennoch gehen die Gedanken in diese Richtung. In seiner weiten räumlichen Anlage, seinem vielschichtigen Umgang mit klanglichen Flächen und den immer wieder einbrechenden Eruptionen berichtet das Stück durchaus von dem, was sein Titel andeutet – lässt es an eine glühende Feuerstelle denken. Die Energie ist da sozusagen zurückgenommen ins Innere des Glimmens. Ruhe und Bewegung herrschen zugleich; im selben Mass, in dem Liegendes und Flächiges dominieren, flackert es hier, schiesst dort etwas auf. Immer wieder verdichten sich die Kräfte, kommt es zu kurzen Flammenbildungen, bisweilen sogar zu Momenten repetitiver Bewegung.

All das ist mit beeindruckender Sicherheit der Formulierung, mit blendendem Sinn für die Dramaturgie der Abläufe und in souveränem Umgang mit dem grossen Orchesterapparat in Klang gesetzt. Natürlich ist die Dissonanz hier längst emanzipiert, steht sie nicht mehr in Abhängigkeit zur Konsonanz, in die sie sich auflösen muss, wir befinden uns ja im 21. Jahrhundert. Davon spricht auch der selbstverständliche Einbezug von Mikrointervallen, die zur Verdichtung des klanglichen Gewebes beitragen, sowie ausserdem, ja vor allem, der Einsatz eines üppig besetzten Schlagzeugs. Von ferne erinnert die phantasievoll ausgedachte Vielfalt der perkussiven Klangwirkungen an die «Notations» von Pierre Boulez. Zugleich und ebenso sehr kommt es zu betörend sinnlichen Akkordbildungen mit hinzugefügten Sexten und Nonen, wie sie Olivier Messiaen geliebt hat. Und lässt die Kunst der Instrumentation, zum Beispiel die Einbindung der tiefen Blechbläser in einen vielfach geteilten, sirrenden Streicherklang, an Richard Strauss denken.

So verbindet sich in «Glut» das starke Eigene des Komponisten Dieter Ammann mit der weiten Welt dessen, was den Komponisten (und somit uns) musikalisch umgibt – ohne dass aus den Anklängen eine Ideologie gemacht würde. Die unverkrampfte, geradezu spielerische Freiheit im Umgang mit bestehendem musikalischem Material und dessen Integration in die individuelle Handschrift, das erscheint als das eigentlich Zeitgemässe an diesem nur eine Viertelstunde dauernden, äusserst ereignisreichen Werk. Dass es der ebenso temperamentvolle wie in diesem Repertoire besonders erfahrene Dirigent Markus Stenz zusammen mit dem hochgradig engagierten Tonhalle-Orchester Zürich so plastisch zu formen verstand, dass er es in so kraftvoller Gestaltung Klang werden liess, sicherte der Uraufführung ihre Wirkung.

Danach gab es in einem mutigen Akt der Programmgestaltung das selten gespielte, unvollendet zurückgelassene Bratschenkonzert von Béla Bartók mit dem grossartigen Solisten Nils Mönkemeyer und eine sehr persönliche, kräftig zugreifende, in der Tempogestaltung attraktive Auslegung der zweiten Sinfonie, C-dur, von Robert Schumann. Wie sehr sich das Zürcher Orchester an einer starken und darum fordernden interpretatorischen Handschrift zu entzünden vermag, ist in der jüngeren Vergangenheit etwas in Vergessenheit geraten. Hier war es wieder einmal zu erleben.

Golaud et Mélisande

Pelléas
Golaud (Kyle Ketelsen) und Mélisande (Corinne Winters) in der Zürcher Oper / Bild Toni Suter T + T Fotografie, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Männerwirtschaft, schonungslos demaskiert

«Pelléas et Mélisande» von Debussy im Opernhaus Zürich

 

Im Grunde gibt es nur zwei Wege, das Stück auf die Bühne zu bringen: so, wie es Claude Debussy auf den Text von Maurice Maeterlinck ersonnen hat, oder eben nicht so. Beide Wege haben ihre Gültigkeit – besonders dann, wenn sie kompromisslos und konsequent ausgeschritten werden. Als in den frühen neunziger Jahren Peter Stein «Pelléas et Mélisande» herausbrachte, er tat das in der Abgeschiedenheit der Welsh Opera von Cardiff, aber doch zusammen mit Pierre Boulez am Dirigentenpult, entschied er sich für eine Lesart, welche die Bühnenanweisungen eins zu eins in szenische Realität überführte. Der Turm war der Turm, Mélisande trug ihre Haare so lang, dass sie tatsächlich auf Pelléas herniederfallen konnten, und selbst die Tauben, die in diesem Augenblick aus dem Gemäuer emporfliegen, waren Tauben, richtige nämlich. Das wirkte klassizistisch, ein wenig leblos vielleicht, in seiner Geradlinigkeit vermochte es aber durchaus zu packen.

Genau das Gegenteil davon ist jetzt im Opernhaus Zürich zu erleben: in einer konzis durchdachten und fabelhaft ausgearbeiteten Produktion von «Pelléas et Mélisande», die sich radikal von der originalen Einkleidung der Geschichte verabschiedet, das Thema des Stücks vielmehr in ganz eigener Weise aufbereitet. In der Sicht des Regisseurs und Bühnenbildners Dmitri Tcherniakov ist das Schloss Allemonde eine moderne Villa, durch deren Fenster jener dichte, tiefe Wald sichtbar wird, von dem an verschiedenen Stellen des Stücks die Rede ist. Es ist der Wald des Unbewussten, und betrachtet wird er von einer Familie, in der die Kunst der Psychotherapie gelebt wird. Das obligate Glas Wasser steht immer bereit, Hypnose gehört dazu, und selbst Yniold, der jüngste Spross, übt sich früh, wenn er den Schäfer auf die Couch zwingt und sich protokollierend danebensetzt. Dominiert wird der Clan durch Arkel, der vom Alter sichtlich gebeugt ist, deshalb an Charisma und Autorität jedoch nicht das Geringste eingebüsst hat. Wie Brindley Sherratt das verkörpert und wie er es mit seinem festen, voluminösen Bass in Klang setzt – allein schon das ist ein Erlebnis.

Ein Trauma und seine Wirkung

Zu Beginn sitzt die Familie im Hintergrund am Esstisch beim Tee – bis, ein veritabler coup de théâtre, das Licht auf einen Schlag erlischt und das Haus in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Zu den ersten Klängen aus dem Graben erscheint eine Schrift, ein wenig wie im epischen Theater Bertolt Brechts. Der Psychiater Golaud, heisst es sinngemäss, habe sich in seine Patientin Mélisande verliebt und bringe sie nach Hause, um die Therapie dort fortzusetzen. Womit alles gesagt ist und das Unglück seinen Lauf nehmen kann. Golaud, sonst gerne auf eine Nebenrolle als Bösewicht reduziert, erscheint hier als der eigentliche dramatische Täter, Pelléas tritt später und eher zufällig auf und stiehlt sich am Ende fast unbemerkt davon – nichts von dem tödlichen Hieb Golauds, den das Libretto erwähnt. Und erst noch Mélisande. Sie ist in Zürich alles andere als die geheimnisvolle, zartgliedrige Schönheit mit langem blondem Haar, als die sie in der Regel erscheint. Nein, sie ist ein kratzbürstiges Strassenmädchen ganz in Schwarz, mit schwerem Schuhwerk, zerschlissenen Jeans und dunklen Ringen um die Augen. Dass diese junge Frau eine schwere Bürde trägt, ist nicht zu übersehen.

Bei Docteur Golaud ist sie allerdings an den Falschen geraten. Mit seinem virilen Bariton und dem eleganten Outfit, das ihm die Kostümbildnerin Elena Zaytseva auf den Leib gezaubert hat, gibt sich Kyle Ketelsen als der berühmte Mann in den besten Jahren zu erkennen. Er denkt zuerst an sich und dann nochmals an sich. Doch je länger ihm der Erfolg versagt bleibt – und er bleibt ihm versagt, obwohl ihm Mélisande am Ende eine Tochter gebiert –, desto krasser gerät er auf die schiefe Bahn, die bestialische Demütigung Mélisandes, für die es in dieser Inszenierung kein Schwert braucht, sagt diesbezüglich alles. Pelléas ist kein Haar besser. Jacques Imbrailo hat stimmlich wie darstellerisch das Zeug zum jugendlichen Liebhaber und Sympathieträger, aber er macht Worte, unendlich viele Worte, er zögert, obwohl sich ihm Mélisande wieder und wieder an die Brust wirft – und wenn es am Ende doch zum Kuss kommt, wirkt dieser scheue Höhepunkt der Oper fast wie ein Zufall. Zum Titelhelden taugt dieser Pelléas nicht, daran lässt Tcherniakov keinen Zweifel; «Golaud et Mélisande» müsste das Werk Debussys hier heissen.

Oder vielleicht einfach: «Mélisande». Durch ihr Trauma gebrochen und damit elementar auf sich selbst zurückgeworfen, trägt diese junge Frau eine unsichtbare Schutzhülle um sich. So wie Golaud als Täter erscheint, der zum Opfer (seiner selbst) wird, so tritt Mélisande als Opfer auf, das gerade in seiner Unberührbarkeit von stärkster Wirkung ist. Die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde – als Geneviève hat Yvonne Naef zwar einen wirkungsvollen Auftritt, doch bleibt die Mutter Golauds eine Randfigur –, die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde wird durch Mélisande jedenfalls kräftig durcheinandergebracht. Corinne Winters setzt das blendend um. Trotzige Ablehnung und verletzliche Zartheit sind im Spiel der jungen Amerikanerin gleichermassen präsent, und in ihrer flexiblen Stimme vermischt sich das Rauhe mit dem Sirenenhaften. Dazu kommt eine hervorragende Diktion – wobei das für alle Mitglieder dieses sehr speziellen, sehr exquisiten Ensembles gilt.

Spannung von A bis Z

Nichts an diesem Abend ist vom Regisseur dazu erfunden, er nimmt bloss den Text beim Wort. Und lässt ihn in einem ganz und gar gegenwärtigen Ambiente eine Dringlichkeit finden, wie sie bei «Pelléas et Mélisande» selten eintritt. Die Geschichte kommt einem heftig nah – auch weil der Abend, genau gleich wie Verdis «Macbeth» vor einem knappen Monat, aus einem Guss geformt ist. Die auf der Bühne erscheinenden Physiognomien spiegeln sich grossartig in deren stimmlichen Profilen, während unter der Leitung von Alain Altinoglu die Philharmonia Zürich mit jenem symphonischen Selbstbewusstsein agiert, das die Partitur nahelegt, ohne dabei aber die Sänger zu bedrängen. Gewisse Probleme der Balance werden sich noch einpendeln, und dass die Musik Debussys hier insgesamt etwas direkt wirkt, mag auch auf den vergleichsweise kleinen Raum im Opernhaus Zürich zurückgehen. Mit äusserster Sorgfalt mischt der Dirigent die Farben, so dass sich klangliche Mixturen in grosser Vielfalt ergeben – und das Geschehen auch musikalisch jenes Knistern entstehen lässt, das diese Begegnung mit einem impressionistischen Werk zu handgreiflicher Spannung bringt.

Kulturpolitik und Volkes Wille – in der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Mit voller Kraft voraus

Das Tonhalle-Orchester Zürich blickt nach vorn

 

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Das gibt es nur in der Schweiz: Dass Stimmbürger über die Existenz eines Orchesters befinden. In Winterthur gab es das, und das dortige Musikkollegium hat damals kräftigen Sukkurs aus der Bevölkerung erhalten. Bei der Volksabstimmung, die am 5. Juni in Zürich stattfindet, geht es nur indirekt um das Tonhalle-Orchester. Dies allerdings in existentieller Weise. Denn vom Ausgang der Abstimmung über die Umgestaltung des Kongresshauses und die Renovation der Tonhalle hängt, das lässt sich durchaus so sagen, nicht weniger als der Weiterbestand des Tonhalle-Orchesters ab. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, pflegt es in diesen Tagen noch und noch auszusprechen. Ohne das geplante Bauvorhaben muss die Tonhalle-Gesellschaft die Zahl der Plätze im Grossen Saal von derzeit 1500 auf 750 reduzieren, das verlangen die Sicherheitsvorschriften, deren Einhaltung von der Feuerpolizei seit Jahren angemahnt wird. Mit der Hälfte der Sitze aber lässt sich das Orchester so, wie es heute besteht, nicht halten, die durch den Konzertbetrieb erwirtschafteten Mittel wären zu gering.

Mit Augenmass

Von den politischen Parteien hat sich einzig die SVP gegen das Kongresshaus-Projekt ausgesprochen. Sie stört sich an der Höhe der Kosten; das Innere des Grossen Saals zum Beispiel werde mit einem für die Partei nicht nachvollziehbaren Aufwand restauriert. Das ist freilich kein Argument, sondern einer jener Hüftschüsse, für welche die SVP bekannt ist; mit Hüftschüssen aber lässt sich nicht politisieren, wenigstens nicht auf dem hierzulande üblichen Niveau. In Tat und Wahrheit ist es so, dass von den 240 Millionen Franken, die für das Projekt veranschlagt sind, allein 73 Millionen Franken für die Entschuldung der Kongresshaus-Stiftung und deren Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Stiftung benötigt werden. Und dass von den verbleibenden 167 Millionen Franken der Löwenanteil an den Umbau des Kongresshauses und die dringend erforderliche Anpassung des Gebäudes an die heute gelten Massstäbe in punkto Technik und Sicherheit gehen. Dass bei einem derartigen Eingriff in die Bausubstanz auch der Grosse Saal gründlich überholt wird und dass dabei in gleicher Weise wie beim Kongresshaus die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands angestrebt wird, ist nichts als vernünftig.

Die optische Anmutung eines Konzertsaals darf nicht ausser Acht bleiben. Als ich in den späteren achtziger Jahren nach Zürich kam und das Tonhalle-Orchester einigermassen deprimiert zu Boden lag, wurde dieser Eindruck unterstützt durch das Grau in Grau des an sich opulent gedachten Grossen Saals – durch eine Farbgebung, die nicht dem ursprünglichen Zustand entspricht, sondern auf eine später durchgeführte Renovation zurückgeht. Inzwischen hat sich das Tonhalle-Orchester mächtig erhoben; es hat sich ein im Vergleich zu damals ganz anderes künstlerisches Profil erworben, weshalb es die Wiederherstellung des Saals mehr als verdient hat. Angestrebt wird, nicht zuletzt dank Elmar Weingarten, dem früheren Intendanten des Orchesters, eine leuchtend festliche Farbgebung, wie sie bei der Eröffnung der Tonhalle 1895 vorhanden war – und wie sie sich anhand der noch vorhandenen Farbschichten erschliessen lässt. Welche Wirkung ein solcher Schritt haben haben kann, war 1989 in Basel zu erleben, als der Musiksaal im dortigen Stadtcasino nach einer Renovation, die den Urzustand von 1876 wiederherstellte, mit einem Mal in fröhlichem pompejanischem Rot erstrahlte.

Über die Wiederherstellung des Grossen Saals in der Tonhalle Zürich hinaus soll auch der Hinterbühnenbereich auf Vordermann gebracht werden, sollen also die Aufenthaltsbedingungen für die Musikerinnen und Musiker, die hier immerhin ihren Arbeitsplatz haben und beträchtlich Lebenszeit verbringen, auf ein menschenwürdiges Mass angehoben werden. Weder die Garderoben noch die sanitären Anlagen entsprechen heutigen Gepflogenheiten, die zum Teil sehr wertvollen Instrumente müssen unter Bedingungen aufbewahrt werden, die Schäden zur Folge haben können. Zu diesem Zweck müssen zwei Nachtclubs weichen, die an dieser Stelle ohnehin am nicht eben richtigen Platz waren. Dies alles geschieht im Rahmen einer Neugestaltung des Kongresshauses, das für einen Kongressbetrieb der heutigen Zeit fit gemacht werden soll. Anders als bei dem Neubau-Projekt des spanischen Architekten Rafael Moneo, das 2008 an der Urne gescheitert ist, soll der Bau von Haefeli Moser Steiger aus dem Jahre 1939 insgesamt in seinen ursprünglichen Zustand werden. Die umstrittenen Zubauten von 1985 sollen wieder abgetragen und durch moderate Erweiterungen ersetzt werden, die das Äussere des Gebäudes nicht tangieren, in seinem Inneren jedoch die dringend notwendigen Optimierungen möglichen machen.

Mit voller Kraft voraus

Bei der Volksabstimmung vom 5. Juni geht es also im Grunde um drei Aspekte, nämlich um das Kongresshaus, um die in das Kongresshaus integrierte Tonhalle mit ihrem Orchester und um die Struktur der Trägerschaft dieser Einrichtungen. Aus dem Blickwinkel der Kulturstadt Zürich ist es die Tonhalle, die im Zentrum steht. Dessen ist sich das Orchester bewusst, und so hat es jetzt, gut vier Wochen vor dem Urnengang, das Programm für die Saison 2016/17 vorgelegt. Dabei zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner dritten Spielzeit unter der neuen Leitung mit dem Chefdirigenten Lionel Bringuier, der Intendantin Ilona Schmiel und dem Präsidenten Martin Vollenwyder in voller Blüte. Dieser Institution durch ein Nein an der oder das Fernbleiben davon die Lebensader zu kappen, wäre ein Fehler von fürwahr historischem Ausmass.

Lionel Bringuier, der ein gutes Drittel der etwas mehr als einhundert Konzerte dirigiert, wendet sich in der neuen Saison den Ballets Russes zu, jenen meist gross besetzten Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert, die im Umkreis um den Intendanten Serge Diahilew entstanden sind. So sind denn der «Sacre du printemps» und «L’Oiseau de feu» von Strawinsky oder «Der Dreispitz» von de Falla zu hören. Bringuier erarbeitet aber auch deutsches Repertoire, Schumanns Vierte etwa oder von Mendelssohn ebenfalls die Vierte sowie den «Lobgesang». Unter den Gastdirigenten finden sich die grossen Alten wie Herbert Blomstedt, Bernard Haitink oder der Ehrendirigent David Zinman, aber auch einige Newcomer wie Jakub Hrůša, der demnächst die Leitung der Bamberger Symphoniker übernehmen wird, oder die drei Damen Emmanuelle Haïm, Barbara Hannigan und Alondra de la Parra. Aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis sind John Eliot Gardiner, der mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique kommt, Thomas Hengelbrock und Philippe Herreweghe angekündigt. Macht alles ziemlich neugierig.

Besondere Aufmerksamkeit erweckt auch die nochmals verstärkte Hinwendung zur neuen Musik, die beim Tonhalle-Orchester, das darf auch einmal ausgesprochen werden, inzwischen ganz selbstverständlich dazugehört. An vorderster Front tragen dazu bei der «Artist in Residence» Martin Grubinger, ein Schlagzeuger von unglaublichem Können und sensationeller Breitenwirkung, sowie der Dirigent und Komponist Peter Eötvös als Inhaber des «Creative Chair». Taktisch ausgesprochen geschickt, diese Mischung zwischen alt und jung, zwischen avanciert und ohrenfällig – und Zeichen für die prickelnde Lebendigkeit, die beim Orchester inzwischen zum Alltag gehört. Damit gemeint sind nicht nur die zahlreichen Angebote an jüngere Konzertbesucher, das bezieht sich auch auf den Kalender an sich. Im Januar 2017 zum Beispiel folgen sich Kent Nagano, der die «Eclairs sur l’Au-Delà» dirigiert, ein wunderschönes Spätwerk von Olivier Messiaen, und Christoph von Dohnányi, der die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla Bartók im Gepäck hat, worauf der vom SWR her rühmlich bekannte François-Xavier Roth mit der spätromantischen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg erscheint und ihm dann das hochgelobte Schumann-Quartett mit einem Kammermusikabend nachfolgt. Am Totenbett, das von den Medien und ihren Managern für die klassische Musik so gern heraufbeschworen wird, geht es anders zu.

Westwärts

In voller Fahrt (und temperamentvoll angeleitet durch Giovanni Antonini) steuert das Tonhalle-Orchester Anfang Juli 2017 auf einen Abschied zu. Dann heisst es: Koffer packen, westwärts ziehen – hoffentlich, nein, sicherlich. Für die drei Spielzeiten bis 2020 nimmt das Orchester seinen Sitz in einem dannzumal fertiggestellten Provisorium auf dem Maag-Areal ein, in unmittelbarer Nähe des Schiffbaus, der Zürcher Hochschule der Künste und der Probebühnen des Opernhauses. Was von diesem Übergangssaal schon sichtbar geworden ist, lässt einiges erwarten. Und wer sich an den temporären Konzertsaal von 1997 in der Luzerner von-Moos-Halle erinnert, als das dortige Kunsthaus abgebrochen und das KKL noch nicht fertiggestellt war, wird keinen Zweifel am Wert dieser Übergangslösung in Züri-West hegen.

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So soll sich der Konzertsaal im Zürcher Maag-Areal, der provisorische Sitz des Tonhalle-Orchesters Zürich in den Jahren 2017 bis 2020, präsentieren / Visualisierung von Spillmann Echsle Architekten, Bild Tonhalle Zürich

 

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.

Festival Alte Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Neue Alte Musik

«Trauer und Trost» – in Klängen aus dem 16. Jahrhundert

 

Vor Mozart, vor Bach, selbst vor Monteverdi gab es schon kunstvoll gemachte Musik: alte Musik eben oder, wenn man will, Alte Musik (wobei ja schon Bach zur alten Musik gerechnet wird). Seit dem zweiten Aufbruch, an dessen Dynamik Nikolaus Harnoncourt entscheidenden Anteil hatte, also seit ungefähr 1950, hat sich diese alte Musik ein ungeheuer weites Feld geschaffen. Von den pionierhaften Anfängen, die an den schmalen Fluss kurz nach der Quelle erinnern, ist sie zu einem breiten Strom geworden; sie hat sich ihren eigenen Markt geschaffen mit spezialisierten Interpreten, CD-Labels, Festivals und, nicht zuletzt, einem gewaltig gewachsenen Publikum. Jedenfalls ausserhalb der musikalischen Weltstadt Zürich.

In der Stadt Zwinglis stösst alte Musik auf vergleichsweise geringe Beachtung. Während in den Anlässen der «Resonanzen», des gut einwöchigen Festivals im Wiener Konzerthaus, die Säle zum Bersten voll sind und die Interpreten so gefeiert werden wie andernorts die Pavarottis und die Domingos, findet sich zu den Konzerten des Forums Alte Musik Zürich ein seinerseits spezialisiertes, spürbar engagiertes, aber zahlenmässig ernüchternd kleines Publikum ein – ganz ähnlich wie dort, wo die Tonkunst unserer Tage im Zentrum steht. Es geht halt nichts über den guten Brahms. Und was man nicht kennt, mag man eben nicht.

Phantasievolle Programme für Spitzeninterpreten

Das ist nun allerdings ein Fehler. Denn was das von der Stadt und einer Reihe weiterer Institutionen unterstützte Forum Alte Musik Zürich unter der Leitung der Musikerin Martina Joos und des emeritierten Musikredaktors Roland Wächter realisiert, braucht keine Vergleiche zu scheuen. Seit 2002 gibt es bei der 1995 gegründeten Konzertreihe jedes Jahr ein Festival zu einem Thema aus dem Bereich der alten Musik, seit 2007 sind es sogar deren zwei. Sie erstrecken sich jeweils über zwei Wochenenden und bieten Veranstaltungen verschiedenster Art – vom wissenschaftlichen Symposion bis zum Apéro-Konzert. Und das an den unterschiedlichsten Orten: Im Frühjahr 2014 etwa gab es eine musikalische Stadtwanderung, die im Hotel Hirschen, im Zentrum Karl der Grosse, im Zunfthaus zur Waag und im Lavatersaal nächst St. Peter vier Stationen aus der älteren Musikgeschichte Zürichs veranschaulichte. Die Kirche St. Peter mit ihrem herrlichen, stuckverzierten Innenraum bildet in dieser Reihe der Lokalitäten gewiss einen Höhepunkt.

Ausserdem empfangen die Örtlichkeiten immer wieder hochkarätige Interpreten. Die Camerata Köln oder die Akademie für Alte Musik Berlin waren ebenso zu Gast wie Kristian Bezuidenhout am Fortepiano, der Geiger Daniel Sepec oder Hille Perl mit ihrer Gambenkunst – beim Forum Alte Musik Zürich bekommt man zu hören, wer in diesem inzwischen ganz eigenen Segment der Kunstmusik das Sagen hat. Nicht zuletzt geschieht das in anregend gebauten Programmen. Die Themen sind da nicht einfach Aufputz, sie bilden vielmehr den Kern, von dem das Gebotene ausgeht. Im Frühjahr 2015 gab es zum Beispiel eine veritable Karwoche, davor war der ansonsten wenig bemerkte 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach begangen worden, hatte eine Ausgabe auf alte Musik jenseits der bekannten Zentren aufmerksam gemacht oder war die Rede von Himmelsmusik und Höllenlärm.

König Davids Reue

Die Frühlingsausgabe dieses Jahres nun – die am kommenden Sonntag mit einer Aufführung von Bachs h-moll-Messe mit den Kräften der St. Galler Bachstiftung unter der Leitung von Rudolf Lutz endet – stellte ein Meisterwerk aus dem 16. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Orlando di Lasso, 1530 oder 1532 geboren, 1594 gestorben, war einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit: als Komponist und Kapellmeister am Hof des Herzogs Albrecht V. in München engagiert, aber weit über Bayern hinaus verehrt. Im Auftrag seines Dienstherrn komponierte er in den Jahren 1584 bis 1586 Motetten über die «Psalmi Davidis poenitentiales», die sieben zerknirschten, aber auch tröstlichen Busspsalmen Davids, die in zwei grosse, mit äusserster Pracht illuminierte Handschriften gebracht wurden. Und das ist nun das Spezialgebiet des Zürcher Musikhistorikers Andreas Wernli, der diese Handschriften präsentierte. Danach wurden die sieben Psalmen integral vorgetragen – nicht nur eine Rarität, sondern auch ein Grossunternehmen.

Der Anspruch ist hoch – an die Sängerinnen und Sänger wie an die Zuhörerschaft. Es handelt sich hier um a-cappella-Gesänge, um Musik ohne Instrumentalbegleitung, über lateinische Texte, und das in einem Stil, der in der Zeit vor dem Aufkommen der harmonischen Tonalität wurzelt, heutzutage also geradezu modern anmutet. Da muss man die Ohren spitzen. Und sich mit Geduld einlassen: Immer besser erschien im Verlauf der Darbietung jedenfalls die Verständlichkeit, immer mehr liessen sich – auch anhand der an die Wand projizierten Übersetzungen ins Deutsche – die Reaktionen der Musik auf die Inhalte der Texte erkennen, immer lebendiger wurde einem das musikalische Geschehen insgesamt. Ein musikalisches Geschehen, das aufs erste Hören hin einfach wirkt und seine kunstvolle Faktur erst bei näherem Hinhören offenbart.

Vokale und instrumentale Kunst

Dazwischen gestreut war Instrumentalmusik aus dem Umfeld der Busspsalmen. Zum Beispiel ein stupendes Ricercar zu vier Stimmen über die Tonfolge c-d-e-f-g-a und zurück von Hans Leo Hassler, das Polyphonie vom Feinsten bietet. Das Cellini Consort mit den vier Gambisten Brian Franklin, Thomas Goetschel, Tore Eketorp und Leonardo Bortolotto brachte den näselnden, ziehenden Ton seiner Instrumente zu blendender Wirkung. Für die Busspsalmen Lassos war das von Stephen Smith geleitete Ensemble Corund gerufen worden, eine hochstehende professionelle Vokalgruppe aus Luzern, die ihre Aufgabe ausgezeichnet meisterte und auch plötzlich auftretende Klippen gewandt zu umschiffen wusste. Ob Tempo und Dynamik tatsächlich so gleichförmig bleiben müssen, wie es der Dirigent wollte, bleibe dahingestellt; und wenn ein Wunsch offen wäre, dann der, dass die Anfänge gleich auf Anhieb so strahlend klängen wie das, was danach folgt. Dessen ungeachtet geriet dieser Auftritt zu St. Peter zu einem grossen Moment.

Das nächste Festival ist bereits in Sicht. «Mittelalter» nennt es sich, ganz lapidar. Und es präsentiert fünf musikalische Biographien; angekündigt sind Hildegard von Bingen, Francesco Landini, Eleonor von Aquitanien, Guillaume de Machaut und Oswald von Wolkenstein. An Entdeckungen wird es in einem halben Jahr nicht fehlen.