Musizieren in vitaler Schönheit

Trotz finanzpolitischem Gegenwind blickt das Luzerner Sinfonieorchester entschieden nach vorn

 

Von Peter Hagmann

 

Die Absage an das Projekt «Salle Modulable» durch das Luzerner Kantonsparlament im Herbst 2016 war schon ein arger Stoss für die Kultur. Dazu kommen dieses Jahr nun aber erhebliche Einsparungen, auch und gerade im Bereich der Kultur. Einer, der trotz der Hiobsbotschaften den Kopf oben behält und tatkräftig nach vorne schaut, ist Numa Bischof Ullmann, der Intendant des Sinfonieorchesters Luzern. Die von ihm geleitete Institution hatte eine spürbare Subventionskürzung hinzunehmen, was angesichts der Enge im Budget keineswegs mit links wegzustecken war. Natürlich hat das Orchester wie alle anderen Luzerner Kulturinstitutionen Protest eingelegt, aber Bischof sah darin nicht die einzige Lösung; an der misslichen Finanzlage des Kantons Luzern, die letztlich auf eine verfehlte Steuerpolitik zurückgeht, war nun einmal nichts zu ändern. Der Intendant nahm es vielmehr als seine Aufgabe an, die Substanz des Orchesters zu erhalten – eine echte Herausforderung. Emotional mitgetragen haben sie rund sechstausend Unterstützer, die sich im Rahmen der Spardebatte beim Orchester gemeldet haben.

Sich dieser Herausforderung zu stellen, war möglich, weil das Luzerner Sinfonieorchester nach einem einzigartigen Modell funktioniert. Finanziell ruht der privat, nämlich von einem Trägerverein geführte Klangkörper auf drei ungefähr gleich starken Säulen, so beschreibt es Numa Bischof. Ein Drittel trägt die öffentliche Hand – dies nicht zuletzt darum, weil das Orchester neben seiner Konzerttätigkeit auch am Spielbetrieb im Dreispartenhaus des Luzerner Theaters beteiligt ist. Ein zweites Drittel kommt von privater Seite, von Sponsoren, aber auch einer Stiftung, die von Bischof ins Leben gerufen wurde, um die Zahl der im Orchester fest angestellten Musiker auf eine professionelle Höhe zu bringen. Das dritte Drittel schliesslich ist selbst erwirtschaftet: durch den Verkauf von Abonnementen und Einzelkarten für die Konzerte. Das Modell funktioniert, die Tätigkeit trägt ihre Früchte, der Geschäftsbericht zur Saison 2016/17 weist einen positiven Abschluss und, vor allem, bemerkenswerte Steigerungen im Verkauf von Einzelkarten und Abonnementen aus. Beim Luzerner Sinfonieorchester zeigt sich, dass für das Konzert, ja selbst das Abonnementssystem keineswegs das Ende aller Tage erreicht ist.

Gute Stimmung herrscht im KKL, wo das Luzerner Sinfonieorchester seine Konzerte gibt. Der Saal mit seinen 1850 Plätzen ist fast ganz belegt, die Konzerte müssen sogar doppelt geführt werden – und die durchschnittliche Auslastung von 89 Prozent spricht ihre eigene Sprache. Heute Abend ist kein Geringerer als Truls Mørk angekündigt. Der norwegische Cellist hat beim Orchester eine Heimat gefunden, ähnlich wie der Pianist Oliver Schnyder, der mit den Luzerner Musikern die fünf Klavierkonzerte Beethovens erarbeitet und bei Sony auf CD herausgebracht hat. Jetzt aber gilt die Aufmerksamkeit dem Cellokonzert von Edward Elgar, dessen Schönheit Truls Mørk auf seinem venezianischen Instrument aus dem frühen 18. Jahrhundert zu voller Blüte bringt. Auch hören lassen darf sich der Stimmführer der Celli; er spielt ein Instrument von Francesco Rugeri aus dem Jahre 1690, das von privater Seite für das Orchester gekauft worden ist und ihm zur Verwendung überlassen wird. Herrlich gelingt das Konzert Elgars. Bisweilen bleibt es etwas langsam, wofür der Dirigent James Gaffigan mit unaufdringlicher Konsequenz sorgt. Aber die Tempi stimmen überein mit dem melancholischen Grundzug, den der Solist in seiner Deutung betont.

Schon hier fallen die Leichtigkeit im Ton und die Helligkeit im Klang auf, den das Orchester mit seinem Chefdirigenten pflegt. Besonders zutage tritt dieser Ansatz bei der Sinfonie Nr. 2 in D-dur von Johannes Brahms – mit durchwegs glücklichem Ergebnis. Eine vergleichsweise kleine Besetzung mit zwölf Ersten Geigen und leicht verstärktem Bass-Fundament ist hier genau das Richtige, es reicht problemlos für den Saal im KKL, in dem auch eine Achte Mahlers gelingen kann. James Gaffigan, mit dem sich die Orchestermitglieder ausgezeichnet zu verstehen scheinen, geht von ruhiger Entspanntheit aus und lässt die Serenität dieser Sinfonie zur Geltung kommen. Das Orchester antwortet ihm mit geschmeidigem Streicherklang und stupenden Leistungen in deren Bläsern, namentlich bei der Flöte und der Oboe, die das Allegretto grazioso des dritten Satzes mit Glanz versehen. Das Adagio des zweiten Satzes erreicht Tiefe ohne Druck, während das wirblige Finale von spritziger Brillanz lebt. Eine Wiedergabe von erster Qualität.

Indessen blickt das Luzerner Sinfonieorchester auch entschieden in die Zukunft. Es baut sich ein Haus, sein eigenes Haus, sein Zuhause. Am Südpol – der nun nicht gerade zentral liegt, der aber kulturelle Bedeutung erhalten dürfte, weil dort auch der Neubau der Luzerner Musikhochschule entstehen soll – am Südpol baut sich das Orchester nicht einen neuen Konzertsaal, es residiert ja im KKL, sondern vielmehr ein Probenhaus: ein Haus für die Arbeit. Privat finanziert durch die für die Orchestervergrösserung eingerichtete Stiftung und betrieben vom Trägerverein des Orchesters, soll dort der Probensaal entstehen, der dem Orchester fehlt. Soll es ausserdem Räume geben, in denen die Musiker üben können – Musik ist bekanntlich mit Geräusch verbunden, was nicht in allen Wohnlagen geschätzt wird. Und nicht zuletzt sollen Büros für die Administration sowie Fazilitäten entstehen, in denen das Orchester seine stark ausgebaute Kinder-, Jugend- und Vermittlungsarbeit verwirklichen kann. Zehn Millionen Franken soll das Projekt kosten. Der Wettbewerb hat stattgefunden, gewonnen haben ihn die Architekten Enzmann Fischer & Büro Konstrukt AG, Luzern. Noch dieses Jahr soll der Spatenstich erfolgen, in Betrieb genommen werden soll das Haus Ende 2019. Damit zeichnet sich in der Musikstadt Luzern eine Lösung ab, wie sie in Genf mit dem Neubau von Musikhochschule und Konzertsaal geplant ist. Sieht so das Absterben der klassischen Musik aus?

Handwerk und Gespür

Semyon Bychkov beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Auf Bühnen und Podien Europas ist er längst bekannt und geschätzt, er dirigiert die Wiener und die Berliner Philharmoniker, war beim Orchestre de Paris und an der Dresdner Semperoper tätig, und eben erst ist er als Nachfolger des tragisch verstorbenen Jiři Bělohlávek zum Chefdirigenten der Tschechischen Philharmonie in Prag ernannt worden – nur in Zürich stand er bis dato aus. Jetzt hat das späte Debüt von Semyon Bychkov beim Tonhalle-Orchester aber doch Form angenommen; es wurde zu einem in diesem Ausmass überraschenden Erfolg für den Dirigenten wie für das Orchester. Bychkov ist ein mit allen Wassern gewaschener Kapellmeister; er weiss genau, was das Orchester an Zeichengebung benötigt – die Musikerinnen und Musiker dankten ihm das auch in aller Deutlichkeit. Als Interpret beschäftigt er sich mit dem spätromantischen Repertoire, das angekündigt war, auf der Basis langjähriger Erfahrung, weshalb er den Partituren aus einer Position der souveränen Übersicht heraus begegnen kann.

«Don Juan», die Tondichtung von Richard Strauss, brachte er – was weder für den Dirigenten noch für das Orchester einfach ist – mit einem energischen Handgriff in Schwung. Im weiteren Verlauf aber sorgte er in einer Weise zur Entfaltung des Geschehens, wie sie sich der Komponist, selber ein erfahrener Dirigent, gewünscht hat: mit der linken Hand in der Hosentasche. Will sagen: Er liess der Musik freien Lauf, die implizit hinter der Komposition stehende Geschichte fand ganz natürlich zu ihrem Profil, die Effekte stellten sich sozusagen von selber ein – vorzüglich angelegt und packend verwirklicht war das. Ganz ähnlich Peter Tschaikowskys vierte Sinfonie in f-moll, ein äusserst dankbares Stück, bei dem sich das Orchester (und hier insbesondere der Schlagzeuger Klaus Schwärzler an den Becken) in hellstes Licht stellen konnte. Äusserst kraftvoll und satt die Hörner – dass sie in der Tonhalle Maag von den zur Erzeugung zusätzlichen Halls eingesetzten Lautsprechern verzerrt wurden, war allerdings ein Wermutstropfen –, ebenso agil wie kompakt die Streicher, in warmer Fülle das Tutti. Blendend gelang das Scherzo, bei dem die Streicher über weite Strecken zupfen, von hinreissender Wirkung waren die Ecksätze, während das Adagio in geschmeidiger Opulenz vor sich hinsang. Was will man mehr?

Zwischen Strauss und Tschaikowsky stand: Strauss, allerdings mit einem Lückenbüsser, nämlich dem als Burleske bezeichnete Klavierkonzert, das nicht gerade zu den Meisterwerken der Gattung gehört. Bertrand Chamayou liess sich indessen nicht davon abhalten, mit brillanter Geläufigkeit und geschmeidigem Ton ins Auf und Ab der Oktavpassagen hineinzuknien; dabei wartete er nicht nur mit Virtuosität, sondern auch einer sehr persönlichen Kantabilität auf. Wäre vielleicht jemand bereit, den exzellenten Franzosen für einen Klavierabend zu engagieren?

Wunder, nicht erklärbar

Mozart mit Pires, Bruckner mit Haitink

 

Von Peter Hagmann

 

Das war nun also ihr letzter Auftritt in Europa. Maria João Pires, mittlerweile 73 Jahre alt und gegenüber dem Konzertbetrieb schon immer skeptisch eingestellt, in diesem Umfeld aber auch berühmt geworden, zieht sich vom Podium zurück – so heisst es beim Tonhalle-Orchester Zürich. In der Tonhalle Maag spielte sie das letzte Klavierkonzert Wolfgang Amadeus Mozarts, jenes in B-dur (KV 595), das im Todesjahr 1791 entstanden ist. Sie tat es so wie immer, auf der Höhe ihres Könnens und mit jener Sinnlichkeit, die den Zuhörer berührt und glücklich zurücklässt. Ihr Klang weich und geschmeidig, nuanciert durchgeformt im Leisen, im Lauten aber auch durchaus stolz und prangend – und: von einer stillen, doch sehr intensiv erzählenden Gesanglichkeit. Für die raffinierte Einfachheit, die Mozart in diesem Konzert sucht, ist Maria João Pires genau die Richtige; sie ist es geblieben, seit sie vor drei Jahrzehnten mit diesem Konzert beim Tonhalle-Orchester Zürich debütiert hat.

Genau der Richtige war auch Bernard Haitink. Mit seinen 88 Jahren selber zart und fragil geworden, stand der Meister am Pult der Solistin fürsorglich, geradezu väterlich zur Seite. Unübersehbar beim Auftritt, im Moment des Beifalls, den sie beide nicht sonderlich mögen, den Bernard Haitink dann aber doch zu einer spontanen Bezeugung der inneren, musikalischen Verbundenheit nutzte. Die Umarmung fasste in ein sichtbares Zeichen, was vordem zu hören gewesen war. Das Tonhalle-Orchester Zürich, sparsam besetzt, hell und agil klingend, trug die Pianistin förmlich auf Händen. Es bereitete ihr den Boden, auf dem sie ihren Garten anlegen konnte, es nahm aber auch leise und feinfühlig auf, was die Solistin an interpretatorischen Ideen entwickelte. Es war ein Geben und Nehmen im Stillen, das sehr an jene späten Aufnahmen von Klavierkonzerten Mozarts erinnerte, die Maria João Pires mit dem Orchestra Mozart und Claudio Abbado realisiert hat.

Klanglich ganz anders, in der interpretatorischen Mentalität aber durchaus vergleichbar entfaltete sich im zweiten Teil des ausverkauften Abends in der Tonhalle Maag die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Einmal mehr durfte man bestaunen, wie souverän Bernard Haitink in dieser grossformatigen Musik das Kleine mit Leben erfüllt und so die fünf Viertelstunden anspruchsvoller Musik unter einen durchgehenden Spannungsbogen fasst. Haitink hat ja durchaus seine pragmatische, ja nüchterne Seite. Den Anfang mit dem berühmten, geliebten, aber unvorstellbar heiklen Quintsprung des Ersten Horns legte er dynamisch ganz auf Sicherheit an, so dass der Solohornist Ivo Gass seinen Einsatz glänzend meistern konnte. (Warum werden die Namen der Orchestermitglieder im Programmheft nicht mehr genannt? Gespräche im Publikum zeugen davon, dass es Interesse dafür gibt, dass das Kollektiv nicht als solches, sondern als Versammlung von Individuen beobachtet wird.)

Auch die Tempogestaltung hat ihre ganz sachliche Basis. Während in früheren Zeiten (und bisweilen sogar heute noch) nach Massen beschleunigt und verlangsamt wurde, um der angeblich steifen Musik Bruckners Leben einzuhauchen, hat die Bruckner-Interpretation neuerer Ausprägung den durchgehenden Puls entdeckt – Bernard Haitink ist einer der Dirigenten, der dieses eher moderne Prinzip seit vielen Jahren vertritt. Auch bei dieser Aufführung von Bruckners «Romantischer» war wieder zu bewundern, mit welcher Konsequenz Haitink einen einmal eingeschlagenen Weg verfolgt und mit welcher Ruhe er die formalen Verläufe sich erfüllen lässt. Allein, Veränderungen des Tempos gibt es bei Haitink sehr wohl, sie sind jedoch kaum zu bemerken, weil sie eben allesamt in Relation zum durchgehenden Puls stehen. Das ergibt jene eigenartige Mischung aus Klarheit, Geschlossenheit und zugleich Emotionalität, die Haitinks Bruckner-Deutungen auszeichnet.

Für den Wermutstropfen, der zu jeder auch noch so guten Aufführung gehört, sorgte der Saal. Er lässt das Orchester (wie das Rascheln der Bonbon-Papierchen) in letzter Transparenz leuchten. Ich glaube noch nie in einer Auslegung der Vierten Bruckners so genau gehört zu haben, wie sich das Ganze aus Einzelnem bildet, wie ausdrücklich die weiten Entwicklungen durch motivische Verästelungen im Inneren getragen werden. Noch nicht wirklich beherrscht ist jedoch die volle Kraft. Auf einem Platz in der vierzehnten Reihe klang das Tonhalle-Orchester, obwohl es sein Bestes gab, in den Momenten der hohen Lautstärke grob, mit einer deutlichen und darum störenden Dominanz der Posaunen. Im Sinne der Erfinder, in jenem Bruckners oder Haitinks, kann das unmöglich sein. Ob sich da etwas justieren lässt?

Tschaikowskys «Pathétique» – subjektiv und textgetreu

Eine Neuaufnahme mit dem Dirigenten Teodor Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Im Fall von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6, der «Pathétique», galt (und gilt) die Aufnahme, die Jewgeny Mrawinsky 1982 mit den damaligen Leningrader Philharmonikern erarbeitet hat, als das Mass aller Dinge. Jetzt hat diese legendäre Einspielung Konkurrenz erhalten. Wie das im russischen Perm domizilierte Orchester Music Aeterna und sein griechischer Dirigent Teodor Currentzis dieses düstere, nur selten durch lichtere Momente aufgehellte Werk Klang werden lassen, setzt neue Massstäbe. Spieltechnisch lässt die bei Sony erschienene Interpretation keinen Wunsch offen; das Orchester agiert mit stupender Wachheit, zudem mit einem weiten dynamischen Spektrum und einer Vielfalt an Klangfarben, die von den ersten Takten an aufhorchen lassen. Dazu kommt eine Aufnahmetechnik, die ein ungewöhnliches Mass an Transparenz erzielt und so tief ins Innere der Partitur hineinhorchen lässt, ohne dass der Blick auf das grosse Ganze verloren ginge.

Gleich im eröffnenden Adagio fällt ins Ohr, von welchem Pianissimo aus das Geschehen in Fahrt kommt, wie subtil der Klang abgestuft ist und welch kernige Pracht die hier geteilten Bratschen entfalten. Im Allegro tritt dann zutage, wie vielgestaltig Currentzis das Orchester artikulieren lässt – ohne Zweifel eine Frucht der Beschäftigung mit älterer Musik. Ob die Noten Punkte tragen, ob Punkte unter Bögen oder Bögen allein, das macht einen Unterschied, der im philharmonisch homogenisierenden Klang leicht untergeht, der hier aber packende gestische Deutlichkeit schafft. Zudem ist das Orchester in deutscher Art aufgestellt, mit den Ersten und den Zweiten Geigen links und rechts vom Dirigenten, das lässt die Aufnahmetechnik nach Massen hören; bisweilen ist fast wie in einer Raumklang-Installation nachzuvollziehen, wie die Motive durch das Orchester wandern. Das wirft Licht auf die kompositorische Faktur, die hier deutlicher wahrgenommen werden kann als in Aufnahmen, die auf die emotionale Wirkung allein setzen.

An Emotionalität fehlt es Currentzis, was Wunder, allerdings keineswegs. Nicht zuletzt äussert sich das in den Tempi und deren durchaus subjektiver Ausgestaltung. Den mit «molto moderato» überschriebenen Abschnitt im ersten Satz nimmt der Dirigent äusserst getragen; die rhythmisch pointierte Begleitfigur in den hohen Streichern hebt er deutlich hervor, was enorm Spannung erzeugt, die Pauke klingt trocken und weist auf drohendes Ungemach voraus, worauf das Orchester in ein fünffaches Piano absteigt, das sich im nicht mehr Hörbaren verliert. Und dann: eine Explosion, die einen förmlich vom Stuhl reisst; krachend die Bögen, das Tempo hochgetrieben, zugespitzt die klanglichen Ballungen, wobei die einzelnen Instrumentalfarben jederzeit erkennbar bleiben – bewundernswert, was das Orchester, aufgepeitscht von seinem zischenden und fauchenden Dirigenten, hier leistet.

Tatsächlich «con grazia» kommt das Allegro des zweiten Satzes daher. In der Eleganz des 5/4-Taktes bilden der weite Atem der Phrasierungen und die schlechterdings sensationelle Kantabilität der Violinen die zentrale Attraktion. Einen scharfen Kontrast dazu schafft dann das Allegro molto des dritten Satzes. Förmlich vom Boden abspringend die Energie, unerbittlich durchgezogen der Verlauf, das Schicksalsmotiv von einer Schärfe sondergleichen. Nicht erst hier, hier aber ganz besonders kann man an Jewgeny Mrawinsky denken – doch setzt Currentzis die Blechbläser weit weniger krass in Szene, als es der grosse Russe tat. Und die Aufnahmetechnik, die für reichlich Hall sorgt, tut das Ihre dazu, indem sie das Blech auf Distanz hält. Martialisch wie bei Mrawinsky wird es bei Currentzis nie.

Höhepunkt ist auch in dieser Aufnahme das Finale, das sich emotional wie klanglich enorm verdichtet. Auf die Tränendrüse gedrückt wird freilich nirgends. Das ist ja das Besondere an Teodor Currentzis: Er stellt sich als Inbegriff des Exzentrikers dar, der dazu neigt, manche Passage, die vom Komponisten schon explizit genug erfunden wurde, doppelt zu unterstreichen. Tatsächlich kann man sich da und dort fragen, ob das Stück diese Art der interpretatorischen Tautologie benötige, und rasch ist das natürlich verneint, wir sind ja nicht mehr dort, wo sich die Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts aufhielten. Wer jedoch genau zuhört und vielleicht gar einen Blick in den Notentext wagt, wird sogleich feststellen, dass Currentzis bei allem Subjektivismus einen gleichsam modernen Ansatz verfolgt. An Fett fehlt es hier vollkommen, was dominiert, ist die Struktur. Wenn dann aber die gestopften Hörner ihre messerscharf schneidenden Klänge von sich geben, ist ein Moment des Erschreckens nicht zu vermeiden.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6. Music Aeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony 88985404352 (1 CD).

Hie Stillstand, dort Aufbruch

Lucerne Festival – Brennspiegel der Orchesterkultur

 

Von Peter Hagmann

 

Reich bestückt ist inzwischen der Garten rund ums Schloss, und zahlreich sind die darin beschäftigten Gärtner. Es gibt dort Zonen für die Kleinsten unter uns und solche für die Liebhaber kürzerer Veranstaltungen, es gibt Sektoren für das Neuste vom Tage und sogar ein eigenes, sehr schön ausgebautes Haus für die vertiefende Ausbildung in diesem Bereich. Allein, im Zentrum steht nach wie vor das Schloss selber – und das ist in der Sommerausgabe des Lucerne Festival die Reihe der fast dreissig Sinfoniekonzerte. Eine Plattform, auf der sich innerhalb von gut vier Wochen die bedeutendsten Orchester der Welt mit ihren Dirigenten begegnen, existiert meines Wissens nirgendwo sonst. Und das Interesse an dieser Art Kür scheint ungebrochen; von diesen Konzerten aus auf Zerfallserscheinungen irgendwelcher Art zu schliessen, wäre jedenfalls verkehrt. Sie haben Zukunft, das zeigt die Gegenwart.

Eine der Besonderheiten besteht darin, dass angesichts der Luzerner Konkurrenzsituation die gastierenden Orchester, jedenfalls die meisten unter ihnen, in erstklassigen personellen Konstellationen und mit Produktionen auftreten, die auf Hochglanz poliert sind. Das führt immer wieder zu Konzerterlebnissen der ganz eigenen Art. Die Berliner Philharmoniker zum Beispiel sind diesen Sommer zum letzten Mal mit Simon Rattle nach Luzern gekommen – wie stets auf dem Rückweg von den Salzburger Festspielen und wie jedes Jahr zum Ende des Sommers. Im ersten ihrer beiden Auftritte gab es ein neues Werk von Georg Friedrich Haas und «Die Schöpfung» von Joseph Haydn. Womit Rattle noch einmal in Erinnerung rief, in welcher Weise er in seinem anderthalb Jahrzehnte umfassenden Wirken als Chefdirigent das Repertoire und die Spielkultur des Orchesters erweitert hat. Zu einem wahrhaft fulminanten Abschied geriet jedoch der zweite Auftritt, der zwei Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch aufeinander folgen liess: die erste und die letzte.

Fast fünfzig Jahre liegen zwischen den beiden Werken – zwischen der aufschiessenden, extravertierten, hoffnungsvollen Examensarbeit von 1925 und dem in sich gekehrten, hörbar depressiven und klanglich extrem ausgedünnten Schwanengesang von 1971. Was für ein Leben, was für ein Schaffensbogen tut sich auf – das in einem Konzertprogramm bewusst zu machen, ist allein schon ein Verdienst. Und dann die klingende Umsetzung. Unglaublich zart, mit dem Silberstift gezeichnet, dazu in höchsten Masse anteilnehmend die fünfzehnte Sinfonie in A-dur. Hochpräzise im Rhythmischen, geschmeidig in den vielen brechenden Taktwechsel, leuchtend im Farbenspiel zwischen den verschiedenen, häufiger getrennt als gemeinsam agierenden Orchestergruppen. Die erste Sinfonie in f-moll dagegen: virtuos gesetzt vom Komponisten und vom Orchester blendend realisiert. Eine sagenhafte klangliche Palette tat sich da auf – mit Streichern in kompakter Wärme, mit strahlenden Blechbläsern, mit charakteristischen Holzbläsern. Das Lucerne Festival Orchestra wird sich gewaltig anstrengen müssen, so der Eindruck danach. Und grosse Schuhe sind das, die für Kirill Petrenko im nächsten Sommer bereitstehen.

Noch bemerkenswerter als der einzelne Höhepunkt erscheint in der Abfolge der Luzerner Sinfoniekonzerte jedoch die Möglichkeit, den Puls der Orchesterkultur zu fühlen und aktuelle Tendenzen aufzuspüren. In besonders krasser Weise war das vor zwei Tagen möglich: beim ersten der beiden traditionellen Auftritte des Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam. Eines allseits und sehr geschätzten Klangkörpers – als Bernard Haitink, als Riccardo Chailly, als Mariss Jansons das Zepter führten. Mit dem derzeitigen Chefdirigenten Daniele Gatti hat das Orchester kein Glück, wie die Wiedergabe von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 erwies. So aufgeplustert und öde, so langsam und zugleich unerfüllt, so grob und hart im Klang war das Stück im Konzertsaal des KKL vielleicht noch gar nie zu hören. Der Kopfsatz fürchterlich altmodisch in Stein gehauen, das (unerklärlicherweise attacca angeschlossene) Scherzo stampfend, als ob eine Armee daherkäme, der langsame Satz mit seinen drei gewaltigen Ausbrüchen ohne klaren dynamischen Aufbau – wie ist so etwas möglich?

Immer wieder hat Gatti dabei, übrigens vergeblich, die Faust geballt. Genau das ist es, was Gott sei Dank vorbei ist. Die Sommerausgabe des Lucerne Festival hat gezeigt, dass der interessante Wind aus anderer Richtung weht. Mit seinem harschen Zugriff bei den Tondichtungen von Richard Strauss hat das auch Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra erfahren; soll das ausserhalb der Rankings stehende Niveau erhalten bleiben, wird er auf das Orchester und seine ganz anders gelagerte, in der Kammermusik, im gegenseitigen Zuhören und darum im Leisen verankerte Mentalität zugehen müssen. Die besten Momente haben sich diesen Sommer dort ergeben, wo Parameter solcher Art herrschten: beim Chamber Orchestra of Europe, das mit Bernard Haitink in ungeahnte Tiefen des musikalischen Empfindens vorgedrungen ist (vgl. die Besprechung vom 23.08.17), bei den Berliner Philharmonikern, deren Potential Simon Rattle grossartig genutzt und weiterentwickelt hat, vor allem aber beim City of Birmingham Symphony Orchestra, das mit seiner jungen Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla zu neuen Ufern aufgebrochen ist (vgl. die Kritik in der NZZ vom 05.09.17). Das gibt Hoffnung.

Diskret und explizit – der Dirigent Philippe Jordan

Ein Schweizer zwischen Paris und Wien

 

Von Peter Hagmann

 

Beim Namen fangen die Doppeldeutigkeiten an. Die einen sprechen ihn französisch aus, mit einem stimmhaften «Sch» am Anfang und einem nasalen «a» am Ende, die anderen tun es auf Deutsch. Tatsächlich lebt der Dirigent Philippe Jordan in beiden Kulturen, in der deutschen wie in der französischen (wobei die Schreibweise des Vornamens einen leichten Akzent auf die lateinische Seite legt). Das kommt von zu Hause. Geboren und aufgewachsen bei Zürich, ausgebildet an der Zürcher Musikhochschule, machte Philippe Jordan seine ersten Schritte in Deutschland und Österreich: an der Staatsoper Unter den Linden Berlin sowie an den Musiktheatern in Ulm und Graz. Das Französische begegnete ihm durch den Vater, den bekannten, sehr geschätzten Dirigenten Armin Jordan, der bilingue war und sich seinen Namen in erster Linie als sensibler Interpret französischer Musik gemacht hat. In Frankreich hat Philippe Jordan denn auch mit dem Dirigieren begonnen: als Assistent des kürzlich verstorbenen Jeffery Tate in Aix-en-Provence und dann am Châtelet in Paris.

Inzwischen ist der Dirigent aus der Schweiz in den beiden Kulturkreisen fest verankert. 2009, er war damals fünfunddreissig, wurde er Musikdirektor der Oper Paris, fünf Jahre später wählten ihn die Wiener Symphoniker zu ihrem Chefdirigenten. In Wien, wo er ausgeprägt zyklisch arbeitet und auch dem Neuen Raum gewährt, liegt der Schwerpunkt bei Musik aus dem deutsch-österreichischen und osteuropäischen Kulturraum, zum Beispiel bei den Symphonien Beethovens (die er allerdings gerade auch mit seinem Pariser Orchester erarbeitet und auf DVD aufgenommen hat). Anders präsentiert sich die Lage in Paris, wo er in der Oper das grosse Repertoire betreut, mit dem Orchester aber gerne das Französische pflegt. Aufsehen erregte in den Jahren 2010/11 die Produktion von Wagners «Ring», mit welcher der damalige Intendant Nicolas Joel und sein neuer Musikdirektor wagemutig ihre Amtszeit einläuteten. Und eben erst – die Intendanz hat inzwischen Stéphane Lissner übernommen – ist die sensationelle Produktion von Schönbergs «Moses und Aron» mit Jordan und dem Regisseur Romeo Castellucci auf DVD erschienen. Mit seiner gelassenen, hochgradig kontrollierten und gleichzeitig frei strömenden Darstellung kleidet er den abstrakten Stoff in jene Sinnlichkeit, an die der Komponist gedacht haben mag. Zugleich lässt der Dirigent erkennen, dass für ihn die Musik nicht 1914 aufhört, dass er vielmehr auch den Strömungen des 20. Jahrhunderts seine Handschrift zu leihen vermag.

Neben Paris also Wien – und das ist genau das Richtige für Philippe Jordan. Nicht nur, weil sich da Oper und Konzert ergänzen. Sondern vor allem der eigenständigen, sehr ausgeprägten Farbigkeit wegen, die das Orchestre de l’Opéra national de Paris einerseits und die Wiener Symphoniker andererseits pflegen. Das kommt dem Dirigenten insofern entgegen, als dem expliziten, ja lustvollen Herausstellen der Instrumentalfarben sein besonderes Interesse gilt; Jordan ist ein Farbenkünstler, das bestätigen die zahlreichen CD-Aufnahmen, die in der jüngeren Vergangenheit unter seiner Leitung entstanden sind. Gewiss, unter dem Druck von Globalisierung, Kommerzialisierung und Standardisierung haben sich die farblichen Eigenheiten der Orchester in beträchtlichem Mass eingeebnet, aber so weit, wie es der weitgereiste Dirigent Neeme Järvi sieht, der überall dasselbe hört – so weit sind wir noch nicht. Noch immer sind die näselnde Wiener Oboe und die französische Trompete mit ihrem schimmernden Vibrato auf Anhieb zu erkennen. Damit arbeitet Philippe Jordan, zum Beispiel in der Einspielung von Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 mit den Wiener Symphonikern auf dem orchestereigenen Label. Emotion entsteht in dieser orchestral äusserst hochstehenden Aufnahme nicht durch schweres, gleichsam von aussen auf die musikalischen Verläufe aufgesetztes Pathos, sondern durch die taghelle Beleuchtung der musikalischen Strukturen, die sich in einem hochtransparenten Klangbild niederschlägt.

Das Strukturdenken, es steht an erster Stelle, und ihm gehorchen auch die Farbenspiele. Jordans Aufmerksamkeit gilt, das mag ihm als schweizerische Eigenschaft vorgehalten werden, der Lektüre des Notentextes, der Erkundung des interpretationsgeschichtlichen Horizonts und der Suche nach den Potentialen, die er in den jeweiligen Orchestern wecken und nutzen kann. Zu diesen Beschäftigungen gehört die Arbeit mit Tondokumenten – nicht um die Partituren zu lernen, sondern um das wache, das bewusste und das erkennende Hören zu trainieren. Dazu zählt aber auch die Auseinandersetzung mit der historischen Aufführungspraxis, deren Erkenntnisse Jordan, wenn auch nicht Spezialist auf diesem Gebiet, in sein Tun zu integrieren weiss. Darum versteht es sich, dass bei ihm in der «Unvollendeten» Schuberts oder dessen «Grosser» C-dur-Symphonie die Musik trotz spätromantischem Klanggewand zu sprechen beginnt. Zum Beispiel darum, weil Ton- oder Akkordrepetitionen je nach ihrer Stellung im Takt unterschiedlich artikuliert werden – was in der in der alten Musik Allgemeingut geworden, im hergebrachten Betrieb aber noch längst nicht jedem Musiker zu Ohren gekommen ist. Bemerkenswert auch, wie Jordan, darin neueren Auffassungen folgend, die Tempi in kleinen Modifikationen an einzelnen Gesten oder Motiven ausrichtet. So kommt er im Kopfsatz der C-dur-Symphonie vom sehr gemessenen Andante der Einleitung ohne Zwang ins Allegro ma non troppo des Hauptteils.

Für recht eigentliche Überraschungen sorgen indessen die drei jüngsten CD-Publikationen des Pariser Opernorchesters. Sie lassen entdecken, wie das Orchester an seinem Dirigenten gewachsen ist – und umgekehrt. Von 2013 stammt eine CD mit Orchesterstellen aus Wagners «Ring»; sie stellt die Eigenheiten von Philippe Jordans packendem Wagner-Klang wie unter einen Brennspiegel. Das Vorspiel zu «Rheingold» kommt nicht aus dem Ungefähren, sondern baut sich rhythmisch klar strukturiert auf; die Punktierten sind genau genommen und als solche hörbar. Im Vordergrund steht der Trennklang, das Nebeneinander der Farben statt deren Vermischung – was durchaus als französische Färbung deutscher Musik verstanden werden kann. Die Attacke, da hat sich Jordan deutlich von seinem Vater emanzipiert, wird gerne kräftig, das klingt dann grossartig. Wenn jedoch die Götter auftreten, herrschen langsame Tempi und weiche Artikulation.

Unverkennbar ist da auch das Denken in Kategorien des Bühnengeschehens – wie es auch bei der schlicht grandiosen Gesamtaufnahme von «Daphnis et Chloé» der Fall ist. Elf Mal wurde das abendfüllende Ballett Ravels im Frühjahr 2014 an der Pariser Oper gezeigt, stets unter der Leitung des Musikdirektors; in diesem Zusammenhang kam es zur Einspielung – das sind Voraussetzungen, die man lange suchen muss. Jordan lässt sich Zeit, nicht nur in der Vorbereitung, auch in der Musik selbst. Langsam und sorgsam werden die Verläufe aufgebaut, es herrscht ein Klima der Einlässlichkeit und der Genauigkeit, das sich in der Direktheit der Aufnahmetechnik blendend entfaltet. Das Laisser-faire vieler Aufnahmen in jener französischen Tradition, die Pierre Boulez, Mahler folgend, als reine Schlamperei bezeichnet hat, es ist hier wie weggeblasen. Dafür kommt es zu instrumentaler Koloristik eigener Art. Die Geschichte, die zwischen irisierenden Morgenstimmungen und der brutalen Einwirkung böser Kräfte changiert, findet jedenfalls klare Fasslichkeit – so wie es auf der jüngsten, 2016 entstandenen CD aus Paris bei Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» in der Orchestrierung Ravels geschieht. Vieles, was sonst im grossen Effekt untergeht, ist hier zu klar hören, ja bisweilen neu zu entdecken – dank der nochmals gesteigerten Akkuratesse in der Artikulation und der klanglichen Qualität im Einzelnen wie im Gesamten. Mit Philippe Jordan ist das Orchestre de l’Opéra national de Paris ohne Frage zum besten Klangkörper Frankreichs geworden.

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Aufnahmen mit dem Orchestre de l’Opéra national de Paris und dem Dirigenten Philippe Jordan:

  • Richard Strauss: Eine Alpensinfonie. Naïve 5233
  • Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune. Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Maurice Ravel: Boléro. Naïve 5332
  • Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (Auszüge, mit Nina Stemme). Erato 93414227
  • Maurice Ravel: Daphnis et Chloé. Erato 166848
  • Modest Mussorgsky / Maurice Ravel: Bilder einer Ausstellung. Sergej Prokofjew: Symphonie classique. Erato 295877910
  • Arnold Schönberg: Moses und Aron. BelAir 136

Aufnahmen mit den Wiener Symphonikern und Philippe Jordan:

  • Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 6. WS 006
  • Franz Schubert: Symphonie Nr. 7 in h-moll, D 759 («Unvollendete») und Symphonie Nr. 8 in C-dur, D 944 («Grosse»). WS 009

Vor der Zukunft an der Zahnradstrasse

Augenschein in der Tonhalle Maag im Wilden Westen Zürichs

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Francesca Bruno, Tonhalle-Gesellschaft Zürich

Unter Hochdruck wird gearbeitet. Von der Strasse aus ist wenig zu sehen ausser den Gerüsten, von denen aus die Fassaden des Gebäudes frisch angestrichen werden sollen. Im Inneren der Maag Event Hall, in jenem Teil, der als «Härterei» angeschrieben ist, herrscht dagegen emsige Betriebsamkeit. Der Konzertsaal aus Fichtenholz – es stammt aus dem Norden Europas, wo das Holz langsamer wächst und daher eine bessere Qualität aufweist – steht schon; der umlaufende Balkon lässt sich bereits betreten, an der Decke hängen auch die unzähligen, leicht gebogenen Paneele, wie sie von den Akustikern vorgeschlagen wurden. Der Boden ist noch nicht mit dem geplanten Eichenparkett belegt, da wird noch heftig gearbeitet, zum Beispiel an den Einlasskanälen für die Frischluft, die schräg gebohrt sein müssen, damit das Geräusch der einströmenden Luft leiser wird.

Erster Eindruck: superb. Hier also, in der Tonhalle Maag, wird das Tonhalle-Orchester Zürich für die nächsten drei Spielzeiten seinen Sitz haben. «Interims-Spielstätte» wird die Location genannt. Der Ort ist jedoch so bedürfnisgerecht strukturiert und wird derart sorgfältig realisiert, dass ein Abriss der Einrichtung nach der Rückkehr des Orchesters in die Tonhalle so gut wie undenkbar erscheint. Eher lässt sich fast ausmalen, dass die Mitglieder des Orchesters, vielleicht aber auch Teile der Administration, das Provisorium am Fuss des Prime Tower gar nicht mehr missen mögen. Die Bibliothekare zum Beispiel, die in der Tonhalle sozusagen unter Tag arbeiten, erhalten in der Tonhalle Maag einen geräumigen Saal mit viel Tageslicht. Die Musikerinnen und Musiker wiederum werden, auch wenn sie einen etwas längeren Weg zum Podium zurückzulegen haben, die grosszügigen, hellen Garderoben und Einspielräume zu schätzen wissen.

Zwischenlösung ohne Wenn und Aber

Zahnradstrasse, so lautet die Adresse im noch wenig bekannten, trendigen Westen Zürichs. Das ist weniger schlimm, als es scheint. Die Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr lässt nichts zu wünschen übrig; auch an Parkplätzen fehlt es nicht. Der Eingang, der nimmt sich nicht eben pompös aus. Man gelangt aber schnurstracks zur Kasse – zu einer von dereinst zwei Kassen, denn für die drei Jahre bis Mitte 2020, während der das Kongresshaus umgebaut und die Tonhalle geschlossen sein wird, gibt es einen zusätzlichen Schalter im Herzen der Stadt: im Haus der Credit Suisse am Paradeplatz. Im Maag-Areal sind es nur zwei, drei Schritte bis zur Garderobe, und von dort geht es gleich hinüber ins Foyer – das nun allerdings nicht besonders weitläufig wirkt angesichts der gut 1200 Konzertbesucher, die hier bewirtet werden sollen. Eigener Reiz geht vom industriellen Ambiente aus, das von Spillmann Echsle Architekten bewusst bewahrt wird; unvergessen diesbezüglich ist die Luzerner von Moos-Halle, die im Sommer 1997, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht fertiggestellt war, den damaligen Musikfestwochen als Veranstaltungsort gedient hat.

Für das Hauptstück freilich, für den Konzertsaal in der Tonhalle Maag, ist nichts zu viel. Vom Feinsten, kann man da nur sagen. Den Grossen Tonhallesaal kann er nicht ersetzen, das will er auch gar nicht. Bieten will er hingegen eine Zwischenlösung ohne Wenn und Aber. Zu diesem Zweck ist die Event Hall baulich ganz und gar von dem daneben gelegenen Musicaltheater getrennt worden; wenn dort «Ewigi Liebi» und daneben Bruckners Neunte gegeben werden, kommt sich akustisch nichts ins Gehege. Verändert wurde auch das Dach; es wurde angehoben, um mehr Höhe im Saal, aber auch Raum für die Technik zu gewinnen. Der Saal selbst ist nach dem bewährten Prinzip der Schuhschachtel konzipiert, verfügt aber über keinen rechten Winkel, was der Verbreitung des Schalls förderlich ist. Die Bestuhlung – einfach, aber bequem, wie der Architekt Harald Echsle betont – ist im Parkett mobil gehalten. Die Disposition der Sitzreihen kann also jederzeit und leicht verändert werden, womit Zürich ab Mitte Jahr doch tatsächlich über eine Art Salle Modulable verfügen wird.

In ausgeklügelter Funktionalität ist auch der Hinterbühnenbereich gehalten. Grosszügig bemessen sind die im Untergeschoss gelegenen Magazine für die Lagerung der Instrumente (und der Bestuhlung). Der Konzertflügel lässt sich über einen Lift aus dem Untergeschoss auf das Niveau des Podiums heben und direkt in den Saal schieben. Nicht zuletzt ist auch eine direkte Anlieferung vorgesehen, was darum günstig ist, weil in der Tonhalle Maag auch Gastorchester auftreten werden. Tatsächlich ist die Tonhalle-Gesellschaft Zürich mit ihrer Tonhalle Maag teils Mieterin bei der Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site, teils Untermieterin bei der Maag Music & Arts AG; vor allem aber ist sie auch, und anders als in der Tonhalle, Betreiberin des Saals. Sie vermietet nämlich ihrerseits den Konzertsaal an eine ganze Reihe privater Veranstalter wie das Zürcher Kammerorchester, das Migros-Kulturprozent, die Meisterinterpreten oder die Neue Konzertreihe. Ob das ein Modell für die Zukunft darstellt?

Weitgehend privat finanziert

Das alles stemmt die Tonhalle-Gesellschaft aus eigener Kraft: mit ihrem Team unter der Leitung ihres Präsidenten Martin Vollenwyder, der sich mit seinem Temperament, seiner Kompetenz und seiner Vernetzung mächtig ins Zeug legt. Finanziert werden die Baukosten von rund zehn Millionen Franken grösstenteils durch private Zuwendungen. Auch für die zusätzlichen Betriebskosten muss die Gesellschaft gerade stehen, nur die Miete von 2,5 Millionen Franken pro Jahr wird von der Stadt übernommen. Am 7. Juli 2017 soll der Konzertsaal fertiggestellt sein und übergeben werden. Dann werden die Akustiker von Müller BBM München das Zepter übernehmen, bevor sich das Orchester mit seinem neuen Spielort bekannt machen kann. Am 27. September 2017 findet das Eröffnungskonzert mit einem Bratschenkonzert von Brett Dean, dem Creative Chair der Saison 2017/18, und Beethovens Neunter statt; am Wochenende darauf folgt das grosse Fest zur Einweihung. Es darf gefeiert werden, denn Zürich erhält mit der Tonhalle Maag ein Konzertsaalprovisorium, wie es seinesgleichen weitherum gesucht werden muss. Notabene eines ohne elektronische Zurüstung, wie sie die Sinfonieorchester von Basel und Bern zu akzeptieren haben (vgl. NZZ vom 18.05.17). An Diskussionen wird es auch in Zürich nicht fehlen. Vielleicht bricht mit diesem Raum aber auch eine Zukunft an.