Wunder, nicht erklärbar

Mozart mit Pires, Bruckner mit Haitink

 

Von Peter Hagmann

 

Das war nun also ihr letzter Auftritt in Europa. Maria João Pires, mittlerweile 73 Jahre alt und gegenüber dem Konzertbetrieb schon immer skeptisch eingestellt, in diesem Umfeld aber auch berühmt geworden, zieht sich vom Podium zurück – so heisst es beim Tonhalle-Orchester Zürich. In der Tonhalle Maag spielte sie das letzte Klavierkonzert Wolfgang Amadeus Mozarts, jenes in B-dur (KV 595), das im Todesjahr 1791 entstanden ist. Sie tat es so wie immer, auf der Höhe ihres Könnens und mit jener Sinnlichkeit, die den Zuhörer berührt und glücklich zurücklässt. Ihr Klang weich und geschmeidig, nuanciert durchgeformt im Leisen, im Lauten aber auch durchaus stolz und prangend – und: von einer stillen, doch sehr intensiv erzählenden Gesanglichkeit. Für die raffinierte Einfachheit, die Mozart in diesem Konzert sucht, ist Maria João Pires genau die Richtige; sie ist es geblieben, seit sie vor drei Jahrzehnten mit diesem Konzert beim Tonhalle-Orchester Zürich debütiert hat.

Genau der Richtige war auch Bernard Haitink. Mit seinen 88 Jahren selber zart und fragil geworden, stand der Meister am Pult der Solistin fürsorglich, geradezu väterlich zur Seite. Unübersehbar beim Auftritt, im Moment des Beifalls, den sie beide nicht sonderlich mögen, den Bernard Haitink dann aber doch zu einer spontanen Bezeugung der inneren, musikalischen Verbundenheit nutzte. Die Umarmung fasste in ein sichtbares Zeichen, was vordem zu hören gewesen war. Das Tonhalle-Orchester Zürich, sparsam besetzt, hell und agil klingend, trug die Pianistin förmlich auf Händen. Es bereitete ihr den Boden, auf dem sie ihren Garten anlegen konnte, es nahm aber auch leise und feinfühlig auf, was die Solistin an interpretatorischen Ideen entwickelte. Es war ein Geben und Nehmen im Stillen, das sehr an jene späten Aufnahmen von Klavierkonzerten Mozarts erinnerte, die Maria João Pires mit dem Orchestra Mozart und Claudio Abbado realisiert hat.

Klanglich ganz anders, in der interpretatorischen Mentalität aber durchaus vergleichbar entfaltete sich im zweiten Teil des ausverkauften Abends in der Tonhalle Maag die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Einmal mehr durfte man bestaunen, wie souverän Bernard Haitink in dieser grossformatigen Musik das Kleine mit Leben erfüllt und so die fünf Viertelstunden anspruchsvoller Musik unter einen durchgehenden Spannungsbogen fasst. Haitink hat ja durchaus seine pragmatische, ja nüchterne Seite. Den Anfang mit dem berühmten, geliebten, aber unvorstellbar heiklen Quintsprung des Ersten Horns legte er dynamisch ganz auf Sicherheit an, so dass der Solohornist Ivo Gass seinen Einsatz glänzend meistern konnte. (Warum werden die Namen der Orchestermitglieder im Programmheft nicht mehr genannt? Gespräche im Publikum zeugen davon, dass es Interesse dafür gibt, dass das Kollektiv nicht als solches, sondern als Versammlung von Individuen beobachtet wird.)

Auch die Tempogestaltung hat ihre ganz sachliche Basis. Während in früheren Zeiten (und bisweilen sogar heute noch) nach Massen beschleunigt und verlangsamt wurde, um der angeblich steifen Musik Bruckners Leben einzuhauchen, hat die Bruckner-Interpretation neuerer Ausprägung den durchgehenden Puls entdeckt – Bernard Haitink ist einer der Dirigenten, der dieses eher moderne Prinzip seit vielen Jahren vertritt. Auch bei dieser Aufführung von Bruckners «Romantischer» war wieder zu bewundern, mit welcher Konsequenz Haitink einen einmal eingeschlagenen Weg verfolgt und mit welcher Ruhe er die formalen Verläufe sich erfüllen lässt. Allein, Veränderungen des Tempos gibt es bei Haitink sehr wohl, sie sind jedoch kaum zu bemerken, weil sie eben allesamt in Relation zum durchgehenden Puls stehen. Das ergibt jene eigenartige Mischung aus Klarheit, Geschlossenheit und zugleich Emotionalität, die Haitinks Bruckner-Deutungen auszeichnet.

Für den Wermutstropfen, der zu jeder auch noch so guten Aufführung gehört, sorgte der Saal. Er lässt das Orchester (wie das Rascheln der Bonbon-Papierchen) in letzter Transparenz leuchten. Ich glaube noch nie in einer Auslegung der Vierten Bruckners so genau gehört zu haben, wie sich das Ganze aus Einzelnem bildet, wie ausdrücklich die weiten Entwicklungen durch motivische Verästelungen im Inneren getragen werden. Noch nicht wirklich beherrscht ist jedoch die volle Kraft. Auf einem Platz in der vierzehnten Reihe klang das Tonhalle-Orchester, obwohl es sein Bestes gab, in den Momenten der hohen Lautstärke grob, mit einer deutlichen und darum störenden Dominanz der Posaunen. Im Sinne der Erfinder, in jenem Bruckners oder Haitinks, kann das unmöglich sein. Ob sich da etwas justieren lässt?

Tschaikowskys «Pathétique» – subjektiv und textgetreu

Eine Neuaufnahme mit dem Dirigenten Teodor Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Im Fall von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6, der «Pathétique», galt (und gilt) die Aufnahme, die Jewgeny Mrawinsky 1982 mit den damaligen Leningrader Philharmonikern erarbeitet hat, als das Mass aller Dinge. Jetzt hat diese legendäre Einspielung Konkurrenz erhalten. Wie das im russischen Perm domizilierte Orchester Music Aeterna und sein griechischer Dirigent Teodor Currentzis dieses düstere, nur selten durch lichtere Momente aufgehellte Werk Klang werden lassen, setzt neue Massstäbe. Spieltechnisch lässt die bei Sony erschienene Interpretation keinen Wunsch offen; das Orchester agiert mit stupender Wachheit, zudem mit einem weiten dynamischen Spektrum und einer Vielfalt an Klangfarben, die von den ersten Takten an aufhorchen lassen. Dazu kommt eine Aufnahmetechnik, die ein ungewöhnliches Mass an Transparenz erzielt und so tief ins Innere der Partitur hineinhorchen lässt, ohne dass der Blick auf das grosse Ganze verloren ginge.

Gleich im eröffnenden Adagio fällt ins Ohr, von welchem Pianissimo aus das Geschehen in Fahrt kommt, wie subtil der Klang abgestuft ist und welch kernige Pracht die hier geteilten Bratschen entfalten. Im Allegro tritt dann zutage, wie vielgestaltig Currentzis das Orchester artikulieren lässt – ohne Zweifel eine Frucht der Beschäftigung mit älterer Musik. Ob die Noten Punkte tragen, ob Punkte unter Bögen oder Bögen allein, das macht einen Unterschied, der im philharmonisch homogenisierenden Klang leicht untergeht, der hier aber packende gestische Deutlichkeit schafft. Zudem ist das Orchester in deutscher Art aufgestellt, mit den Ersten und den Zweiten Geigen links und rechts vom Dirigenten, das lässt die Aufnahmetechnik nach Massen hören; bisweilen ist fast wie in einer Raumklang-Installation nachzuvollziehen, wie die Motive durch das Orchester wandern. Das wirft Licht auf die kompositorische Faktur, die hier deutlicher wahrgenommen werden kann als in Aufnahmen, die auf die emotionale Wirkung allein setzen.

An Emotionalität fehlt es Currentzis, was Wunder, allerdings keineswegs. Nicht zuletzt äussert sich das in den Tempi und deren durchaus subjektiver Ausgestaltung. Den mit «molto moderato» überschriebenen Abschnitt im ersten Satz nimmt der Dirigent äusserst getragen; die rhythmisch pointierte Begleitfigur in den hohen Streichern hebt er deutlich hervor, was enorm Spannung erzeugt, die Pauke klingt trocken und weist auf drohendes Ungemach voraus, worauf das Orchester in ein fünffaches Piano absteigt, das sich im nicht mehr Hörbaren verliert. Und dann: eine Explosion, die einen förmlich vom Stuhl reisst; krachend die Bögen, das Tempo hochgetrieben, zugespitzt die klanglichen Ballungen, wobei die einzelnen Instrumentalfarben jederzeit erkennbar bleiben – bewundernswert, was das Orchester, aufgepeitscht von seinem zischenden und fauchenden Dirigenten, hier leistet.

Tatsächlich «con grazia» kommt das Allegro des zweiten Satzes daher. In der Eleganz des 5/4-Taktes bilden der weite Atem der Phrasierungen und die schlechterdings sensationelle Kantabilität der Violinen die zentrale Attraktion. Einen scharfen Kontrast dazu schafft dann das Allegro molto des dritten Satzes. Förmlich vom Boden abspringend die Energie, unerbittlich durchgezogen der Verlauf, das Schicksalsmotiv von einer Schärfe sondergleichen. Nicht erst hier, hier aber ganz besonders kann man an Jewgeny Mrawinsky denken – doch setzt Currentzis die Blechbläser weit weniger krass in Szene, als es der grosse Russe tat. Und die Aufnahmetechnik, die für reichlich Hall sorgt, tut das Ihre dazu, indem sie das Blech auf Distanz hält. Martialisch wie bei Mrawinsky wird es bei Currentzis nie.

Höhepunkt ist auch in dieser Aufnahme das Finale, das sich emotional wie klanglich enorm verdichtet. Auf die Tränendrüse gedrückt wird freilich nirgends. Das ist ja das Besondere an Teodor Currentzis: Er stellt sich als Inbegriff des Exzentrikers dar, der dazu neigt, manche Passage, die vom Komponisten schon explizit genug erfunden wurde, doppelt zu unterstreichen. Tatsächlich kann man sich da und dort fragen, ob das Stück diese Art der interpretatorischen Tautologie benötige, und rasch ist das natürlich verneint, wir sind ja nicht mehr dort, wo sich die Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts aufhielten. Wer jedoch genau zuhört und vielleicht gar einen Blick in den Notentext wagt, wird sogleich feststellen, dass Currentzis bei allem Subjektivismus einen gleichsam modernen Ansatz verfolgt. An Fett fehlt es hier vollkommen, was dominiert, ist die Struktur. Wenn dann aber die gestopften Hörner ihre messerscharf schneidenden Klänge von sich geben, ist ein Moment des Erschreckens nicht zu vermeiden.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6. Music Aeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony 88985404352 (1 CD).

Hie Stillstand, dort Aufbruch

Lucerne Festival – Brennspiegel der Orchesterkultur

 

Von Peter Hagmann

 

Reich bestückt ist inzwischen der Garten rund ums Schloss, und zahlreich sind die darin beschäftigten Gärtner. Es gibt dort Zonen für die Kleinsten unter uns und solche für die Liebhaber kürzerer Veranstaltungen, es gibt Sektoren für das Neuste vom Tage und sogar ein eigenes, sehr schön ausgebautes Haus für die vertiefende Ausbildung in diesem Bereich. Allein, im Zentrum steht nach wie vor das Schloss selber – und das ist in der Sommerausgabe des Lucerne Festival die Reihe der fast dreissig Sinfoniekonzerte. Eine Plattform, auf der sich innerhalb von gut vier Wochen die bedeutendsten Orchester der Welt mit ihren Dirigenten begegnen, existiert meines Wissens nirgendwo sonst. Und das Interesse an dieser Art Kür scheint ungebrochen; von diesen Konzerten aus auf Zerfallserscheinungen irgendwelcher Art zu schliessen, wäre jedenfalls verkehrt. Sie haben Zukunft, das zeigt die Gegenwart.

Eine der Besonderheiten besteht darin, dass angesichts der Luzerner Konkurrenzsituation die gastierenden Orchester, jedenfalls die meisten unter ihnen, in erstklassigen personellen Konstellationen und mit Produktionen auftreten, die auf Hochglanz poliert sind. Das führt immer wieder zu Konzerterlebnissen der ganz eigenen Art. Die Berliner Philharmoniker zum Beispiel sind diesen Sommer zum letzten Mal mit Simon Rattle nach Luzern gekommen – wie stets auf dem Rückweg von den Salzburger Festspielen und wie jedes Jahr zum Ende des Sommers. Im ersten ihrer beiden Auftritte gab es ein neues Werk von Georg Friedrich Haas und «Die Schöpfung» von Joseph Haydn. Womit Rattle noch einmal in Erinnerung rief, in welcher Weise er in seinem anderthalb Jahrzehnte umfassenden Wirken als Chefdirigent das Repertoire und die Spielkultur des Orchesters erweitert hat. Zu einem wahrhaft fulminanten Abschied geriet jedoch der zweite Auftritt, der zwei Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch aufeinander folgen liess: die erste und die letzte.

Fast fünfzig Jahre liegen zwischen den beiden Werken – zwischen der aufschiessenden, extravertierten, hoffnungsvollen Examensarbeit von 1925 und dem in sich gekehrten, hörbar depressiven und klanglich extrem ausgedünnten Schwanengesang von 1971. Was für ein Leben, was für ein Schaffensbogen tut sich auf – das in einem Konzertprogramm bewusst zu machen, ist allein schon ein Verdienst. Und dann die klingende Umsetzung. Unglaublich zart, mit dem Silberstift gezeichnet, dazu in höchsten Masse anteilnehmend die fünfzehnte Sinfonie in A-dur. Hochpräzise im Rhythmischen, geschmeidig in den vielen brechenden Taktwechsel, leuchtend im Farbenspiel zwischen den verschiedenen, häufiger getrennt als gemeinsam agierenden Orchestergruppen. Die erste Sinfonie in f-moll dagegen: virtuos gesetzt vom Komponisten und vom Orchester blendend realisiert. Eine sagenhafte klangliche Palette tat sich da auf – mit Streichern in kompakter Wärme, mit strahlenden Blechbläsern, mit charakteristischen Holzbläsern. Das Lucerne Festival Orchestra wird sich gewaltig anstrengen müssen, so der Eindruck danach. Und grosse Schuhe sind das, die für Kirill Petrenko im nächsten Sommer bereitstehen.

Noch bemerkenswerter als der einzelne Höhepunkt erscheint in der Abfolge der Luzerner Sinfoniekonzerte jedoch die Möglichkeit, den Puls der Orchesterkultur zu fühlen und aktuelle Tendenzen aufzuspüren. In besonders krasser Weise war das vor zwei Tagen möglich: beim ersten der beiden traditionellen Auftritte des Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam. Eines allseits und sehr geschätzten Klangkörpers – als Bernard Haitink, als Riccardo Chailly, als Mariss Jansons das Zepter führten. Mit dem derzeitigen Chefdirigenten Daniele Gatti hat das Orchester kein Glück, wie die Wiedergabe von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 erwies. So aufgeplustert und öde, so langsam und zugleich unerfüllt, so grob und hart im Klang war das Stück im Konzertsaal des KKL vielleicht noch gar nie zu hören. Der Kopfsatz fürchterlich altmodisch in Stein gehauen, das (unerklärlicherweise attacca angeschlossene) Scherzo stampfend, als ob eine Armee daherkäme, der langsame Satz mit seinen drei gewaltigen Ausbrüchen ohne klaren dynamischen Aufbau – wie ist so etwas möglich?

Immer wieder hat Gatti dabei, übrigens vergeblich, die Faust geballt. Genau das ist es, was Gott sei Dank vorbei ist. Die Sommerausgabe des Lucerne Festival hat gezeigt, dass der interessante Wind aus anderer Richtung weht. Mit seinem harschen Zugriff bei den Tondichtungen von Richard Strauss hat das auch Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra erfahren; soll das ausserhalb der Rankings stehende Niveau erhalten bleiben, wird er auf das Orchester und seine ganz anders gelagerte, in der Kammermusik, im gegenseitigen Zuhören und darum im Leisen verankerte Mentalität zugehen müssen. Die besten Momente haben sich diesen Sommer dort ergeben, wo Parameter solcher Art herrschten: beim Chamber Orchestra of Europe, das mit Bernard Haitink in ungeahnte Tiefen des musikalischen Empfindens vorgedrungen ist (vgl. die Besprechung vom 23.08.17), bei den Berliner Philharmonikern, deren Potential Simon Rattle grossartig genutzt und weiterentwickelt hat, vor allem aber beim City of Birmingham Symphony Orchestra, das mit seiner jungen Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla zu neuen Ufern aufgebrochen ist (vgl. die Kritik in der NZZ vom 05.09.17). Das gibt Hoffnung.

Diskret und explizit – der Dirigent Philippe Jordan

Ein Schweizer zwischen Paris und Wien

 

Von Peter Hagmann

 

Beim Namen fangen die Doppeldeutigkeiten an. Die einen sprechen ihn französisch aus, mit einem stimmhaften «Sch» am Anfang und einem nasalen «a» am Ende, die anderen tun es auf Deutsch. Tatsächlich lebt der Dirigent Philippe Jordan in beiden Kulturen, in der deutschen wie in der französischen (wobei die Schreibweise des Vornamens einen leichten Akzent auf die lateinische Seite legt). Das kommt von zu Hause. Geboren und aufgewachsen bei Zürich, ausgebildet an der Zürcher Musikhochschule, machte Philippe Jordan seine ersten Schritte in Deutschland und Österreich: an der Staatsoper Unter den Linden Berlin sowie an den Musiktheatern in Ulm und Graz. Das Französische begegnete ihm durch den Vater, den bekannten, sehr geschätzten Dirigenten Armin Jordan, der bilingue war und sich seinen Namen in erster Linie als sensibler Interpret französischer Musik gemacht hat. In Frankreich hat Philippe Jordan denn auch mit dem Dirigieren begonnen: als Assistent des kürzlich verstorbenen Jeffery Tate in Aix-en-Provence und dann am Châtelet in Paris.

Inzwischen ist der Dirigent aus der Schweiz in den beiden Kulturkreisen fest verankert. 2009, er war damals fünfunddreissig, wurde er Musikdirektor der Oper Paris, fünf Jahre später wählten ihn die Wiener Symphoniker zu ihrem Chefdirigenten. In Wien, wo er ausgeprägt zyklisch arbeitet und auch dem Neuen Raum gewährt, liegt der Schwerpunkt bei Musik aus dem deutsch-österreichischen und osteuropäischen Kulturraum, zum Beispiel bei den Symphonien Beethovens (die er allerdings gerade auch mit seinem Pariser Orchester erarbeitet und auf DVD aufgenommen hat). Anders präsentiert sich die Lage in Paris, wo er in der Oper das grosse Repertoire betreut, mit dem Orchester aber gerne das Französische pflegt. Aufsehen erregte in den Jahren 2010/11 die Produktion von Wagners «Ring», mit welcher der damalige Intendant Nicolas Joel und sein neuer Musikdirektor wagemutig ihre Amtszeit einläuteten. Und eben erst – die Intendanz hat inzwischen Stéphane Lissner übernommen – ist die sensationelle Produktion von Schönbergs «Moses und Aron» mit Jordan und dem Regisseur Romeo Castellucci auf DVD erschienen. Mit seiner gelassenen, hochgradig kontrollierten und gleichzeitig frei strömenden Darstellung kleidet er den abstrakten Stoff in jene Sinnlichkeit, an die der Komponist gedacht haben mag. Zugleich lässt der Dirigent erkennen, dass für ihn die Musik nicht 1914 aufhört, dass er vielmehr auch den Strömungen des 20. Jahrhunderts seine Handschrift zu leihen vermag.

Neben Paris also Wien – und das ist genau das Richtige für Philippe Jordan. Nicht nur, weil sich da Oper und Konzert ergänzen. Sondern vor allem der eigenständigen, sehr ausgeprägten Farbigkeit wegen, die das Orchestre de l’Opéra national de Paris einerseits und die Wiener Symphoniker andererseits pflegen. Das kommt dem Dirigenten insofern entgegen, als dem expliziten, ja lustvollen Herausstellen der Instrumentalfarben sein besonderes Interesse gilt; Jordan ist ein Farbenkünstler, das bestätigen die zahlreichen CD-Aufnahmen, die in der jüngeren Vergangenheit unter seiner Leitung entstanden sind. Gewiss, unter dem Druck von Globalisierung, Kommerzialisierung und Standardisierung haben sich die farblichen Eigenheiten der Orchester in beträchtlichem Mass eingeebnet, aber so weit, wie es der weitgereiste Dirigent Neeme Järvi sieht, der überall dasselbe hört – so weit sind wir noch nicht. Noch immer sind die näselnde Wiener Oboe und die französische Trompete mit ihrem schimmernden Vibrato auf Anhieb zu erkennen. Damit arbeitet Philippe Jordan, zum Beispiel in der Einspielung von Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 mit den Wiener Symphonikern auf dem orchestereigenen Label. Emotion entsteht in dieser orchestral äusserst hochstehenden Aufnahme nicht durch schweres, gleichsam von aussen auf die musikalischen Verläufe aufgesetztes Pathos, sondern durch die taghelle Beleuchtung der musikalischen Strukturen, die sich in einem hochtransparenten Klangbild niederschlägt.

Das Strukturdenken, es steht an erster Stelle, und ihm gehorchen auch die Farbenspiele. Jordans Aufmerksamkeit gilt, das mag ihm als schweizerische Eigenschaft vorgehalten werden, der Lektüre des Notentextes, der Erkundung des interpretationsgeschichtlichen Horizonts und der Suche nach den Potentialen, die er in den jeweiligen Orchestern wecken und nutzen kann. Zu diesen Beschäftigungen gehört die Arbeit mit Tondokumenten – nicht um die Partituren zu lernen, sondern um das wache, das bewusste und das erkennende Hören zu trainieren. Dazu zählt aber auch die Auseinandersetzung mit der historischen Aufführungspraxis, deren Erkenntnisse Jordan, wenn auch nicht Spezialist auf diesem Gebiet, in sein Tun zu integrieren weiss. Darum versteht es sich, dass bei ihm in der «Unvollendeten» Schuberts oder dessen «Grosser» C-dur-Symphonie die Musik trotz spätromantischem Klanggewand zu sprechen beginnt. Zum Beispiel darum, weil Ton- oder Akkordrepetitionen je nach ihrer Stellung im Takt unterschiedlich artikuliert werden – was in der in der alten Musik Allgemeingut geworden, im hergebrachten Betrieb aber noch längst nicht jedem Musiker zu Ohren gekommen ist. Bemerkenswert auch, wie Jordan, darin neueren Auffassungen folgend, die Tempi in kleinen Modifikationen an einzelnen Gesten oder Motiven ausrichtet. So kommt er im Kopfsatz der C-dur-Symphonie vom sehr gemessenen Andante der Einleitung ohne Zwang ins Allegro ma non troppo des Hauptteils.

Für recht eigentliche Überraschungen sorgen indessen die drei jüngsten CD-Publikationen des Pariser Opernorchesters. Sie lassen entdecken, wie das Orchester an seinem Dirigenten gewachsen ist – und umgekehrt. Von 2013 stammt eine CD mit Orchesterstellen aus Wagners «Ring»; sie stellt die Eigenheiten von Philippe Jordans packendem Wagner-Klang wie unter einen Brennspiegel. Das Vorspiel zu «Rheingold» kommt nicht aus dem Ungefähren, sondern baut sich rhythmisch klar strukturiert auf; die Punktierten sind genau genommen und als solche hörbar. Im Vordergrund steht der Trennklang, das Nebeneinander der Farben statt deren Vermischung – was durchaus als französische Färbung deutscher Musik verstanden werden kann. Die Attacke, da hat sich Jordan deutlich von seinem Vater emanzipiert, wird gerne kräftig, das klingt dann grossartig. Wenn jedoch die Götter auftreten, herrschen langsame Tempi und weiche Artikulation.

Unverkennbar ist da auch das Denken in Kategorien des Bühnengeschehens – wie es auch bei der schlicht grandiosen Gesamtaufnahme von «Daphnis et Chloé» der Fall ist. Elf Mal wurde das abendfüllende Ballett Ravels im Frühjahr 2014 an der Pariser Oper gezeigt, stets unter der Leitung des Musikdirektors; in diesem Zusammenhang kam es zur Einspielung – das sind Voraussetzungen, die man lange suchen muss. Jordan lässt sich Zeit, nicht nur in der Vorbereitung, auch in der Musik selbst. Langsam und sorgsam werden die Verläufe aufgebaut, es herrscht ein Klima der Einlässlichkeit und der Genauigkeit, das sich in der Direktheit der Aufnahmetechnik blendend entfaltet. Das Laisser-faire vieler Aufnahmen in jener französischen Tradition, die Pierre Boulez, Mahler folgend, als reine Schlamperei bezeichnet hat, es ist hier wie weggeblasen. Dafür kommt es zu instrumentaler Koloristik eigener Art. Die Geschichte, die zwischen irisierenden Morgenstimmungen und der brutalen Einwirkung böser Kräfte changiert, findet jedenfalls klare Fasslichkeit – so wie es auf der jüngsten, 2016 entstandenen CD aus Paris bei Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» in der Orchestrierung Ravels geschieht. Vieles, was sonst im grossen Effekt untergeht, ist hier zu klar hören, ja bisweilen neu zu entdecken – dank der nochmals gesteigerten Akkuratesse in der Artikulation und der klanglichen Qualität im Einzelnen wie im Gesamten. Mit Philippe Jordan ist das Orchestre de l’Opéra national de Paris ohne Frage zum besten Klangkörper Frankreichs geworden.

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Aufnahmen mit dem Orchestre de l’Opéra national de Paris und dem Dirigenten Philippe Jordan:

  • Richard Strauss: Eine Alpensinfonie. Naïve 5233
  • Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune. Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Maurice Ravel: Boléro. Naïve 5332
  • Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (Auszüge, mit Nina Stemme). Erato 93414227
  • Maurice Ravel: Daphnis et Chloé. Erato 166848
  • Modest Mussorgsky / Maurice Ravel: Bilder einer Ausstellung. Sergej Prokofjew: Symphonie classique. Erato 295877910
  • Arnold Schönberg: Moses und Aron. BelAir 136

Aufnahmen mit den Wiener Symphonikern und Philippe Jordan:

  • Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 6. WS 006
  • Franz Schubert: Symphonie Nr. 7 in h-moll, D 759 («Unvollendete») und Symphonie Nr. 8 in C-dur, D 944 («Grosse»). WS 009

Vor der Zukunft an der Zahnradstrasse

Augenschein in der Tonhalle Maag im Wilden Westen Zürichs

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Francesca Bruno, Tonhalle-Gesellschaft Zürich

Unter Hochdruck wird gearbeitet. Von der Strasse aus ist wenig zu sehen ausser den Gerüsten, von denen aus die Fassaden des Gebäudes frisch angestrichen werden sollen. Im Inneren der Maag Event Hall, in jenem Teil, der als «Härterei» angeschrieben ist, herrscht dagegen emsige Betriebsamkeit. Der Konzertsaal aus Fichtenholz – es stammt aus dem Norden Europas, wo das Holz langsamer wächst und daher eine bessere Qualität aufweist – steht schon; der umlaufende Balkon lässt sich bereits betreten, an der Decke hängen auch die unzähligen, leicht gebogenen Paneele, wie sie von den Akustikern vorgeschlagen wurden. Der Boden ist noch nicht mit dem geplanten Eichenparkett belegt, da wird noch heftig gearbeitet, zum Beispiel an den Einlasskanälen für die Frischluft, die schräg gebohrt sein müssen, damit das Geräusch der einströmenden Luft leiser wird.

Erster Eindruck: superb. Hier also, in der Tonhalle Maag, wird das Tonhalle-Orchester Zürich für die nächsten drei Spielzeiten seinen Sitz haben. «Interims-Spielstätte» wird die Location genannt. Der Ort ist jedoch so bedürfnisgerecht strukturiert und wird derart sorgfältig realisiert, dass ein Abriss der Einrichtung nach der Rückkehr des Orchesters in die Tonhalle so gut wie undenkbar erscheint. Eher lässt sich fast ausmalen, dass die Mitglieder des Orchesters, vielleicht aber auch Teile der Administration, das Provisorium am Fuss des Prime Tower gar nicht mehr missen mögen. Die Bibliothekare zum Beispiel, die in der Tonhalle sozusagen unter Tag arbeiten, erhalten in der Tonhalle Maag einen geräumigen Saal mit viel Tageslicht. Die Musikerinnen und Musiker wiederum werden, auch wenn sie einen etwas längeren Weg zum Podium zurückzulegen haben, die grosszügigen, hellen Garderoben und Einspielräume zu schätzen wissen.

Zwischenlösung ohne Wenn und Aber

Zahnradstrasse, so lautet die Adresse im noch wenig bekannten, trendigen Westen Zürichs. Das ist weniger schlimm, als es scheint. Die Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr lässt nichts zu wünschen übrig; auch an Parkplätzen fehlt es nicht. Der Eingang, der nimmt sich nicht eben pompös aus. Man gelangt aber schnurstracks zur Kasse – zu einer von dereinst zwei Kassen, denn für die drei Jahre bis Mitte 2020, während der das Kongresshaus umgebaut und die Tonhalle geschlossen sein wird, gibt es einen zusätzlichen Schalter im Herzen der Stadt: im Haus der Credit Suisse am Paradeplatz. Im Maag-Areal sind es nur zwei, drei Schritte bis zur Garderobe, und von dort geht es gleich hinüber ins Foyer – das nun allerdings nicht besonders weitläufig wirkt angesichts der gut 1200 Konzertbesucher, die hier bewirtet werden sollen. Eigener Reiz geht vom industriellen Ambiente aus, das von Spillmann Echsle Architekten bewusst bewahrt wird; unvergessen diesbezüglich ist die Luzerner von Moos-Halle, die im Sommer 1997, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht fertiggestellt war, den damaligen Musikfestwochen als Veranstaltungsort gedient hat.

Für das Hauptstück freilich, für den Konzertsaal in der Tonhalle Maag, ist nichts zu viel. Vom Feinsten, kann man da nur sagen. Den Grossen Tonhallesaal kann er nicht ersetzen, das will er auch gar nicht. Bieten will er hingegen eine Zwischenlösung ohne Wenn und Aber. Zu diesem Zweck ist die Event Hall baulich ganz und gar von dem daneben gelegenen Musicaltheater getrennt worden; wenn dort «Ewigi Liebi» und daneben Bruckners Neunte gegeben werden, kommt sich akustisch nichts ins Gehege. Verändert wurde auch das Dach; es wurde angehoben, um mehr Höhe im Saal, aber auch Raum für die Technik zu gewinnen. Der Saal selbst ist nach dem bewährten Prinzip der Schuhschachtel konzipiert, verfügt aber über keinen rechten Winkel, was der Verbreitung des Schalls förderlich ist. Die Bestuhlung – einfach, aber bequem, wie der Architekt Harald Echsle betont – ist im Parkett mobil gehalten. Die Disposition der Sitzreihen kann also jederzeit und leicht verändert werden, womit Zürich ab Mitte Jahr doch tatsächlich über eine Art Salle Modulable verfügen wird.

In ausgeklügelter Funktionalität ist auch der Hinterbühnenbereich gehalten. Grosszügig bemessen sind die im Untergeschoss gelegenen Magazine für die Lagerung der Instrumente (und der Bestuhlung). Der Konzertflügel lässt sich über einen Lift aus dem Untergeschoss auf das Niveau des Podiums heben und direkt in den Saal schieben. Nicht zuletzt ist auch eine direkte Anlieferung vorgesehen, was darum günstig ist, weil in der Tonhalle Maag auch Gastorchester auftreten werden. Tatsächlich ist die Tonhalle-Gesellschaft Zürich mit ihrer Tonhalle Maag teils Mieterin bei der Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site, teils Untermieterin bei der Maag Music & Arts AG; vor allem aber ist sie auch, und anders als in der Tonhalle, Betreiberin des Saals. Sie vermietet nämlich ihrerseits den Konzertsaal an eine ganze Reihe privater Veranstalter wie das Zürcher Kammerorchester, das Migros-Kulturprozent, die Meisterinterpreten oder die Neue Konzertreihe. Ob das ein Modell für die Zukunft darstellt?

Weitgehend privat finanziert

Das alles stemmt die Tonhalle-Gesellschaft aus eigener Kraft: mit ihrem Team unter der Leitung ihres Präsidenten Martin Vollenwyder, der sich mit seinem Temperament, seiner Kompetenz und seiner Vernetzung mächtig ins Zeug legt. Finanziert werden die Baukosten von rund zehn Millionen Franken grösstenteils durch private Zuwendungen. Auch für die zusätzlichen Betriebskosten muss die Gesellschaft gerade stehen, nur die Miete von 2,5 Millionen Franken pro Jahr wird von der Stadt übernommen. Am 7. Juli 2017 soll der Konzertsaal fertiggestellt sein und übergeben werden. Dann werden die Akustiker von Müller BBM München das Zepter übernehmen, bevor sich das Orchester mit seinem neuen Spielort bekannt machen kann. Am 27. September 2017 findet das Eröffnungskonzert mit einem Bratschenkonzert von Brett Dean, dem Creative Chair der Saison 2017/18, und Beethovens Neunter statt; am Wochenende darauf folgt das grosse Fest zur Einweihung. Es darf gefeiert werden, denn Zürich erhält mit der Tonhalle Maag ein Konzertsaalprovisorium, wie es seinesgleichen weitherum gesucht werden muss. Notabene eines ohne elektronische Zurüstung, wie sie die Sinfonieorchester von Basel und Bern zu akzeptieren haben (vgl. NZZ vom 18.05.17). An Diskussionen wird es auch in Zürich nicht fehlen. Vielleicht bricht mit diesem Raum aber auch eine Zukunft an.

Ohrenspitzer für Schumann

Ein CD-Projekt mit der Geigerin Isabelle Faust und ihren Freunden

 

Von Peter Hagmann

 

Die Idee, während einer Tournee entstanden, ist so bestechend wie einfach. Die drei Klaviertrios von Robert Schumann sollten zusammenkommen mit den drei Solokonzerten des Komponisten für die Instrumente, die ein Klaviertrio bilden – alles Werke aus der Dresdener Zeit der Schumanns und aus den ersten Jahren in Düsseldorf. Bemerkenswert daran ist zunächst die Tatsache, dass sich das lange Zeit als minder gelungen abgewertete Violinkonzert wie das als Spätwerk ebenfalls nicht sehr geschätzte Konzert für Violoncello und Orchester auf ein und dieselbe Ebene gehoben sehen wie das berühmt gewordene Klavierkonzert. Auffällig ist aber auch das Ausmass an kompositorischer Kreativität, das hier innerhalb eines vergleichsweise eng abgesteckten Rahmens zum Ausdruck kommt.

Unterstützt wird das durch die spezielle interpretatorische Anlage. Musiziert wird im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Isabelle Faust spielt nicht die moderne Geige, die sie gewöhnlich zur Hand hat, sondern die Stradivari «La Belle au bois dormant» von 1704, die ihr von der Landesbank Baden-Württemberg zur Verfügung gestellt worden ist. Auch Jean-Guihen Queyras benützt ein altes Instrument, ein Violoncello von Gioffredo Cappa 1696 aus dem Besitz der Société Générale. Während sich Alexander Melnikov für das Klavierkonzert an einen Erard-Flügel von 1837, für die Trios dagegen an ein Hammerklavier der Wiener Werkstatt von Johann Baptist Streicher aus dem Jahre 1847 setzt – an zwei Instrumente aus der Sammlung von Edwin Beunk. Und für die Begleitung in den drei Instrumentalkonzerten sorgt das Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Pablo Heras Casado, einem jener Musiker jüngerer Generation, die sich in der historischen Praxis ebenso auskennen wie in der Moderne.

Gespielt wird auf dem gewohnten Stimmton von 440 Hertz für das eingestrichene a, also nicht zirka einen Halbton tiefer, auf 432 Hertz, wie es sonst bei der Verwendung von Darmsaiten auf den Streichinstrumenten üblich ist. Keines der drei Soloinstrumente klingt durch den höheren Stimmton eingeengt wie beim Zürcher Auftritt John Eliot Gardiners und seiner Kräfte vor einigen Monaten. Im Gegenteil, in den wie stets exzellenten Aufnahmen durch das Berliner Studio Teldex kommt die klangliche Schönheit uneingeschränkt zur Geltung. Dazu gesellen sich atmende Phrasierung, vielgestaltige Artikulation und, bei den Streichern, der bewusste Einsatz des Vibratos als Verzierung – das alles mit Blick auf einen möglichst weiten Radius des musikalischen Erlebens. Nicht zuletzt setzen alle beteiligten Musiker auf feuriges Temperament. Beim Orchester kann das auch zu befremdlichen Ausbrüchen führen, etwa im Klavierkonzert, wo am Schluss des ersten Satzes das in der Partitur vermerkte Crescendo zu einer förmlichen Explosion der Pauke führt.

Man nimmt es hin, weil Pablo Heras-Casado das Freiburger Barockorchester zu einer Präsenz anhält, die den Orchesterklang weit über die reine Begleitfunktion hinaushebt. Im Kopfsatz des Geigenkonzerts bilden die Achteltriolen der zweiten Geigen und der Bratschen eine vor Spannung bebende Grundlage, auf der die ohne Vibrato gespielten Halben einen Zug sondergleichen erzielen und die darauf folgenden Läufe wie aus einer Quelle herausschiessen. Isabelle Faust bewegt sich auf der nämlichen Ebene der Gestaltung. Sie prunkt nicht, sie arbeitet vielmehr mit äusserster Sorgfalt und erzeugt damit ein Geschehen, das von reichen Beleuchtungswechseln lebt – Schumanns Violinkonzert ist nun definitiv rehabilitiert. Ihre Partner stehen dem in keiner Weise nach nach. Alexander Melnikov bietet eine extravertierte, sich aber nirgends mit leeren Gesten in den Vordergrund drängende Auslegung des Klavierkonzerts, und Jean-Guihen Queyras arbeitet mit glühender, obertonreicher Kantabilität. Zu dritt fügen sich die Freunde um Isabelle Faust zu einem Trio, das hören lässt, was Kammermusik im besten aller Fälle sein kann.

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Robert Schumann mit Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Fortepiano) sowie dem Freiburger Barockorchester und Pablo Heras-Casado (Leitung) bei Harmonia mundi. – Vol.  1: Violinkonzert in d-moll WoO 1 (1853), Klaviertrio Nr. 3 in g-moll op. 110 (1851). HMC 902196. – Vol. 2: Klavierkonzert in a-moll op. 54 (1845), Klaviertrio Nr. 2 in F-dur op. 80 (1847). HMC 902198. – Vol. 3: Cellokonzert in a-moll op. 129 (1850), Klaviertrio Nr. 1 in d-moll op. 63 (1847). HMC 902197.

Am kommenden Sonntag, 26. März 2017, treten Isabelle Faust und das Freiburger Barockorchester mit Pablo Heras-Casado bei der Neuen Konzertreihe in der Tonhalle Zürich auf. Auf dem Programm stehen Werke von Felix Mendelssohn-Bartholdy: neben der «Hebriden»-Ouvertüre und der «Reformations-Symphonie» das Violinkonzert.

Das Musikkollegium Winterthur im Aufbruch

 

Peter Hagmann

Es ist etwas im Werden

Konzerte besonderer Art beim Musikkollegium Winterthur

 

In Winterthur ist etwas los. Wer abends, nach einem Konzert beispielsweise, durch die Marktgasse nach Hause schlendert, kann sich mit einem Mal freundlichst eingeladen sehen, ein Delikatessengeschäft zu betreten und, mit einem Becher Moscato versehen, von den über zwei Dutzend Sorten Panettone zu probieren, die auf dem Tresen ausgebreitet sind – eine eigene Sinnlichkeit tut sich da auf. Nicht weniger einladend präsentiert sich das Musikkollegium Winterthur, bei dem mit dem soeben installierten Chefdirigenten Thomas Zehetmair und dem schon etwas länger amtierenden, aber anhaltend tatendurstigen Direktor Samuel Roth ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Das Programm für die Saison 2016/17 spricht diesbezüglich eine klare Sprache.

Nicht nur in seinem stimmungsvollen Konzertsaal des Stadthauses will das Orchester auftreten, es geht auch hinaus – auf die Menschen zu und an ungewohnte Orte. Zum Beispiel ins Sulzerareal oder ins Theater Neuwiesenhof, wo es szenische Konzerte gibt, etwa den «Pierrot lunaire» von Arnold Schönberg zusammen mit einigen der fürwahr verrückten Klavieretüden von György Ligeti. Oder in die Kirche St. Peter in Zürich, wo sich das Musikkollegium Winterthur als eines der ältesten Orchester der Schweiz der Konkurrenz stellen (und seine für Winterthur erarbeiteten Konzertprogramme ein zweites Mal spielen) will. Gleichzeitig macht das Orchester sich und seinen Zuhörern aber auch die jüngere glanzvolle Vergangenheit bewusst, die auf das engste mit dem mäzenatischen Wirken Werner Reinharts verbunden ist. In der Villa Rychenberg finden Salonkonzerte statt, und über das ganze Programm verteilt finden sich Werke, die unter dem Einfluss Reinharts entstanden sind.

Vom ewigen Wandern

Nicht zuletzt aber gibt es mit Richard Dubugnon einen «composer in residence» und überdies einen «artist in residence», nämlich keinen Geringeren als Ian Bostridge. Der berühmte britische Tenor sorgt nicht nur für Glanz, er bringt auch neues Repertoire ein, zum Beispiel Franz Schuberts «Winterreise» in der komponierten Interpretation von Hans Zender. Dreissig Jahre lang trat Bostridge mit der originalen «Winterreise» auf, jetzt hat er sich der hochinteressanten, für Tenor und Instrumentalensemble gesetzten Fassung des achtzigjährigen deutschen Komponisten zugewandt – und das Ergebnis seiner Bemühungen nach Winterthur gebracht: in ein ausserordentlich gut besuchtes, mit letzter Aufmerksamkeit aufgenommenes Konzert im Stadthaus. Wenn sich grosse Interpreten für sie einsetzen, findet neuere Musik ganz selbstverständlich ihr Publikum.

Zenders Fassung der «Winterreise», deren Uraufführung 1993 bei den Frankfurt Festen zu einem nachhaltigen Erfolg wurde, erhebt Einspruch gegen das ältere Selbstbild des Liedbegleiters. An Liederabenden sind manche Zuhörer ganz auf die Stimme fokussiert; was das Klavier beiträgt, nehmen sie allenfalls als Zutat wahr – so wie Liedbegleiter früherer Zeiten Meister der Diskretion waren. «Bin ich zu laut?», fragte der legendäre Gerald Moore im Titel seiner Memoiren, die er in den frühen sechziger Jahren niederschrieb; er fasste damit das Grunddilemma des Partners am Klavier in einen prägnanten Satz. Inzwischen hat sich da manches verändert. Einem Sänger wie dem Bariton Christian Gerhaher ist Gerold Huber am Klavier alles andere als ein Begleiter, er prägt die Gestaltung als ein vollgültiger Partner mit – was sich nicht zuletzt darin äussert, dass der Deckel des Flügels ganz geöffnet ist.

Sänger unserer Tage sind sich bewusst, dass ein wesentlicher Teil der Wirkung, welche «Die Winterreise» bis heute erzielt, auf den Klaviersatz zurückgeht – oder besser: auf die sehr subtil ausgestaltete Balance zwischen dem Text Wilhelm Müllers, der Singstimme und dem Klavierpart. Diesen Ansatz führt Zender weiter. Den Verlauf der Singstimme lässt er im wesentlichen unverändert, den Klaviersatz überträgt er jedoch auf ein solistisch wirkendes Instrumentalensemble, das neben zweifach besetzten Holzbläsern, Blechbläsern, Schlagwerk, Harfe und Akkordeon auch ein im Winterthurer Abendprogramm nicht erwähntes Streichquintett vorsieht. In ganz unterschiedlicher Weise werden diese Instrumente eingesetzt. Dienen sie an der einen Stelle dazu, den Klaviersatz mit Farbe zu versehen, denken sie ihn an der anderen phantasievoll weiter, während sie etwa in den «Nebensonnen», dem zweitletzten Lied, den Textinhalt mit dem Material des Klaviersatzes geradezu theatralisch konkretisieren.

Von all dem war in der von Thomas Zehetmair geleiteten Winterthurer Aufführung einiges, aber wohl doch nicht genug zu erfahren. Die emotionale Grundierung des Abends war hervorragend gelungen; Schuberts Zyklus wurde hier tatsächlich zu einer bewegenden Reise durch eine Welt innerer Kälte. Die leisen Bewegungen der Musiker im Raum, gerade etwa am Anfang, wo gleich das ewige Wandern angesprochen wird, und die Einwürfe von Instrumentalisten aus räumlicher Ferne eröffneten recht eigentliche Seelenräume. Gemindert wurden diese  Eindrücke freilich durch Unzuverlässigkeiten im Technischen und, vor allem, durch einen merklichen Mangel an Transparenz. Treten die Instrumentalstimmen als solche wirklich klar heraus, werden sie als einzelne hörbar, so ergibt sich ein Geflecht, durch das man als Zuhörer in eine scheinbar unendliche Tiefe hineinblickt. Das ist hier zu wenig gelungen.

Schade war das darum, weil Ian Bostridge – so wie er es gerne tut, hier aber ganz besonders tat – auf die hochexpressive Instrumentalbegleitung mit gespannter Ausdrücklichkeit reagierte. In denkbar weitem Gegensatz zu jener Praxis früherer Zeiten, als die Liedbegleiter noch Liedbegleiter waren, dehnte er seine Stimme bis an die Grenzen und formte er den Text (in übrigens ausgezeichneter Diktion) bis in fast expressionistische Zuspitzung hinein. Nur war der Sänger eben von Klang statt von Linie umgeben und schien auch die Verstärkung, die Zender für einzelne Stellen vorschlägt, nicht wirklich zum Ziel zu führen.

«Kaiser und Papst»

Aber klar, der Weg ist das Ziel. Und dieser Weg verspricht einiges. An einem Abend zwei Wochen vor der Aufführung von Schuberts und Zenders «Winterreise» gab es französische Musik – nämlich nicht weniger als die sogenannte Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns, jene dritte Sinfonie des französischen Klassizisten, die nicht gerade zum Kernrepertoire des Musikkollegiums gehört. Dazu kommt, dass im Winterthurer Stadthaus keine Orgel steht, schon gar nicht eine jener Art, die für dieses monumentale Werk benötigt wird; und ein elektronisches Surrogat mit dem Klang aus Lautsprechertürmen verbietet sich von vornherein. Was sich hingegen anbietet, ist die von 1888 stammende Walcker-Orgel in der Stadtkirche, deren Disposition viele jener Farben anbietet, die hier vonnöten sind. Zudem steht das Instrument auf einer Empore, die so geräumig ist, dass auch ein relativ ausgewachsenes Orchester Platz findet.

Gesagt, getan – und Tobias Frankenreiter, den Organisten der Stadtkirche und Veranstalter des Winterthurer Orgelherbstes ins Boot geholt. Etwas vibrierende Aufregung verbreitete sich in der ebenfalls gut besetzten Stadtkirche, als das grosse Orchester, das Saint-Saëns vorsieht, auf die Empore und in die letzten Winkel neben der Orgel drängte; für einen Flügel gab es keinen Platz, man hatte mit einem Wandklavier vorlieb zu nehmen. Zur Einstimmung gab es, in wunderschön atmender Phrasierung, das «Prélude à l’après-midi d’un faune» von Claude Debussy und dann, echt erheiternd, die pompöse, ganz auf Effekt hin komponierte Fantaisie triomphale für grosse Orgel und Orchester von Théodore Dubois. Mehr als Tonika und Dominante sowie deren Wiederholung scheint es nicht zu geben in dieser Partitur, wohl aber schildert sie eindrucksvoll die, wie es der Programmzettel nannte, Begegnung zwischen Kaiser und Papst, nämlich zwischen dem Sinfonieorchester und der ihr klanglich nachempfundenen Orgel.

Die Orgel der Stadtkirche Winterthur stammt nicht von Aristide Camille Cavaillé-Coll, an dessen Instrumente Saint-Saëns gedacht haben mag, sondern von dem Deutschen Eberhard Friedrich Walcker, dessen Orgeln deutlich grundtöniger disponiert sind als jene von Cavaillé-Coll. Das schuf Tobias Frankenreiter die grundlegende Schwierigkeit, dem Orchester wirklich auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Zudem scheinen sich der Organist und der Dirigent darauf verständigt zu haben, dass die Orgel nirgends allzu mächtig klingen solle. Was dazu führte, dass die Überraschung in der Mitte des zweiten Satzes, wo sich die päpstliche Orgel mit einem majestätischen C-dur-Akkord von ihrem Thron erhebt und sich dem kaiserlichen Orchester in voller Grösse entgegenstellt, verschenkt wurde – in gleicher Weise wie das Ende, wo Orgel und Orchester wirklich gegenseitig ihre Muskeln spielen lassen.

Von solchen Einschränkungen abgesehen kam Saint-Saëns’ Orgelsinfonie aber zu der üppigen Wirkung, die sie verdient. Sehr schön das Ineinander der Klangfarben im ersten Satz und die Ruhe der Phrasen ebendort. Etwas mehr Mut im Aussingen des Geschehens und zum Effekt wäre aber dienlich gewesen. Das Musikkollegium Winterthur bewegte sich hier freilich in Gefilden, die ihm wenig vertraut sind. Und Thomas Zehetmair, der gefeierte Geiger, steht als Dirigent doch noch spürbar am Anfang; nicht wenig erinnert er an seinen Freund Heinz Holliger, der als Oboist und Komponist auch erst zum Dirigenten werden musste. Dass es Zehetmair gelingt, ist keineswegs ausgeschlossen.