Peter Hagmann
Ein Fall für die ideale Diskothek
Die Orchestermusik Robert Schumanns in Aufnahmen mit dem Dirigenten Heinz Holliger
Eines der ersten Konzerte, das Heinz Holliger nach seinem Debüt am Pult des Basler Kammerorchesters im Jahre 1976 dirigierte, galt Robert Schumanns «Manfred». Unvergessen, wie Holliger, als Dirigent damals noch wenig erfahren, an diesem Abend im November 1977 den schwierigen Anfang der Ouvertüre nahm. Heftig schlug er die auf der Eins des Eröffnungstaktes stehende Achtelpause, stürmisch folgten darauf die drei synkopisch gesetzten Doppelachtel – dergestalt, dass im Publikum manch einen der Schreck packte. Wild wirkten die Kontraste, nicht weniger gezackt als die genuin aus dem Inneren kommende, technisch aber in jeder Hinsicht unkonventionelle Schlagtechnik Holligers. Lang ist das her.
Inzwischen hat Holliger, der als sagenhaft begabter Oboist rasch berühmt wurde und bald auch als Komponist von sich reden machte, fast vierzig Jahre mit den verschiedensten Orchestern gearbeitet. Viel Erfahrung hat sich da akkumuliert, und sie paart sich mit seiner einzigartigen Musikalität. Genau davon lebt die Gesamtaufnahme der Sinfonischen Werke Robert Schumanns, die Holliger zusammen mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln und Instrumentalsolisten seiner Wahl für das Label Audite erstellt und jetzt mit dem sechsten und letzten Teil abgeschlossen hat. Wer wissen möchte, wie Schumann im besten Fall klingen kann, wird um diese sechs Compact Discs nicht herumkommen.
Zum Beispiel lässt sich anhand dieser Aufnahmen das berühmt-berüchtigte Klischee berichtigen, dass Schumann eben nicht zu instrumentieren verstanden habe. Wenn man so intensiv in die Musik dieses Grenzgängers hineinhört, wie es Heinz Holliger tut, sind solche Vorstellungen sogleich ausser Kraft gesetzt. Das umso mehr, als das WDR-Sinfonieorchester Köln in diesen Studioaufnahmen aus der Kölner Philharmonie seinem Gastdirigenten aus der Schweiz ohne Wenn und Aber folgt. So kann Holliger voll auf den warmen, sinnlichen Klang des Orchesters setzen und ihn für seine geschmeidig durchgeatmeten, leuchtend transparenten Auslegungen nutzen.
«Manfred», die Ouvertüre zum Dramatischen Gedicht von Lord Byron, zeigt die Vorteile exemplarisch. Der rasche Einstieg klingt noch immer wie der Ausbruch von 1977, ist aber nun sorgsam kontrolliert und eingebettet in den Kontext, der sich im darauf folgenden langsamen Teil ausfaltet. Und grossartig ausfaltet, denn die klanglichen Gewichte sind optimal verteilt, die Ersten Geigen steigen ganz leicht und nur sparsam vibrierend in die Höhe, das Blech fügt sich markant, aber nicht dominant ins Geschehen ein – ganz von selbst entsteht so untergründige Spannung. Wie die Tempi logisch und als Spiegel der Textvorlage aufeinander bezogen sind, wie gewisse Motive Anlauf nehmen, wie die einzelnen Instrumentalgruppen ihre Vorzüge einbringen, das alles macht aus dieser Ouvertüre ein Sinfonisches Vorspiel.
Womit Teil 6 dieses Kölner Schumann-Projekts auf hohem Niveau eröffnet ist. Und wie es bei Holliger gern der Fall ist, kommt es danach gleich zu einer Überraschung, denn auf die späte «Manfred»-Ouvertüre folgen die beiden vollendeten Sätze der ganz frühen «Zwickauer» Sinfonie von 1833, die keineswegs Unbeholfenheit, sondern ganz erstaunliche Anlagen zeigen – Holliger zollt diesem Fragment Respekt durch eine äusserst einfühlsame Interpretation. Auch jenseits dessen warten die Aufnahmen mit manch ungewohnter Erfahrung auf. Die vierte Sinfonie, d-moll, lässt sich in der gewohnten Version von 1851 wie in der kaum je gespielten Erstfassung von 1841 hören. Ins ebenfalls späte, lange Zeit verkannte Violinkonzert stiegt Patricia Kopatchinskaja mit geradezu erschreckender Verve ein, während Dénes Várjon im Klavierkonzert vorführt, was behende Leichtfüssigkeit diesem früher gern hingedonnerten Werk beibringt. Viel zu hören gibt es da, viel zu entdecken und zu staunen.
Robert Schumann: Die Sinfonischen Werke. WDR-Sinfonieorchester Köln, Heinz Holliger (Dirigent). Audite (6 CD) // I: Sinfonie Nr. 1. Ouvertüre, Scherzo und Finale. Sinfonie Nr. 4 (Frühfassung) // II: Sinfonien Nr. 2 und 3 // III: Konzert für Violoncello und Orchester. Sinfonie Nr. 4 (Spätfassung). Mit Oren Shevlin // IV: Konzert für Violine und Orchester. Konzert für Klavier und Orchester. Mit Patricia Kopatchinskaja und Dénes Várion // V: Konzertstück für Klavier und Orchester d-moll op. 134. Fantasie für Violine und Orchester. Konzertstück für Klavier und Orchester G-dur op. 92. Konzertstück für vier Hörner und Orchester. Mit Patricia Kopatchinskaja und Alexander Lonquich // VI: Ouvertüre zu «Manfred». «Zwickauer» Sinfonie. Ouvertüre zu «Szenen aus Goethes Faust». Ouvertüre zu Goethes «Hermann und Dorothea». Ouvertüre zu «Genoveva». Ouvertüre zu Schillers «Graut von Messina». Ouvertüre zu Shakespeares «Julius Caesar»