René Jacobs siebzig – und ungebrochen innovativ

 

Peter Hagmann

«Ich glaube, man wird dabei nicht schlafen können»

Mozarts «Entführung» mit dem Dirigenten René Jacobs

 

Keine Zeile (ausser einer bedeutungslosen Nummer zu Beginn des dritten Akts) sollte gestrichen werden – so wollte es der Dirigent René Jacobs bei seiner Einspielung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail». Er empfindet das Stück, gerade auch die Textvorlage von Gottlieb Stefanie dem Jüngeren nach einem Libretto von Christoph Friedrich Bretzner aus dem Jahre 1781, als schockierend aktuell – so Jacobs in einem wiederum sehr aufschlussreichen Text, den er ganz in der Tradition Nikolaus Harnoncourts ins Booklet einfügen liess. Der Dirigent legte darum selber Hand an, nicht um das Libretto zu kürzen, wie es wohlmeinende Regisseure zu tun pflegen, sondern um es mit Mass, Vorsicht und Respekt in einen Tonfall von heute zu bringen. Das ist ihm ausnehmend gut gelungen. Zum einen gibt die Aufnahme zu spüren, wie Mozart zusammen mit seinem Librettisten die Brisanz des Stücks zur Entstehungszeit herausgearbeitet und das damals noch allgegenwärtige Schaudern vor den Osmanen knapp hundert Jahre nach deren Vertreibung aus Wien erfasst hat. Zum anderen lässt die Einspielung erleben, wie viel «Die Entführung aus dem Serail» mit den Verhältnissen unserer Tage zu tun hat. Was Blonde, die Kammerzofe Konstanzes, dem ihr unentwegt nachstellenden Osmin an Brocken vor die Füsse wirft, könnte geradewegs aus einer Debatte um das Burkaverbot stammen.

Die «Entführung» als Hörspiel

Dass das alles in so helles Licht tritt, hängt mit der klaren dramaturgischen Position zusammen, die René Jacobs hier einnimmt. Ähnlich wie bei seiner Aufnahme der «Zauberflöte» sollte die Interpretation der «Entführung» ganz bewusst für die Wiedergabe ab Tonträger konzipiert sein; die Oper sollte gleichsam als Hörspiel geboten werden, mit lebendigen Stimmen und durchaus auch mit Geräuschen. Dies, um die gesprochenen Texte nicht als störende Inseln zwischen den geliebten musikalischen Nummern, sondern vielmehr als das Gerüst des Stücks fühlbar zu machen. Und um das Drama ganz aus der Musik heraus entstehen zu lassen – Theater ohne Bühne und ohne Regie. Auch das ist fabelhaft gelungen. Wie die sechs Sängerinnen und Sänger – nicht sprechen, sondern sprachlich agieren, das grenzt an ein Wunder. Dass der berühmte Cornelius Obonya vom Burgtheater Wien in der Sprechrolle des Bassa Selim mit verfremdendem Akzent spricht, mag zwar auf das erste Hören hin chargiert wirken; es unterstreicht jedoch die von Mozart gewünschte Überraschung am Ende, wo der Bassa Selim eine Milde walten lässt, die eine ganz andere Art Islam zeigt, als es der Aufseher Osmin mit seinen tobenden Ausfällen tut.

Dazu kommt, und das bildet die Spitze der phantasievollen interpretatorischen Entscheidungen, dass Text und Musik eng miteinander verbunden sind – ja, dass die Musik sozusagen szenische Funktion wahrnimmt. Mit von der Partie ist ein äusserst aktives Hammerklavier. Nicht aus Lust und Laune, sondern mit Bezug auf einen Brief Mozarts, in dem er seinem Vater berichtet, wie er an einem Abend mit der «Entführung» den Kapellmeister entlassen, sich an das im Graben bereitstehende Klavier gesetzt und das Orchester aufgeweckt habe. In der Aufnahme mit Jacobs fällt dem Hammerklavier eine sehr bedeutende Rolle zu. Es mischt sich munter in das orchestrale Geschehen ein, wie es schon bei der Einspielung der späten Sinfonien Mozarts mit Jacobs zu hören war. Und mehr noch: Es musikalisiert die gesprochenen Partien, unterlegt die Sprechtexte – nicht mit Irgendetwas, sondern mit Vorahnungen und Anklängen aus der Oper sowie Zitaten aus Klaviersonaten Mozarts. Das schafft eine ganz eigene Atmosphäre. Und es ist nicht aus den Fingern gesogen, sondern bezieht sich auf eine Briefstelle, an der Mozart vom Melodram schwärmt. Nicht zuletzt setzt das Hammerklavier szenische Vorgänge um, zum Beispiel bei der eigentlichen Entführung, wo auf- und absteigende Bewegungen die Arbeiten an der Leiter versinnbildlichen. Mittendrin erklingt das berühmte «Alla turca» aus der A-dur-Klaviersonate KV 331, das die vorüberziehende Wache intoniert – und darob die schon halb vollzogene Entführung übersieht.

Mehr als Lokalkolorit

Nicht immer geben die Anklänge an die türkische Musik mit ihren Pfeifen, Becken und Schellen zum Schmunzeln Anlass. Nikolaus Harnoncourt hat schon bei seiner frühen Zürcher «Entführung» vor dreissig Jahren darauf hingewiesen, dass das Türkische in der Musik der «Entführung» alles andere als exotisches Lokalkolorit sei, dass es vielmehr Angst und Schrecken ausgelöst habe. René Jacobs schliesst sich dem an, wenn er im Booklet auf einen weiteren Brief verweist, in dem Mozart schreibt, dass, wer die Janitscharenmusik in seiner Oper höre, nicht werde schlafen können. So lässt Jacobs das Türkische auch klingen: laut, dominant, gefährlich. Wie überhaupt in dieser Einspielung eine erregende Deutlichkeit der Formulierung herrscht. Die Akademie für alte Musik Berlin, langjährige Partner von René Jacobs, bringt eine grossartige Palette von Farben ein, agiert äusserst beweglich und artikuliert griffig. Dass Töne je nach Position im Takt unterschiedlich lang klingen, was besonders bei Tonrepetitionen auffällt, versteht sich absolut von selbst – das trägt zur prickelnden Lebendigkeit der Aufnahme bei. Dazu kommt, dass Jacobs seinen besonderen Sinn für das Rhythmische und dessen Verhältnis zu den gewählten (und bisweilen herrlich überraschenden) Tempi auch hier voll einbringt.

Auch im Vokalen vermag die Einspielung zu prunken. Wenn Dimitry Ivashchenko das Geschehen in Gnag bringt, erweist er sich als ein recht gemütlicher, recht verträglicher Osmin – aber wie der Kerl dann aufbraust, wird es einem anders. Witzig auch, mit welch schrägen Tönen Jacobs das «ad libitum» in Osmins Auftrittsarie auslegt. Julian Prégardien gibt einen Pedrillo, der gern den starken Mann spielt, im Grunde aber das Herz rasch in den Hosen hat. Darum dehnt er in seiner Arie «Frisch zum Kampfe» die zweite Silbe des Substantivs so lange, dass keinem Zuhörer der Mangel an Glaubwürdigkeit entgehen kann. Seine Geliebte, die Blonde, hat arg Haare auf den Zähnen; zugleich ist diese selbstbewusste Dienerin bei Mari Eriksmoen ein unerhört munteres Ding, das wirbelnd durch die Arien zieht und mit Verzierungen sondergleichen aufwartet. Das hohe Paar wirkt auch hier etwas blasser, aber nicht so sehr wie in gewöhnlichen Aufführungen. Als Belmonte bringt Maximilian Schmitt in seiner Auftrittsarie geschmackvolle Appogiaturen ein, während er in der Arie «Wenn der Freude Tränen fliessen» mit Geschick jeder Süsslichkeit aus dem Weg geht. Für die Glanzlichter der Einspielung sorgt Robin Johannsen als Konstanze. Die junge Amerikanerin verfügt über eine leichte, enorm klangvolle, obertonreiche Stimme, weshalb sie in ihrer Auftrittsarie die Koloraturen bis hin zu dem gekonnt ausgestalteten Triller mühelos meistert. Und da die Aufnahme in der leicht tieferen Stimmung von 432 Hertz für das eingestrichene a gehalten ist, bleibt ihre Höhe ohne jede Verspannung.

Eine in jeder Hinsicht hochstehende, packende «Entführung» – in einer Version, wie sie so nur auf CD möglich ist. Am 30. Oktober begeht René Jacobs seinen siebzigsten Geburtstag. Auf weitere fruchtbare Jahre.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. Robin Johannsen (Konstanze), Mari Eriksmoen (Blonde), Maximilian Schmitt (Belmonte), Julian Prégardien (Pedrillo), Dimitry Ivashchenko (Osmin), Cornelius Obonya (Bassa Selim), RIAS Kammerchor, Akademie für alte Musik Berlin, René Jacobs (Leitung). Harmonia mundi 902214/15 (2 CD). Aufnahme Berlin 2014, Produktion Arles 2015.

Am 6. November hat «Die Entführung aus dem Serail» im Opernhaus Zürich Premiere. Die Inszenierung entwirft David Hermann, am Pult der Scintilla steht anstelle von Teodor Currentzis, der sich krank melden lassen musste, Maxim Emelyanychev.

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