Peter Hagmann
Den Mythos ins Präsens gesetzt
Monteverdis «Orfeo» mit Ottavio Dantone und Robert Carsen in Lausanne
Eigenartig fern ist die Geschichte von jenem jungen Mann, der seine heiss geliebte, eben geehelichte, wenig später jedoch durch einen Schlangenbiss wieder verlorene Gattin aus der Unterwelt ins Leben zurückzuholen sich vorgenommen hat. Und dies durch die Kraft der Musik, auf die er sich als Sänger und Virtuose auf der Lyra wie kein Zweiter versteht. Claudio Monteverdi hat den Mythos von Orpheus und Eurydike vor gut vierhundert Jahren in eine Oper gefasst – als eines der ersten Stücke dieser Gattung. In der Opéra de Lausanne ist von Distanz nicht das Geringste zu spüren, das Geschehen wirkt musikalisch wie szenisch so präsent, als entstamme es der Gegenwart.
Das ist es, was Robert Carsen in einer ganz besonderen Weise kann. Vor dreissig Jahren hat der kanadische Regisseur in Lausanne seine erste grosse Operninszenierung vorgelegt – nicht weniger als «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss. Jetzt ist er, berühmt geworden, allerorts begehrt, aber frei von jeglicher Starallüre, an den Ort seines Aufbruchs zurückgekehrt. Und hat vorgezeigt, in welchem Mass ihm handwerkliches Können und künstlerisches Empfinden zugewachsen sind. Ersteres erweist sich zu Beginn: dort, wo «L’Orfeo» noch nicht wirklich Oper ist. Weit offen hält Radu Boruzescu die Bühne, der Boden ist mit Blütenblättern in Rot-, Gelb- und Grüntönen bedeckt, und in der gleichen Farbskala sind die sommerlichen Kostüme gehalten, die Petra Reinhardt für die fröhlich tanzende Gruppe junger Leute entworfen hat. Unter ihnen mit Orpheus und Eurydike das junge Paar, dessen Liebe noch scheu wirkt. Das ist jener Ästhetizismus, der jedem Verächter des Regietheaters Labsal schafft.
Wie das tragische Schicksal seinen Lauf nimmt, verdüstert sich das Bild – grossartig, wie effektvoll Carsen hier als sein eigener Beleuchtungsmeister Gegen- und Seitenlicht einsetzt. Als eine ausstrahlungsmächtige, stimmlich souveräne Botin verkündet Josè Maria Lo Monaco den Tod Eurydikes. Womit in die schönen Bilder Carsens jene scharf gezeichneten Charaktere treten, die diesem Regisseur immer wieder gelingen, selbst im Umfeld eines eben nur scheinbar fernen Mythos. In seiner Verzweiflung, in seinem Aufbegehren gegenüber den Mächten der Unterwelt wird Orpheus zu einem Menschen von bebender Vitalität, und zugleich zeigt sich Fernando Guimarães den heiklen stilistischen Anforderungen seiner Partie hervorragend gewachsen – was die begrenzte Dynamik seiner Stimme vergessen lässt.
Mit Nicolas Courjal, der einen glänzenden Bass von präziser Lineatur ins Spiel bringt, stellt sich dem fordernden Orpheus die Unerbittlichkeit des Todes entgegen, doch führt die Kraft der Musik dazu, dass sowohl beim Schiffer Charon als auch bei Pluto, dem Herrscher der Unterwelt, das Eis des Amtes rasch schmilzt. Selbst Plutos Frau Proserpina, von Delphine Galou mit klangvoller Tiefe gesungen, entdeckt wieder die Reize des Erotischen; sie überlässt ihrem Gatten erst maliziös einen Lederhandschuh, bevor sie ihn dann ihren schweren schwarzen Umhang abstreifen lässt. Das alles auf einem Boden, der tief unten liegt und darum von Wasser bedeckt ist – das gehört zur Prägnanz der szenischen Bilder, mit denen Carsen zu arbeiten pflegt.
Dort aber kommt es dann zu jenem Moment, da Eurydike ihrem Gemahl in das vermeintlich wiedergewonnene Leben folgt. Die Insistenz, mit der Federica Di Trapani die Augen auf den Rücken des vorangehenden Mannes heftet, schafft ein Theaterbild, das sich der Erinnerung einprägt – genau gleich, wie es die Intensität tut, mit der sie ihre Hingabe in Klang fasst. Überhaupt steht der Abend im Zeichen einer innigen Verbindung zwischen dem Szenischen und dem Musikalischen. Robert Carsen reagiert sensibel auf die überraschenden Harmoniewechsel in Monteverdis Musik, und Ottavio Dantone am Pult bereitet ihm den Boden dafür.
Der italienische Cembalist, der zusammen mit seinen Mitstreitern an Harfe, Laute, Gitarre, Theorbe, Orgel und Regal für einen äusserst farbenprächtigen, vielgestaltigen Generalbass sorgt, hält das Geschehen bisweilen nur mit der Linken zusammen, formt es aber jederzeit entschieden. Dass das Orchestre de Chambre de Lausanne auf konventionellen Instrumenten spielt, natürlich ergänzt durch Zinken und alte Posaunen, ist nicht wirklich von Belang; entscheidend ist vielmehr der Geist – und es ist der einer historisch informierten Aufführungspraxis neuer Generation. Da ist nichts mehr zu beweisen oder gar durchzusetzen wie 1975, als Nikolaus Harnoncourt «L’Orfeo» am Opernhaus Zürich der Jetztzeit wieder erschlossen hat. Deshalb neigt auch nichts zum Demonstrativen. Das Sprechende gerät vielmehr ganz selbstverständlich, flüssig und geschmeidig. Und die fremdartigen Harmonien wie die immer wieder überraschend eintretenden Dissonanzen fügen sich zu einem Ganzen, das von tief berührender Wirkung ist.
Vorstellungen bis 12. Oktober.