Peter Hagmann
Mächtig reduziert
Auszüge aus Bühnenwerken Wagners in Bearbeitungen für Harmonium und Klavier
Falls Sie ab 25. Juli nicht nach Bayreuth fahren möchten, falls Sie keinen Sinn haben für die Skandälchen um Regisseure und Dirigenten, die auf dem Grünen Hügel künstlerisch relevante Resultate ersetzen, falls Sie keinen Geschmack finden am sängerischen Stadttheaterniveau, mit dem Katharina Wagner bisweilen aufzuwarten beliebt – mit einem Wort: falls Sie die Richard-Wagner-Festspiele 2016 auslassen und gleichwohl mit Wagner in Berührung sein wollen, hätte ich Ihnen eine Alternative. Es ist eine CD, wie es wohl keine zweite gibt. Eine CD, von der Sie, läuft sie erst einmal, so rasch nicht loskommen. Und eine CD, die ihnen einiges zu schmunzeln gibt.
Es ist die CD, die Jan Hennig und Ernst Breidenbach miteinander aufgenommen haben. Der eine am Harmonium, pardon: am Kunstharmonium, der andere am Klavier, Entschuldigung: am Flügel. Tatsächlich, Harmonium und Klavier, ein Duo der eigenen Art. Möglich gemacht hat es Sigfrid Karg-Elert (1877-1933), der heute bestenfalls noch dem Namen nach bekannt ist. Kein Wunder, hat doch Karg-Elert, sein kurzes Leben lang in Leipzig ansässig, in erster Linie fürs Harmonium gewirkt: als Virtuose auf dem Instrument, als Komponist, als Arrangeur. Für ein Instrument also, das aus dem Bewusstsein unserer Tage ganz und gar verschwunden ist.
Vielleicht erinnern Sie sich, in einer Bergkapelle eines gesehen zu haben – und gleich wird Ihnen dann auch das Schimpfwort einfallen: Heuchlerkommode. In der Tat ersetzte das Harmonium bei religiösen Gemeinschaften, die über wenig Mittel verfügten, die Orgel – oder in Theatern, die einen zu kleinen Orchestergraben aufwiesen, die fehlenden Streicher. Mein Theorielehrer, der Basler Komponist Philipp Eichenwald, sass bei Opernaufführungen im damaligen Städtebundtheater Biel-Solothurn am Harmonium, während der junge Armin Jordan dort seine ersten Sporen als Dirigent abverdiente. Tempi passati.
Oder eben nicht, wie die CD mit Jan Henning und Ernst Breidenbach in packender Vitalität vorführt. Weil sich auch in grossbürgerlichen Haushalten nicht selten auch ein Harmonium fand und weil es naturgemäss neben dem Flügel im Musikzimmer stand – weil sich also ein Markt für Musik in dieser Besetzung auftat, kam der berühmte Leipziger Musikverlag Peters nach 1910 mit der Bitte zu Sigfrid Karg-Elert, die Opern und Musikdramen Richard Wagners – Sie lesen richtig: alle – für Harmonium einzurichten. Dazu ist es natürlich nicht gekommen, Karg-Elert hatte ja eine Menge Auftritte, war mit Kompositionsaufträgen versehen und unterrichtete am Leipziger Konservatorium. Aber einige Alben mit Wagner-Bearbeitungen sind in der Folge durchaus erschienen. In ihnen finden sich auch dreissig Transkriptionen für Harmonium und Klavier.
Die beiden Instrumente passen besser zusammen, als man glaubt. Mit seinem perkussiven Charakter bringt das Klavier die Bewegung zur Geltung und schärft es das Rhythmische, während das Liegende, das Singende und vor allem das Farbenprächtige beim Harmonium aufgehoben ist. Wie die Orgel arbeitet das Harmonium mit Luft, in der einen Bauart des Instruments mit Druckluft, in der anderen mit Saugluft – und diese Luftströme werden mit Hilfe zweier Tretpedale erzeugt. Aber anders als die Orgel weist das Harmonium keine Pfeifen auf, die Töne entstehen wie beim Akkordeon oder bei der Mundharmonika durch die Bewegung durchschlagender Metallzungen. Beim Kunstharmonium geschieht das in besonders raffinierter Weise, indem es dort eine Vielzahl von Registern gibt, welche die allerunterschiedlichsten Farben zu erzeugen vermögen. Recht vielgestaltig wird da gesäuselt.
Besonders schön ist das im Vorspiel zum ersten Aufzug von «Lohengrin» zu hören. Ganz zart werden die in der Höhe liegenden Streicher durch das Harmonium evoziert, das Klavier fügt am Schluss der kurzen Anfangsphrasen jeweils einen gebrochen Akkord dazu. Wie das Geschehen in Fahrt kommt, wartet das Harmonium mit einer Schwebung auf, einem ganz leisen, leicht tremolierenden Register und fügt dann, während das Klavier improvisiert wirkende Fülltöne beisteuert, Register um Register dazu, dies ohne Stufen, denn der Schweller ermöglicht stufenlose dynamische Veränderungen. Grossartig, wie die Steigerung durchgeführt – und wie sie am Ende des Vorspiels wieder zurückgenommen wird. Und majestätisch der klangliche Höhepunkt.
Grandios auch der Einzug der Gäste auf der Wartburg aus dem zweiten Aufzug von «Tannhäuser». Das Klavier sorgt mit den wiederholten Akkorden für die Begleitung, während das Harmonium die Melodielinie singt – sagenhaft die Grösse, die sich da ergibt, wo doch nur zwei Behelfsinstrumente am Werk sind. Eins nach dem anderen zieht man sich herein: das Spinnerlied aus dem «Fliegenden Holländer», das Quintett aus dem dritten Aufzug der «Meistersinger», selbst Siegfrieds Tod und der Trauermarsch aus der «Götterdämmerung» und natürlich Vorspiel und Liebestod aus «Tristan und Isolde».
Hier gilt’s der Kunst, fürwahr. Jan Henning am Harmonium und Ernst Breidenbach als Klavier sind Könner erster Güte. Hören Sie selbst – die CD ist beim Label Pan Classics unter der Bestellnummer 10335 erschienen.