Peter Hagmann
Wenn Musik erzählt
«Rheinmädchen», eine CD mit dem Ensemble Pygmalion und seinem Leiter Raphaël Pichon
Eine ganze CD mit Musik für Frauenchor, entweder allein oder in Begleitung von Harfe und bis zu vier Hörnern – damit überrascht das französische Ensemble Pygmalion auf seiner jüngsten Neuerscheinung bei Harmonia mundi (902239). «Rheinmädchen» ist das dramaturgisch konzipierte Programm überschrieben. Es beginnt mit dem Vorspiel zu Wagners «Rheingold», dem aus der Tiefe des Rheins oder des Unbewussten aufsteigenden, immer dichter wogenden Es-dur-Akkord, der hier von 24 im Raum verteilten Frauenstimmen, einer Harfe, vier Hörnern und zwei Kontrabässen realisiert wird. Das Wagalaweia des Originals kommt so etwas anders daher als gewohnt, aber mit fast noch mehr Suchtpotential. Das liegt natürlich an der Komposition, ebenso sehr aber am sinnlichen Reiz der Bearbeitung – und, nicht zuletzt, an der technisch ganz ausgezeichneten Aufnahme, die Hugues Deschaux im Pariser Temple du Saint-Esprit gelungen ist. Dass die Reproduktion von Musik, wiewohl ein Artefakt, dieser Kunst zu einer klanglichen Realität eigenen Rechts verhilft, bestätigt sich hier aufs Neue.
Es folgt ein abwechslungsreicher, atmosphärisch dichter Verlauf von Werken, der die Namen von Wagner und Brahms, Schubert und Schumann fast kontrapunktisch ineinanderflechtet. Auf das sanfte «Wiegenlied» von Robert Schumann, bei dem der Frauenchor hier nicht vom Klavier, sondern von der Harfe begleitet wird, folgt mit «Ich schwing mein Horn ins Jammertal» ein Männerchor a cappella von Johannes Brahms, der in diesem Programm aber vier Hörnern übertragen ist – Naturhörnern, wie sie Brahms den zu seiner Zeit neuartigen Ventilhörnern vorzog. Der kontrapunktisch gedachten «Meerfey» Schumanns für Frauenchor allein schliesst sich der homophone Psalm 23 «Gott ist mein Hirt» von Franz Schubert an – wie das Programm überhaupt sehr spielerisch umgeht mit den verschiedenen Satztechniken. Und immer wieder klingt «Der Ring des Nibelungen» an, das Monumentalwerk Richard Wagners, das etwa in Siegfrieds Hornruf erscheint oder im Trauermarsch aus der «Götterdämmerung», hier in einer freien Version für vier Hörner des Amerikaners James H. Wilcox. Am Ende schält sich aus dem Gesang der Rheintöchter in der «Götterdämmerung» ein Hornmotiv heraus, das direkt überführt in die Vier Gesänge op. 17 für Frauenchor, zwei Hörner und Harfe von Johannes Brahms. Womit die beiden von ihrer Umwelt zu schärfsten Rivalen gemachten Komponisten Arm in Arm von dannen ziehen.
Hochattraktiv ist nicht nur die Programmgestaltung, die ungewöhnliche Beziehungen schafft und manche Rarität ans Licht bringt, zum Beispiel das «Ständchen», das Schubert für Mezzosopran, Frauenchor und Klavier (Harfe) komponiert hat. Hinreissend ist auch die interpretatorische Leistung. Das Ensemble Pygmalion, gegründet 2006, umfasst wie Les Arts Florissants von William Christie einen Chor und ein Orchester, beide der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet. Geleitet wird das Ensemble von dem etwas über dreissigjährigen Countertenor und Dirigenten Raphaël Pichon. Der Frauenchor, der die CD mit den «Rheinmädchen» bestreitet, ist mit vierzehn hohen und zehn tiefen Stimmen besetzt. Mit einem ganz lichten Sopran und in einem Alt, der eine unglaublich sonore Tiefe erreicht – besonders dann, wenn die beiden Herren, die als Countertenöre im Alt mitwirken, in ihre normale Stimmlage gehen. Hell und klar der Klang, homogen in den Akkorden und transparent in den Stimmverflechtungen, dabei blitzsauber in der Intonation – das ist professioneller Chorgesang vom Feinsten, dem sich das Instrumentale würdig anschliesst. Rasch und immer wieder drückt man hier die Repetitionstaste.
Und freut man sich an einer Neuerscheinung, die den Zeitgeist Lügen straft. Unentwegt wird ja der endgültige Tod der um 1980 eingeführten Compact Disc heraufbeschworen. Und gern wird im Zusammenhang damit auch der Tod der klassischen Musik vorausgesagt – wie er sich auch in der Überalterung des Konzertpublikums manifestiere. Tatsache ist indessen, und die «Rheinmädchen» zeugen davon, dass nach wie vor und durchaus mit Erfolg neue CDs produziert werden. Zum Beispiel eben von dem Label Harmonia mundi, das in diesem Bereich eine führende Position einnimmt und die sogenannten Majors längst hinter sich gelassen hat. Selbstverständlich ist das nicht, denn das französische Unternehmen verfolgt eine Geschäftsidee, die unbeirrt auf Inhalt und Qualität setzt; im Vordergrund steht die künstlerische Ambition, während das kommerzielle Interesse eher als Mittel zum Zweck erscheint. Zum Glück.