Haben oder nicht haben

«Manon Lescaut» von Puccini im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Eine todbringende Gesellschaft ist das, aber lustig anzusehen. Besondere Erheiterung schaffen die beiden Pferde, welche die Omnibus-Kutsche, eine Vorform des öffentlichen Verkehrs, auf die Bühne ziehen. Die Pferde – nun, es sind keine Pferde, sondern Theatertiere, gespielt von Statisten, die ihre Wartezeiten in eher gekrümmter Körperhaltung und mit gewiss nicht übermässig Sauerstoff durchstehen – und sich dabei in ihren liebevoll ausgestalteten Pferdekostümen die Beine vertreten, wie es ihre Vorbilder in natura auch tun. Wieder einmal gibt es in diesem Eröffnungsbild zu Giacomo Puccinis Oper «Manon Lescaut», die das Opernhaus Zürich jetzt ins Programm genommen hat, einen Moment zu erleben, wie es ihn in seiner Überraschungskraft nur live gibt. Am Werk waren dabei nicht nur Theaterpferde, sondern ein Theatertier im wörtlichen Sinn: Barrie Kosky.

Es ist wie immer bei diesem von sprühender szenischer Phantasie lebenden Künstler: Rein äusserlich mag das Bildhafte ausgreifend, vielleicht gar zu üppig erscheinen, zumal sich die Mitstreiter des Regisseurs, in dieser Produktion Rufus Didwiszus für das diskrete, im entscheidenden Moment aber schlagkräftige Bühnenbild und Klaus Bruns für die teils exquisiten, teils farbenprallen Kostüme, nicht zurückzuhalten hatten. Hinter der Unmittelbarkeit des Optischen wirkt aber jederzeit die ganz klar interpretierende Hand. Der von Ernst Raffelsberger tadellos vorbereitete Chor bildet die gesellschaftliche Folie, vor der sich das Drama von Manon Lescaut und ihrem Geliebten Des Grieux ereignet. Dabei geht es nicht so sehr, wie in der Grand-Opéra, um den Kontrast zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten als Zentrum der dramatischen Spannung, gezeigt wird vielmehr der scharfe Gegensatz zwischen dem Oben und dem Unten im Gesellschaftlichen.

Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Manon ist zwar verliebt in Des Grieux, giert aber auch nach jenem Reichtum, den ihr Geronte di Ravoir offeriert, der ältliche Grossbürger in seinem tadellos sitzenden Anzug und mit seiner furchteinflössenden Hornbrille auf der Nase – Shavleg Armasi nützt diese Kurzauftritte zu einem imponierenden Rollenporträt. Messerscharf herausgestellt wird die soziale Verlaufskurve von der Ankunft im Omnibus über das Austern-Frühstück vor der goldenen, überkitschig verzierten Luxus-Kutsche hin zu jenem klapprigen, nun nicht mehr von Pferden, sondern von schwacher Hand gezogenen Wagen mit den paar wenigen Habseligkeiten, mit dem sich Manon und Des Grieux durch die amerikanische Wüste schleppen. Haben oder nicht haben, das ist die Frage, die bei «Manon Lescaut» im Raum steht. Gestellt wurde sie von Giacomo Puccini im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Zeit der wildgewordenen Geldbesessenheit. Und unterstrichen wird sie in Zürich von Barrie Kosky, der daran trotz der fürwahr erheiternden Oberfläche keinen Zweifel lässt.

Laut und deutlich wird sie gestellt, diese Frage. Herrlich laut. Der Dirigent Marco Armiliato, ein herausragender Spezialist des italienischen Repertoires, lässt die Philharmonia Zürich nach Massen aufrauschen. Kernig und körperhaft wirkt der Klang, ausserdem jederzeit vorzüglich ausbalanciert, zugleich aber auch so farbenreich, dass das Händchen für Effekte der Instrumentation, das der noch junge Puccini in seiner Partitur zu erkennen gibt, einen ins Staunen bringt. Davon in keinem Augenblick tangiert ist freilich das Verhältnis zwischen dem Instrumentalen und dem Vokalen; kunstvoll sind die Singstimmen in den Klang des Orchesters integriert: nicht als Teil eines symphonischen Gefüges, sondern mit jener selbstverständlichen Dominanz, die der italienischen Oper eigen ist.

Möglich wird das dank einer erneut erstklassigen Besetzung. In der Partie des unglücklichen Liebhabers Des Grieux geht Saimir Pirgu von Anfang an mit voller Kraft zu Werk, mühelos steigt er in die Höhe und verbreitet dort blendenden Glanz. In Elena Stikhina, der unvergesslichen Zürcher Salome von 2021, steht ihm als Manon Lescaut eine Partnerin zur Seite, die ihm was die Kraftreserven und die Schönheit des Timbres betrifft, in nichts nachsteht. Wie sie dann aber mit ganz und gar zurückgenommenem Ton, ohne jedes Vibrato, die entsetzliche Sterbeszene des vierten Aktes gestaltet, ist von zutiefst berührender Wirkung. Hocherfreulich auch die Wiederbegegnung mit Konstantin Shushakov, der als Manons Bruder Lescaut geschickt und grosszügig mit Bestechungsgeldern umgeht, das Unheil dann aber doch nicht verhindern kann.

So stirbt man. Nicht unter Palmen, sondern unter den Kakteen auf staubtrockenem Boden. Dass der Tod von allem Anfang mit dabei ist, davon spricht der geigende Rattenfänger, der zu Beginn die Menge verführt, davon zeugt aber auch der Kutscher, der auf seinem Hochsitz hinter dem Theaterpferd seinen grinsenden Schädel zur Schau stellt. Ein wenig pflegt Barrie Kosky auch die formale Seite seines Tuns.

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