Mit dem Saxophon im Konzertsaal

Ein Abend des Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Valentine Michaud (rot) und Gabriel Michaud (blau) in Harrison Birtwistles «Panic» / Bild Magali DOugados, Orchestre de la Suisse Romande

So schnell findet sich ein Abonnementskonzert wie dieses nicht wieder. Das Programm: durchkomponiert von A bis Z, und das mit Werken ausschliesslich aus dem 20. Und 21. Jahrhundert. Die Ausführung: erstklassig in jeder Hinsicht, obwohl höchste Anforderungen gestellt waren. Der Saal: so gut wie ausverkauft – und besetzt mit einem altersmässig gut durchmischten Publikum. So ist es eben beim Orchestre de la Suisse Romande und seinem Musikdirektor Jonathan Nott. Und so ist es, wenn in der ehrwürdigen Genfer Victoria Hall eine so unkonventionelle Musikerin wie Valentine Michaud ihren Auftritt hat.

Seit sie 2020 den Credit Suisse Young Artist Award gewonnen hat und im Rahmen dessen als erste Vertreterin ihres Instruments mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen beim Lucerne Festival in Erscheinung getreten ist, steht die 1993 geborene Saxophonistin im Begriff, die Konzertsäle zu erobern. Sie tut es in Zusammenarbeit mit Orchestern oder im Duo mit der Pianistin Akvilé Šileikaité, aber auch mit ihrem Bruder, dem Schlagzeuger Gabriel Michaud. Und nicht nur das. Zusammen mit Emmanuel Michaud, einem weiteren Bruder, hat sie mit Sibja, einem transdisziplinären Kollektiv, eine Initiative gestartet, die neue, auf verschiedenen Ebenen basierende Konzertformate entwickelt. Was das für das Repertoire der Musikerin und ihr Erscheinungsbild bedeutet, veranschaulicht ihre neue CD unter dem Titel «Oiseaux de paradis», die einen Bogen von François Couperin zu John Lennon schlägt.

Bei Jonathan Nott ist Valentine Michaud mit ihrem im Konzertsaal noch nicht wirklich etablierten Instrument und ihrer künstlerischen Neugier auf offene Ohren gestossen. Für ihren ersten grossen Auftritt als Residenzkünstlerin des Orchestre de la Suisse Romande hat der Dirigent ein Programm zusammengestellt, das in der Vielfalt seiner inhaltlichen Bezüge von einzigartiger Attraktion war. Wie der Abend mit den Trois Danses pour orchestre op. 6 von Maurice Duruflé anhob, mischte sich bald, aber sehr diskret ein Saxophon in den Klang des gross besetzten Orchesters. Und kaum hatte man das wahrgenommen, gesellte sich für einen Augenblick der Bolero-Rhythmus der Trommel dazu. Wegweiser in Richtung dessen, was sich weiter ereignen sollte.

Die viel zu selten gespielten Tänze des Organisten-Komponisten Maurice Duruflé glänzen mit eigener, sehr schöner Musik unschwer zu erkennender französischer Tradition aus dem Jahre 1932. In der romantischen Tradition verankert, entfalten sie einen breiten Fächer an Stimmungen und sinnlichen Wirkungen – wie das Jonathan Nott mit dem Genfer Orchester erlebbar machte, liess keinen Wunsch offen. Das gilt auch für die «Escapades», eine Musik von John Williams zu dem Film «Catch me if you can», und das umso mehr, als hier das Alt-Saxophon von Valentine Michaud hören liess, zu welch sirenenartiger Lieblichkeit das gewöhnlich ganz anders konnotierte Instrument in der Lage ist.

Dann freilich wurde kräftig umgebaut. Das Orchester war nur mit seinen Bläsern präsent; sie sassen im Hintergrund des Podiums vor der Orgel. In Vordergrund wurde Platz geschaffen für zwei Inseln mit einer Fülle an Schlaginstrumenten und Raum für die Solistin. «Panic» von Harrison Birtwistle war angesagt, ein wildes, wüstes, horribel schweres Stück aus dem Jahre 1995, dessen Uraufführung bei den BBC Proms in London einen Skandal auslöste. In der Tat nimmt Birtwistle (auch) hier kein Blatt vor den Mund. Es geht um das Treiben des Gottes Pan auf Erden, und da bleibt bekanntlich kein Stein auf dem anderen. So auch in der Victoria Hall, wo zuerst der Dirigent allein auftrat und damit das Feld offen liess für Valentine Michaud und ihren Bruder Gabriel Michaud – beide mit nach allen Seiten zerzaustem Kopfputz aus der Manufaktur der Saxophonistin, die auch ihre Kostüme selber schneidert. Ein zwanzigminütiger Tonsturm kam da auf, Schrei folgte auf Schrei, Schlag auf Schlag – alles in denkbar brillanter Weise gemeistert vom Solistenpaar wie vom Orchester. Grosser Jubel.

Daraufhin und zum Schluss ein erneutes «ballet des techniciens», die innert weniger Minuten das Podium wieder herrichteten – für «Boléro», ein Kernstück aus dem Repertoire des Orchestre de la Suisse Romande, und bekanntlich fehlt auch hier das Saxophon nicht. Wunderbar, wie zart Jonathan Nott den Anfang aufsteigen, wie sorgfältig er die Farben aufscheinen liess. Und grossartig, wie es ihm gelang, das Repetitive des Stücks Schritt für Schritt mit innerer, vibrierender Spannung aufzuladen – bis zu jenem Punkt, da die Harmonie wechselt und neues Licht angeht. Und einmal mehr erwies sich, auf welch brillantem Niveau das Orchestre de la Suisse Romande mit Jonathan Nott Musik macht.

Genf honoriert das. Eben konnte das Orchester mit Hilfe eines Mäzens ein Gebäude, das an die Victoria Hall anschliesst, mieten und für seine Zwecke einrichten. Und die Zahl der Abonnemente, so der Intendant Steve Roger, sei klar im Steigen begriffen; seien 2019/20, in der letzten Spielzeit vor der Pandemie, rund 2000 Abonnemente verkauft worden, so zähle das Orchester in der Saison 2023/24 deren 4000. Eine Verdopplung auch in der Kasse – und dies zu einer Zeit, da allerorten über Publikumsschwund und insbesondere den Bedeutungsverlust des Abonnements geklagt wird. Es kann es auch anders gehen.

Oiseaux de Paradis. Valentine Michaud (Saxophone), Gabriel Michaud (Schlagzeug), Kurt Rosenwinkel (Gitarre). Mirare 716 (CD, Aufnahme 2023, Publikation 2024).

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