Wenn der Berg mehr als grollt

«Derborance» von Daniel Andres
als Uraufführung in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Samy Camps als Antoine in Biel / Bild Joel Schweizer, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Antoine ist düster; ahnt der junge Mann etwas? Er ist mit seinem Schwiegeronkel, der sich bei seiner Schwester wortgewaltig für die Erlaubnis zur Ehe mit deren Tochter Thérèse ausgesprochen hatte, mit den Tieren vom heimatlichen Dorf auf die Alp Derborence gestiegen. Bald legen sich der Alte und der Junge auf ihren Strohsäcken in der einfachen Alphütte schlafen – da geschieht es, donnert ein Felssturz auf die Alp herab und begräbt alles Lebendige unter Steinmassen. Ein Einziger überlebt: Es ist Antoine, der sich mit Geschick und Hartnäckigkeit aus seinem Felsenverliess befreit und, wie weiland Siegfried geleitet von einem Vögelchen, ins Dorf hinuntereilt. Dort wird er nicht eben freundlich empfangen; die Dorfgemeinschaft hält ihn für einen Wiedergänger. Thérèse aber, in Erwartung, erkennt ihren Mann und folgt ihm in ein neues Leben, wo immer sich das abspiele.

Erzählt wird das in dem sehr persönlichen, spannenden Roman des viel zu wenig geschätzten Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz aus der französischen Schweiz. Kein Wunder, hat er Daniel Andres in den Bann geschlagen. 1937 in Biel geboren und dort verwurzelt, ist Andres Komponist, aber überdies ein auf denkbar unterschiedlichen Ebenen aktiver Künstler. Neben dem Komponieren hat er dirigiert, hat er die Orgel geschlagen, das regelmässig und mit einem eindrücklichen Repertoire, hat er eine Buchhandlung geführt und selber geschrieben, als Journalist wie als Buchautor. So erstaunt nicht, dass sich Daniel Andres durch die Sprache des Romans angesprochen fühlte – durch ihre herbe Kargheit wie ihre pulsierende Empathie. Seinen Ausgang nimmt der 1934 erschienene Roman ja bei zwei schweren Bergstürzen von 1714 und 1749 an einem der schönsten Orte im Wallis, an den Flanken von Les Diablerets. Das ist zwar Jahrhunderte her, aber Bergsturz ist Bergsturz, man denke nur an den kürzlich erfolgten Abbruch von Felsen beim glarnerischen Martinsloch.

Geschickt hat der Komponist als sein eigener Librettist den Roman zum Opernstoff umgewandelt. Manches musste in diesem Prozess herausfallen, etwa die bedrohliche Stille nach dem Getöse, die von Ramuz grossartig eingefangen ist. Was durch die Transformation an Genauigkeit in der Beschreibung der Gefühlslagen der durch den Bergsturz traumatisierten Menschen verlorengeht, wird kompensiert durch die fürwahr eigenwillige Partitur aus dem Jahre 2021. Die Folgen der Naturkatastrophe spiegeln sich in der äusserst zurückgenommenen Ausstattung des musikalischen Materials; über weite Strecken sind es ein- oder zweistimmige Lineaturen, die den im originalen Französisch gehaltenen Text begleiten. Eine eigene Art Freiheit manifestiert sich da – überhaupt gibt sich die Musik von Daniel Andres frei, sie klingt tonal, geht aber weit über die Grenzen des Tonalen hinaus. Und sie erzählt «Derborence» in ihrer Weise: Kommt Bedrohliches, Schmerzhaftes ins Spiel, erklingen dissonante Ballungen, wenn Antoine in seinem Felsenverliess die Wassertropfen entdeckt, die ihm das Überleben sichern, lässt sich das Schlagzeug vernehmen. Alles ist da in eng gestecktem Rahmen gehalten, es findet aber gerade darum seine Wirkung.

In hohem Mass geht das auch auf die Uraufführungsproduktion im Stadttheater Biel zurück. Der Hausherr Dieter Kaegi hat die Inszenierung selbst übernommen, und er hat den Chefdirigenten Yannis Pouspourikas ins Boot geholt. Würdig dieses Engagement – so würdig wie das Verhalten Kaegis als Patron, der den etwas scheuen alten Komponisten zum Geniessen des Beifalls an die Rampe führte. Pouspourikas hielt den von Valentin Vassilev betreuten Chor des Theaters und das Sinfonieorchester Biel-Solothurn sorgsam bei der Stange und erzeugte eine Spannung ohne Unterbruch. Und zusammen mit dem Ausstatter Francis O’Connor und dem Lichtgestalter Mario Bösemann gelang Dieter Kaegi eine szenische Auslegung, die mit wenigen, klaren Zeichen die für die Geschichte treffenden Konturen schuf. Wenn die Dorfgemeinschaft auf dem Höhepunkt der Erregung nach dem Curé ruft, erscheint der Priester in voller Montur, um dem vermeintlichen Wiedergänger ein Gebetsbuch entgegenzuhalten und ihn nach seinen christlichen Wurzeln zu befragen – Konstantin Nazlamov tut das mit aller stimmlichen Eindringlichkeit. Wenig später meldet sich der einflussreiche Bauer Nendaz zu Wort: mit seinem prachtvollen Bariton lässt Flurin Caduff keinen Zweifel an der Prominenz dieses Mitbürgers. Eindrücklich auch Samy Camps in der Partie des Antoine, der einen tiefgreifenden Wandel zurück in die Dorfgemeinschaft und von ihr wieder weg durchmacht. Gefolgt von Julia Deit-Ferrand als seine Gattin Thérèse, die als Einzige an die Wiederkehr ihres Antoine glaubt – in jeder Faser berührend bringt das die junge Mezzosopranistin aus Lausanne zur Geltung.

Eine Stunde dauert «Derborence», eine aufwühlende Stunde. Nach «Eiger» (vgl. Mittwochs um zwölf vom 26.01.22) bietet das Theater-Orchester Biel-Solothurn hier eine weitere Hommage an Schweizer Alpen. Eine, wie sie in keinem Opernhaus sonst zu erleben ist.

Vorstellungen in Solothurn ab 31. Oktober, in Biel noch ab 13. November 2024.

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