Geheimnisse der Kammermusik

Das Festival Zwischentöne in Engelberg

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn die Tage kürzer werden und sich der Nebel nicht auflösen will, ist Zeit für den Besuch eines Festivals. Natürlich, die Donaueschinger Musiktage, bei denen das Neuste aus der Neuen Musik zu hören ist, sie strahlen hell. Es gibt aber sehr valable Alternativen, zum Beispiel eben die Zwischentöne in Engelberg. Von Rafael Rosenfeld, dem Solocellisten des Tonhalle-Orchesters Zürich, geleitet und seiner Gattin, der Geigerin Mary Ellen Woodside, programmiert, bietet das inzwischen zehn Jahre alte Festival ein knappes Dutzend Anlässe innerhalb dreier Tage. Und das mit Kammermusik vom Feinsten – was umso bedeutungsvoller ist, als die Musik für kleinere Besetzungen im grossen Konzertbetrieb unserer Tage zunehmend an den Rand gerät.

Das ist bedauerlich. Denn einerseits gibt es, da die Musikhochschulen eifrig Nachwuchs ausbilden, eine grosse Zahl an Musikerinnen und Musikern, die zu Recht nach Auftrittsmöglichkeiten suchen. Und zum anderen ist das Repertoire, und das gilt für die allerverschiedensten Besetzungen, derart gut bestückt, dass auch alte Hasen noch ihre Entdeckungen machen können – Preziosen können da zum Vorschein kommen, dass es eine Art hat. Das Festival Zwischentöne verfolgt in diesem weiten Feld einen ebenso individuellen wie ausbalancierten Kurs zwischen alt und jung, arriviert und nachrückend, Stammrepertoire und Rarität. Zentrum des Unternehmens bildet dabei das Merel-Quartett, das in Zürich beheimatet ist und seit 15 Jahren eine intensive Konzerttätigkeit verfolgt – unter anderem mit einer eigenen, in verschiedenen Städten durchgeführten Reihe.

Um dieses Ensemble herum gruppieren sich Freunde und zugewandte Orte, dazu zwei Vertreter einer jüngeren Generation, die als «Young Festival Artists» Gelegenheit haben, von Erfahrungen anderer zu profitieren und in den Betrieb hineinzuwachsen. Das tat beispielsweise der Pianist Pau Fernández Benlloch; er war eingeladen, zusammen mit der Geigerin Irene Abrigo die frühe Violinsonate in D-dur D 384 von Franz Schubert vorzutragen. Geschmeidig in der Phrasierung und leuchtend im Klang durchschritt er die drei Sätze des 19-jährigen Komponisten. Und dass es zu Schuberts Lebenszeit Traditionen des Klavierspiels gab, die heute ausgestorben sind, aber mit Gewinn wiederzubeleben wären, etwa das ungleichzeitige Anschlagen von Tönen zur Steigerung des Ausdrucks, verstand sich für ihn als Student der Schola Cantorum Basiliensis von selbst.

Vielfältig und in den Besetzungen bunt gemischt gaben sich auch in diesem Herbst die Engelberger Programme. Neben Viertausendern wie dem cis-Moll-Streichquartett op. 131 Ludwig van Beethovens oder dem achten Streichquartett, c-Moll, op. 110 von Dmitri Schostakowitsch schlossen sie auch unbekannte neuere Musik ein, ebenso Improvisiertes aus Irland, zudem selten Gespieltes wie den Liederzyklus «La bonne chanson» von Gabriel Fauré, dessen Todestag sich heuer zum hundertsten Male jährt. Das Vokale, ja, auch das hat seinen Platz bei den Zwischentönen; diesen Herbst sah es sich vertreten durch niemand Geringeren als den deutschen Tenor Julian Prégardien, der sich in Engelberg vornehmlich durch den französischen Pianisten Eric Le Sage begleiten liess. Eine hochattraktive Konstellation, weil die beiden Beteiligten durchaus eigenwillige Ansätze der Interpretation erkennen liessen.

Schumann «Dichterliebe» und die «Winterreise» von Schubert bildeten Höhepunkte nicht nur in diesem Bereich des Programms, sondern im Festival insgesamt. Julian Prégardien nahm die Lieder dieser beiden Zyklen derart explizit in die Hand, dass sie sich zu szenischer Gestalt auswuchsen. Die Dichter, die in den beiden Zyklen von ihren entsetzlichen Seelenqualen berichten, schienen persönlich anwesend. Das ergab sich aus der von Prégardien mit besonderer Sensibilität gestalteten Beziehung zwischen Stimme und Sprache. Während viele Sängerinnen und Sänger, stolz auf ihr vokales Potential, vom Stimmklang ausgehen und den musikalischen Text aus dieser Perspektive deuten, ist es bei Prégardien gerade umgekehrt. Auch er kann selbstbewusst auf sein Material blicken, sein Forte hat umwerfende Strahlkraft, viel stärker noch ist bei ihm aber die Welt des Leisen ausgebildet. Sie umfasst auch das fast nur gehauchte, aber doch noch gesungene Flüstern, ja bisweilen bildet sich eine Art Sprechgesang aus – und dies in Verbindung mit der effektvollen Art des Sängers, sich effektvoll zwischen dem Flügel und dem Rand des Podiums zu bewegen. Die Wahrnehmung ist darum aufs Äusserste gespannt.

So treten denn die gesungenen Texte in ihrer ganzen emotionalen Spannweite (in der «Dichterliebe») und ihrer beklemmenden Depressivität (in der «Winterreise») heraus. Im wunderschönen Kursaal Engelberg liessen sie niemanden kalt, weder das entsetzliche Liebesleid des lyrischen Ichs bei Schumann noch dessen kapitalen Absturz bei Schubert. Vielmehr nahmen sie einen mit auf eine erschütternde Reise von Gefühlen der Hoffnung hin zu letzter Verzweiflung. Wesentlichen Anteil daran hatte Eric Le Sage an dem zart, aber auch farbenreich zeichnenden Bösendorfer aus dem Atelier der Gebrüder Bachmann, Wetzikon. In beiden Zyklen ging Le Sage ausgeprägt von kontrapunktischen Ansätzen aus; was der Sänger durch seine Textdeutlichkeit anstrebte, unterstützte der Pianist durch seine Arbeit an den Melodielinien. Bei Schumann führte das zu einer klanglichen Kargheit, die ungewohnt wirkte, die aber doch klar die inhaltliche Seite der Lieder unterstrich. Die «Winterreise» dagegen begann in der speziellen Zusammenarbeit zwischen Sänger und Pianist förmlich zu sprechen – und das war schlimm genug.

Den krönenden Abschluss des Festivals bot das Oktett in F-Dur D 803 für Streicher und Bläser von Franz Schubert. Hier zog das Merel-Quartett, das sich schon am Abend zuvor bei Mozarts Klarinettenquintett in bester Verfassung gezeigt hatte, alle Register seines Könnens. Deutlich wurde, wie das Ensemble noch einmal einen Schritt nach vorn gemacht hat. Das Zentrum der Energie geht nach wie vor vom Cellisten Rafael Rosenfeld aus. Dazu kommt mit Mary Ellen Woodside eine Primgeigerin, die inzwischen deutlich mehr wagt und mehr gibt als ehedem – das Zusammenspiel mit dem fantastischen Klarinettisten Pablo Barragán geriet äusserst spannend. Angesteckt vom Feuer in den Ecklagen brachten sich in den Binnenstimmen Edouard Mätzener (Violine II) und der Bratscher Alessandro D’Amico immer wieder mit kräftig zugreifenden Einwürfen ein. Zum Merel-Quartett kamen beim Oktett Schuberts mit Szymon Marciniak ein Kontrabassist, der das Letzte aus seinem fünfsaitigen Instrument herauslockte und bisweilen geradewegs ins Tanzen geriet, steuerte der Fagottist Diego Chenna neben dem Klarinettisten Pablo Barragán musikalisch hochgradig stimmige Energie bei und bewältigte die Hornistin Zora Slokar die heiklen Sprünge in ihrer Partie nicht nur ohne Fehl und Tadel, sondern auch ausgesprochen tonschön. Ein Vergnügen sonderglichen war das. Weil: ein fruchtbares Geben und Nehmen, ein Musizieren in gelebter Freundschaft. So soll es sein.

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