Ein Klavierwunder

Salzburger Festspiele:
Das Début des Franzosen Alexandre Kantorow

 

Von Peter Hagmann

 

Das Festival von Aix-en-Provence biete das interessantere Programm als die Salzburger Festspiele, verkündete ein Weltblatt aus Zürich Mitte Juli dieses Jahres. Anders als an der Salzach versammle sich in der Sommerhitze Südfrankreichs die Crème de la crème der europäischen Opernbranche. So einfach ist es mit den Vergleichen und den dabei angelegten Massstäben. Allein, Äpfel sind bekanntlich keine Birnen. In Salzburg, wo mit Markus Hinterhäuser ein nicht nur weitblickender, sondern auch ein dramaturgisch denkender, die Programme bis in die Einzelheiten durchgestaltender Künstler-Intendant am Werk ist, herrscht ein grundlegend anderer Geist als in Aix. Nicht ein besserer, nicht ein schlechterer, einfach ein anderer.

Zu erleben war es beim Début von Alexandre Kantorow, dem 27-jährigen Pianisten, der schlagartig ins Licht geriet, als er 2019 als erster Franzose den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewann. Seither eilt er von Erfolg zu Erfolg, das Publikum liegt ihm zu Füssen, in Kritiken wird zu hymnischen Vergleichen gegriffen. Von einem Wunder darf tatsächlich die Rede sein. Von einem Wunder an Geläufigkeit und Gedächtnis zuallererst. Nichts scheint dem jungen Mann zu heikel zu sein, Berge von Zweiunddreissigsteln meistert er mit seinen grossen Händen geradezu nonchalant – so selbstverständlich, dass die Frage aufkommt, ob solches Handwerk überhaupt erlernbar sei. Indessen bleibt es, anders als es gemeinhin der Nachwuchs aus Fernost zu erkennen gibt, nicht bei den manuellen und geistigen Grundlagen, Kantorow nutzt das Rüstzeug vielmehr für eine Aussagekraft, für eine Einsicht in Strukturen und eine Dringlichkeit in deren klanglicher Verlebendigung von ungewöhnlichem Format.

Erst recht auffallend war freilich das Programm, mit dem sich Kantorow im Salzburger Haus für Mozart vorstellte – ein Programm der Salzburger Art, das in einer ganz eigenen Stringenz selten gespielte, überaus anspruchsvolle Werke miteinander verband. Die Eröffnung besorgte die Rhapsodie in h-Moll op. 79 Nr. 1 von Johannes Brahms, die Kantorow mit freiem Atem und in klanglicher Grosszügigkeit darbot. Worauf es weiterging zu Franz Liszt, dem auf den Konzertpodien seiner Zeit gefeierten, in Wien jedoch mit Skepsis wahrgenommenen Antipoden Brahms’. «Chasse neige» aus den «Etudes d’exécution transcendante» wurde zu einem Schneesturm, der sich aus dem Nichts aufbaute, höllische Intensität erreichte und am Ende dorthin entschwand, woher er gekommen war – was für eine Fingerfertigkeit, was für ein Klangsinn, was für ein dramatischer Atem ohne äusserliches Gedonner. Auf die introvertierte «Vallée d’Obermann» aus dem Schweizer Band der «Années de pèlerinage» folgte eine weitere Rhapsodie, nämlich das Opus 1 von Béla Bartók, ein Jugendwerk von 1904, das überraschende Wurzeln des damals 23-jährigen Komponisten bei Liszt hören liess.

Nach der Pause die erste Klaviersonate von Sergej Rachmaninow – nicht die häufiger gespielte zweite, sondern die erste, die weniger eingängige, experimentellere Züge aufweist.  Ganz weich und flexibel wurde das Klavier in diesem Werk, das Instrument liess seine perkussive Grundanlage vergessen und begann zu singen. Gebannt überliess man sich dem Strom der aus kleinteiligen Motiven gebildeten, in Halbtonschritten aufsteigenden Wellen, ohne dass je, wie es bei Rachmaninow leicht geschehen kann, die Atmosphäre des gemütlichen Cheminéefeuers aufgekommen wäre. Schliesslich kehrte Alexandre Kantorow zu Brahms zurück, aber nicht zum Komponisten, sondern zu Arrangeur, der die Chaconne aus der Partita in d-Moll für Violine solo in eine Fassung für die linke Hand des Klaviers gebracht hat. Obwohl der Pianist gewisse Schwierigkeiten, die sich bei einer Realisierung der Partitur auf der modernen Geige nicht vermeiden lassen, auch auf seinem Instrument hörbar machte, führte er doch vor, in welcher Klarheit, in welcher Fülle die musikalische Substanz dieses majestätischen Satzes unter Brahms’ Hand erscheint. Und wie tief sich Brahms vor seinem grossen Ahnen verbeugt hat.

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