Jörg Widmann in Zürich

 

Peter Hagmann

Spiegelungen und Brechungen

Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Als Klarinettist ist er so gut wie unüberbietbar. Innigst ist Jörg Widmann mit seinem Instrument verbunden, es ist sozusagen Teil von ihm. Wenn er zum Beispiel, was er immer wieder tut, die Zirkuläratmung einsetzt, wenn er also einatmet, ohne dabei sein Spiel zu unterbrechen, sieht man ihm rein gar nichts an: keine aufgeblasenen Backen, kein roter Kopf, keine Zuckung – es scheint ihm selbstverständlich von der Hand zu gehen. Im (allerdings nicht sehr breiten) Repertoire klassisch-romantischen Zuschnitts gelingen ihm immer wieder Momente von grossartiger Eindrücklichkeit; Stücke wie das Klarinettenkonzert oder das Klarinettenquintett von Mozart erfahren in der Schönheit seines Tons, in der Weite seines Atems, in der natürlichen Souveränität seines Gestaltens eine interpretatorische Vertiefung, wie sie ihresgleichen sucht. Kein Wunder, gehört er zu den allseits gefragten, dementsprechend vielbeschäftigten Musikern dieser Tage.

Einer zum Anfassen

Und vielleicht auch kein Wunder, dass sich Jörg Widmann auch als Komponist profiliert. Sein Werkverzeichnis hat schon ansehnliche Dimension erreicht und umfasst viele Gattungen: Kammermusik, Orchesterwerke, aber auch die 2012 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführte Oper «Babylon» auf ein Libretto von Peter Sloterdijk. Sein Schaffen, zum Teil von ihm selbst vorgestellt, lässt sich jetzt kennenlernen beim Tonhalle-Orchester Zürich; es hat den 42-jährigen Münchner für diese Saison auf den «Creative Chair» gerufen – in die vor einem Jahr neu geschaffene Funktion für einen Musiker, der das Orchester eine Spielzeit lang als Komponist und Interpret zugleich begleitet. Ein intensiver Austausch wird da in Gang gesetzt, von dem alle Seiten profitiieren. Publikum wie Orchester können einen Musiker näher kennenlernen – als Interpreten in seinen Spielweisen, als Komponisten in seinem ästhetischen Horizont (wovon übrigens auch die Studierenden an der Zürcher Musikhochschule profitieren). Der Gast wiederum kann sich in eine Umgebung einleben, wie es ihm sonst, im Rahmen der Konzertreisen mit ihren Kurzaufenthalten, nicht möglich wäre.

Einer zum Anfassen wird da also präsentiert. Es ist freilich mit der Schwierigkeit verbunden, dass es ein Musiker von heute ist, während das, was heute komponiert wird, nicht von jedermann geschätzt wird. Ilona Schmiel, die Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich, hat diesbezüglich ein eigenes Fingerspitzengefühl entwickelt. Sie hat mit dem ganz und gar neuen, hochinteressanten Konzept des «Creative Chair» ein Format geschaffen, das Musik dieser Tage mit einem über längere Phasen anwesenden, seine Kunst persönlich vermittelnden Menschen verbindet. Zugleich ist sie stilistisch geschickt, nämlich vorsichtig vorgegangen; sie hat nicht gleich auf Heinz Holliger gesetzt, dessen Vermögen als Oboist höchsten Massstäben genügt, dessen Musik aber besonders offene Ohren verlangt. Nein, sie hat Künstler in den Blick genommen, welche die Avantgarde in gewisser Weise hinter sich gelassen haben. In der ersten Saison ihres Wirkens in Zürich war Esa-Pekka Salonen zu Gast, der als amerikanisch geprägter Finne eine in ihrer Weise zugängliche, weil ästhetisch offene, gleichwohl aber klar heutige Musik vertritt.

Und nun eben Jörg Widmann. Bei ihm fängt es damit an, dass er sein Instrument mit verspielter Neugierde oder neugieriger Verspieltheit erkundet – das Hohe wie das Tiefe, das Laute wie das Leise, das Reine wie das geräuschhaft Angereicherte. Wie das vor sich geht, war an einem Kammermusikabend im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich zu verfolgen. Widmann trug seine Fantasie für Klarinette solo von 1993 vor, die den Zuhörer im Rahmen von kaum zehn Minuten auf einen anregenden Spaziergang durch die Klangwelt des Instruments mitnimmt. Eine Fingerübung, vielleicht; eine Harmlosigkeit, mag sein. Aber doch ein Moment attraktiven Erlebens; mucksmäuschenstill war es im Saal, hie und da wurde geschmunzelt, bisweilen gar gelacht – was könnte Besseres geschehen?

Wie Salonen pflegt auch Widmann, das mag sich bei einem Musiker seiner Generation von selbst verstehen, einen entspannten Umgang mit der Avantgarde und ihren gewiss ausser Kraft gesetzten, in den Hinterköpfen jedoch nach wie vor wirksamen Normen. Mehr als am Willen zur Erneuerung des Materials, mithin dem Gedanken an einen wie auch immer gearteten Fortschritt, nährt sich sein Komponieren sich an dem, was ihn als Interpreten umgibt. Beim Lucerne Festival zum Beispiel hat das Collegium Novum Zürich im Sommer 2009 Widmanns Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass vorgestellt, das sich in Besetzung und Tonfall hörbar an dem für dieselbe Besetzung geschriebenen Werk Franz Schuberts orientiert. Gleiches geschah in besagtem Kammermusikabend in Zürich; Bezugspunkt war dort Robert Schumann.

«Im Märchenton»

Zusammen mit dem bei Schumann klanglich etwas groben Pianisten Dénes Várjon spielte Widmann die «Fantasiestücke» op. 73 in der Fassung für Klarinette und Klavier, nachdem er zuvor, unter Mitwirkung der Bratscherin Tabea Zimmermann, die «Märchenerzählungen» op. 132 für Klarinette, Viola und Klavier gegeben hatte. Als Reflex darauf folgte die Uraufführung eines vom Tonhalle-Orchester bestellten Werks für die gleiche Besetzung. Unter dem Titel «Es war einmal…» und, wie der Untertitel suggeriert, «im Märchenton» schliesst Widmanns Trio von 2015 klar an die Musik Schumanns an. Es nimmt teils ganze Passagen, teils charakteristische Gesten auf, lässt die Strukturen dann aber zerfallen, führt sie in die Phantasie und die Handschrift Widmanns über, um sie bisweilen auch wieder zusammenzufügen – äusserst anregende Verläufe ergeben sich da.

Die charakteristischen, euphorischen Sprünge Schumanns eröffnen das fünfteilige Stück. Bald jedoch verfremden sich die Klänge, sie werden nicht nur durch Dissonanzen angereicht, sondern auch farblich verändert, nehmen Züge orientalischer Welt an oder denaturieren sich zu gläsern erstarrten Mehrfachklängen. Widmann ist kein Strukturdenker wie Brian Ferneyhough, er bewegt sich auch nicht an den Rändern des Klangs wie Helmut Lachenmann, in seiner Lust an der Wahrnehmung seiner musikalischen Umgebung und in seiner fast unersättlichen Art von deren Verarbeitung gleicht er eher Wolfgang Rihm. Mit ihm teilt er auch die überquellende Phantasie, die wohlstrukturierte Spontaneität und die Zugänglichkeit, die keinerlei Anbiederung braucht. Nicht zuletzt lebte diese Uraufführung freilich von der Höhe der Interpretation. Wie weit Jörg Widmann im Leisewerden der Klarinette gehen kann und wie stolz sein Klang aus den Tiefen des Instruments nach oben steigt, ist ebenso hinreissend wie die gestalterische Intensität und die klangliche Präsenz der Bratscherin Tabea Zimmermann, aber auch das sagenhafte manuelle Vermögen und die Reaktionsschnelligkeit des Pianisten Dénes Várjon. Im «Kegelstatt-Trio» KV 498 von Wolfgang Amadeus Mozart führte das zum interpretatorischen Höhepunkt des Abends.

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