Seligkeit und Absturz

Lorenzo Viotti erstmals beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein fulminantes Debüt. Kurz und bündig: drei Stücke in spannungsvoller Beziehung zueinander, ein konzentrierter Verlauf von eineinhalb Stunden ohne Unterbruch durch eine Pause, sorgfältig konzipierte und mit Verve ausgeführte Deutungen – so und nicht anders muss es sein. Und so erübrigt sich auch die regelmässig geäusserte Vorstellung, das Konzert mit «klassischer» Musik bedürfe der Auffrischung.

Zu verdanken ist das – nicht nur, aber auch nicht zuletzt – Lorenzo Viotti, der nun zum ersten und hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich getreten ist. Die Erwartungen waren hoch, denn seit er 2015 den Dirigentenwettbewerb der Salzburger Festspiele gewonnen hat, verfolgt der 32-jährige Schweizer Dirigent eine kräftig nach oben weisende Laufbahn, die ihn inzwischen an die Spitze der Oper Amsterdam und der mit ihr verbundenen Niederländischen Philharmonie geführt hat.

Wien und seine musikalische Seligkeit, das bildete den Faden, dem der Abend folgte. Er hob an mit dem verkannten Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds, das in zart schimmernden Jugendstil-Klängen schwelgt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg im amerikanischen Exil des Komponisten entstanden und dort nach Kriegsende revidiert, lässt das dreisätzige Stück die goldene Zeit der Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufleben. Immer wieder klingen die orchestralen Farben Franz Schrekers an, die Harmonik greift weit aus, jedoch ohne Verlust an tonaler Bodenhaftung, die Melodielinien kreisen in sinnlichen Bögen immer wieder höchsten Höhen zu. Veronika Eberle versah ihren Part mit betörenden Schwingungen, und das Tonhalle-Orchester stellte sich zusammen mit Lorenzo Viotti so akkurat an ihre Seite, dass die Bildhaftigkeit von Korngolds Musik in aller Farbenpracht heraustrat.

Erstaunlich und bemerkenswert, was der Dirigent mit dem ihm unvertrauten Orchester und in dem für ihn neuen Saal erzielte. Erst recht gilt das für die Suite aus dem «Rosenkavalier», die wohl nicht von Richard Strauss zusammengestellt wurde, den Geist des meisterlich rückwärtsgewandten Werks aber voll und ganz spiegelt. Lorenzo Viotti ist ein junger Musiker, den die durch Theodor W. Adorno geschürte Abneigung gegen Strauss in keiner Weise anficht. Mit dem Tonhalle-Orchester, das ihm in blendender Verfassung begegnete, kostete er die Schönheit dieser locker der Oper entlang gefügten Walzerfolge nach Massen aus. Immer wieder drosselte er die Tempi, als wollte er die Zeit anhalten, als wollte er seinem Publikum vielleicht aber auch Gelegenheit zu geben, in die Musik hineinzuhören, hineinzuhorchen. Der dunkel gefärbte Mischklang tat seine Wirkung; wenn auch noch bisschen mehr Transparenz geherrscht hätte, wenn das feingliedrige Spinnennetz, das Strauss’ Musik auch ausmacht, noch etwas besser zu hören gewesen wäre, das Glück wäre vollkommen gewesen. Aber was soll schon vollkommenes Glück…

Weiter ging es mit dem Wiener Walzer im dritten Schritt des Abends – nämlich mit «la Valse» von Maurice Ravel, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und durchaus in Anspielung an den Zusammenbruch der kaiserlich-königlichen Wiener Monarchie verfasst. Ungeheuer die Energie, die Viotti aus dem Dreivierteltakt herausholte, blendend die Brillanz, in der er die Instrumentation leuchten liess. Auch hier hätte ein Plus an Innensicht, eine Schärfung der Klangereignisse im Einzelnen, den zerstörerischen Taumel noch stärker fühlbar gemacht.  Dessen ungeachtet schüttelten einen die überraschenden, heftig einfahrenden Schläge auf die grosse Trommel gewaltig durch. Und mit einem Mal stand das scheussliche Geschehen auf den Kriegsschauplätzen in unserer östlichen Nachbarschaft bedrohlich fassbar im Raum.

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