Das Theater Basel wagt sich an Bachs «Matthäus-Passion»
Von Peter Hagmann
Muss es wirklich sein, die «Matthäus-Passion» auf der Opernbühne? Nun, so fern liegt es nicht, wenn man an die latente Dramatik von Johann Sebastian Bachs magistraler geistlicher Musik denkt. Und Versuche in diese Richtung der Interpretation gab es immer wieder, bis hin zur Aneignung durch den Choreographen John Neumeier. Aber eine Aufführung als Fest der »Community« unter Beteiligung von Kindern sowie Bürger- und Jugendchören aus Stadt und Region, ja selbst unter Mitwirkung des Publikums, das an zwei Stellen zum Mitsingen eingeladen ist – sieht das nicht sehr nach einer gutmenschlichen, wenn nicht gar populistischen Aktion aus?
Tatsächlich erscheint die «Matthäus-Passion» im Theater Basel auf den ersten Blick als ein monumentales Krippenspiel, denn die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi wird von Kindern vorgeführt. Rührend wirkt das – und zugleich berührend, denn das szenische Arrangement, das Benedikt von Peter, der Intendant des Basler Dreispartenhauses, als Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger und einem grossen Team entwickelt hat, nimmt den ganzen Raum des Theaters in Anspruch und lebt so von einer eigenen Wirkungsmacht. Sitzplätze finden sich im Auditorium wie ihm gegenüber auf einer ansteigenden, weit in den Bühnenhintergrund reichenden Rampe. Das Orchester ist nach Vorgabe der doppelchörig konzipierten Partitur links und rechts von der Spielfläche platziert. Weitere Instrumentalisten finden sich im Hintergrund des Zuschauerraums wie jenem der Bühne; auch die Chöre klingen von allen Seiten her. Der Raum, mit dem Benedikt von Peter immer wieder gerne und bewusst arbeitet, umfasst alles und schafft Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.
Vorne rechts André Morsch, der mit seinem klangvollen Bariton einen emotionalen, teils heftig aufbrausenden, teils zutiefst verzagten Jesus gibt, auf der linken Seite, von der Kostümbildnerin Lene Schwind schwarz gewandet wie alle musikalisch Mitwirkenden, Robin Tritschler als ein stimmlich vielfarbiger, plastisch und daher verständlich deklamierender Evangelist, der als Hilfsregisseur auf der Bühne unentwegt die grosse Gruppe der Kinder durchs Geschehen lenkt, hier liebevoll zugewandt, dort energisch. Allein, so niedlich das aussieht, so sehr fällt die Stilisierung auf – im Agieren der Kinder, aber auch in den Projektionen auf Bildschirme in der Bühnenmitte, die immer wieder zu Tableaux vivants gefrieren. Benedikt von Peter sieht die «Matthäus-Passion» nicht nur als ein geistliches Drama, sondern auch als ein Ritual, in dem Grundwerte unserer Gesellschaft bestätigt und bekräftigt werden.
Gebrochen wird das Ritual durch eine Volksschülerin mit blondem Haarschopf, die immer wieder störend und dazwischenrufend über die Bühne stürmt – eine Art Greta, die das Gezeigte und Vorgetragene mitnichten akzeptiert. Dem gebundenen und gedemütigten Jesus löst sie die Fesseln, gegen Ende warnt sie mit beschwörenden Rufen vor dem drohenden Zusammenbruch des Klimas, und wenn sich beim Schlusschor alles zum Schlafen legt, wirbelt sie die Bettdecken durcheinander. Ist der Schlussakkord verklungen, erscheinen einige der Kinder in Grossaufnahme auf den Bildschirmen und geben Stellungnahmen zum Zustand der Welt und der Gesellschaft ab. Die «Matthäus-Passion» als ein Spiel von Kindern für Kinder, denen hier Aug und Ohr für eine zentrale Tradition geöffnet werden, aber ebenso sehr als ein Spiel von Kindern für Erwachsene, denen der Spiegel vorgehalten wird. Vielleicht etwas viel Moral, doch keineswegs fehl am Platz.
Jedenfalls, zum befürchteten Krippenspiel wird der Abend nicht wirklich; er lässt vielmehr eine Produktion erleben, die konsequent durchdacht ist und in der künstlerischen Verwirklichung auf ambitionierte Professionalität setzt. Das Sinfonieorchester Basel tritt in kleiner Besetzung auf, mit modernen Instrumenten, aber in hohem Mass historisch informiert – wofür der Dirigent Alessandro De Marchi zu sorgen weiss. Durchwegs flüssige Tempi herrschen hier, prägnante Artikulation, sorgsamer Umgang mit dem Vibrato, bisweilen zugespitzte Expressivität. Zu sehr im Hintergrund bleibt der Generalbass, der neben den Orgeln auch Lauten kennt. Und nicht zu befriedigen vermag der von Michael Clark vorbereitete Theaterchor, der, gross besetzt, schwerfällig klingt und an der Premiere manch heiklen Moment des Zusammenwirkens durchlebte. Erstklassig dagegen das Solistenquartett mit der jungen Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir an der Spitze, einer erstaunlichen Sopranistin. Ihr zur Seite standen an der Premiere die ebenso bewegliche wie stimmgewaltige Altistin Beth Taylor, der Tenor Nathan Haller mit seinem hellen, klar zeichnenden Timbre und der Bass Christian Senn.