Zum Tod des Dirigenten Bernard Haitink
Von Peter Hagmann
Ein ganz Grosser ist von uns gegangen. Ich schreibe das, obwohl Bernard Haitink, der am 21. Oktober 2021 im Alter von 92 Jahren in London verstorben ist, den Satz nicht gemocht hätte. Status, Position auf der Rangliste, gesellschaftliches Prestige – das war ihm alles vollkommen gleichgültig. Dem niederländischen Dirigenten ging es jederzeit einzig und allein um die Musik, um die Verlebendigung des in der Partitur niedergelegten Kunstwerks durch den Akt der Interpretation.
In den letzten Jahren seiner langen Laufbahn hat er diese Haltung in unvergesslicher Art und Weise gelebt. Zum Beispiel in seinem allerletzten Konzert am 09. September 2019, bei dem er im Rahmen des Lucerne Festival am Pult der Wiener Philharmoniker im KKL Luzern Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 ausgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 11.09.19). Eine in der klingenden Formung der Strukturen beispielhafte, gleichzeitig in ihrer Innerlichkeit zutiefst berührende Aufführung. Am Ende schien ein Seufzer durch das Publikum zu gehen, und dann brandete der für Luzern kennzeichnende Stehapplaus auf, den Haitink mit sichtlicher Rührung, aber wie stets auch ein wenig verlegen entgegennahm. Dass da, wie es jetzt wieder allerorten hiess, ein Stardirigent bejubelt wurde, daran mochte niemand denken, schon gar nicht er selbst. Klar stand jedoch im Raum, dass an diesem Abend einer jener Ausnahmekünstler verabschiedet wurde, wie es sie heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr gibt.
Die Anfänge der über sechzigjährigen Laufbahn waren schwer. Am 4. März 1929 in Amsterdam als Sohn eines hochrangigen Stadtbeamten und einer der französischen Kultur zugewandten Romanistin geboren, kam Bernard Haitink früh mit Musik in Berührung: als eifriger Radiohörer, der im Alter von sieben Jahren erstmals einer Sinfonie Bruckners begegnete, der Achten, aber auch als jugendlicher Konzertbesucher, dessen erste Eindrücke im Saal des Amsterdamer Concertgebouw von der sechsten Sinfonie Peter Tschaikowskys ausgelöst wurden. Schwierig waren die Umstände in dem durch die Nationalsozialisten besetzten Heimatland – und das umso mehr, als über die Mutter das Jüdische in der Familie präsent war. Heikel war aber auch das ästhetische Umfeld, denn tonangebend war beim Amsterdamer Concertgebouworkest damals der gewiss in vieler Hinsicht bedeutende, zugleich jedoch autoritäre und ganz seiner Subjektivität verpflichtete Willem Mengelberg. Haitink mochte ihn überhaupt nicht. Viel eher fühlte er sich angezogen durch das Gegenbild Mengelbergs, den kühlen, sachlichen Eduard van Beinum.
Den früh verstorbenen Niederländer hat Haitink recht eigentlich beerbt. Die Ausbildung zum Geiger war einigermassen rudimentär, jene zum Dirigenten knapp. Rasch kam er aber zu einer ersten leitenden Position beim Niederländischen Radiosinfonieorchester, und von dort kam er zum Concertgebouworkest – 1956 als Gastdirigent, drei Jahre später als Leiter des Gedenkkonzerts für van Beinum, schliesslich 1961 als Chefdirigent. Genauer: als Junior-Chefdirigent. Die Gremien des Orchesters hatten das Talent des Nachwuchs-Dirigenten erkannt, das noch wenige entwickelte Handwerk aber ebenso bemerkt, weshalb sie dem jungen Chef den Deutschen Eugen Jochum als Senior an die Seite stellten. 1964 gab Jochum seine Tätigkeit auf, von dann an wirkte Haitink in alleiniger Verantwortung – und dies bis 1988, als er Opfer einer im Management angezettelten Intrige wurde und das Orchester nach über drei Jahrzehnten des Wirkens verliess. Erst viele Jahre später kam er zurück und nahm sogar einen Ehrentitel an.
Sorgen brauchte sich Bernard Haitink damals allerdings keine zu machen. International war er schon ausgezeichnet etabliert, und so folgte auf den Abgang in Amsterdam der Wechsel nach Grossbritannien, wo er erst das London Philharmonic Orchestra und später das Opernfestival von Glyndebourne leitete, von dort dann aber als Musikdirektor an die Royal Opera of Covent Garden kam. Nach den gut zwanzig Jahren in London und Umgebung nahm er, abgesehen von einem wenig glücklichen Zwischenspiel bei der Staatskapelle Dresden, keine leitende Position mehr an, er blieb aber einer Reihe von Orchestern eng verbunden, allen voran den Berliner und den Wiener Philharmonikern, den Formationen von Boston und Chicago, aber auch dem Tonhalle-Orchester Zürich und, beim Lucerne Festival, dem Chamber Orchestra of Europe und dem Lucerne Festival Orchestra. In Luzern hatte Haitink auch einige Jahre lang seinen Wohnsitz.
Eine glänzende Laufbahn auf dem Podium wie im Graben. Was fehlt, sind die Bayreuther Festspiele. Nicht gegen Wagner, das überhaupt nicht, aber gegen das Klima auf dem Grünen Hügel hatte Haitink seine Vorbehalte. Ein nachmittäglicher Tee bei Wolfgang Wagner hatte ihn darin bestärkt – mag sein, dass hier die jugendlichen Erfahrungen im besetzten Amsterdam durchschlugen, nicht zuletzt die willkürliche Verhaftung des Vaters und dessen Freilassung als gebrochener Mann. Indes gab es mehr als genug zu tun. Zu den weitgespannten, durch Treue und Kontinuität geprägten Tätigkeitsfeldern kam nämlich die Arbeit im Studio – eine ebenso bedeutende wie einträgliche Ergänzung. Bernard Haitink trat ins Geschäft ein, als die Langspielplatte aufkam und später die Compact Disc ihren Höhenflug absolvierte. Schier unübersehbar ist die Diskographie; sie spiegelt in einzigartiger Weise die Schwerpunkte in Haitinks künstlerischem Profil.
Sehr früh, in den Jahren nach 1960, als der Komponist noch vollkommen verkannt war, hat er mit dem Concertgebouworkest für Philips die Sinfonien Gustav Mahlers eingespielt. Er sei wie die Jungfrau zum Kind, quasi durch Zufall zu diesem Vorhaben gekommen, relativierte Haitink; Tatsache ist, dass diese Gesamtaufnahme zusammen mit jener von Leonard Bernstein Mahler den Weg zurück in den Konzertsaal geebnet hat – der Komponist stand für Haitink denn auch lebenslang im Zentrum des Interesses. Ähnliches, aber nicht dasselbe gilt für die fünfzehn Sinfonien Dmitri Schostakowitschs, die er mit dem London Philharmonic Orchestra und dem Concertgebouworkest 1977 bis 1992 als erster westlicher Dirigent aufgenommen hat – nur ist diese Pioniertat nicht zur Herzensangelegenheit geworden. Da stand ihm die Welt Anton Bruckners doch wesentlich näher. Ebenfalls in den sechziger Jahren, parallel zur Arbeit an Mahler, ging Haitink mit dem Concertgebouworkest für die neun Sinfonien Bruckners ins Studio.
Schon in diesen frühen Aufnahmen und bis in die späte Zeit ist zu hören, auf welchem Mass an Detailkenntnis Haitinks Interpretationen basieren. Die Partitur war ihm alles; sie zu lesen, sie innerlich zu hören, sie zu erkennen, das stand für ihn im Zentrum des Tuns. Als Soldat trug er eine Taschenpartitur von Béla Bartóks Konzert für Orchester auf sich; wann immer es möglich war, versuchte er sich das Werk zu eigen zu machen – nicht eben das einfachste Unterfangen. Den Fragen, die sich rund um die Partitur herum stellen, hat er weniger Interesse entgegengebracht, ganz anders als ein Dirigent wie Nikolaus Harnoncourt, für den das Umfeld um die Partitur ebenso wichtig war wie der Notentext selber. So erstaunt nicht, dass sich Haitink der Frage der Fassungen bei den Sinfonien Bruckners erst spät zugewandt hat. Von der Achten zum Beispiel nahm er lange Zeit die unsägliche, weil in keiner Weise von Bruckner stammende Mischung zwischen der ersten und der zweiten Fassung, die der Bibliothekar Robert Haas als Herausgeber des Notentextes erstellt hat, zur Hand; erst in seinen letzten Jahren hat sich Haitink für die zweite Fassung des Werks in der von Leopold Nowak edierte Originalversion entschieden. In jener Phase hat Haitink auch seinen Zugang zu den Sinfonien Beethovens und Brahms’ überdacht.
Bernard Haitink war nun einmal kein Intellektueller, das ist ihm dann und wann vorgehalten worden. Allein, die Vorhaltung verkennt, dass Haitink seine Kunst aus reiner Musikalität heraus betrieben hat – einer ganz seltenen Sensibilität gegenüber dem musikalischen Geschehen wie gegenüber den mit ihm verbundenen Menschen. Das war seine Stärke, das hat ihm seine Unverwechselbarkeit verliehen. Ohne Zahl und von bleibender Nachwirkung sind die Erlebnisse, die sich hieraus ergaben. Von Richard Wagners «Meistersingern» gibt es keine stimmigere, keine wärmere Aufnahme als der (freilich nicht leicht greifbare) Mitschnitt einer Produktion der Londoner Covent Garden Opera von 1997. Denkwürdig die erste Sinfonie Gustav Mahlers, die Haitink 1989 mit dem Tonhalle-Orchester Zürich realisiert hat, oder die Abende mit den drei letzten Sinfonien Bruckners im Zürcher Saal. Die übrigens allesamt das Orchester mit einem Schlag über sein gegebenes Niveau hinaushoben. In seinen Anfängen, so berichtet es ein Mitglied des Concertgebouworkest, konnte Haitink heftig, auch scharf sein. In späterer Zeit genügte die Tatsache, dass er das Podium betrat und den Taktstock hob; sein in äussere Bescheidenheit gekleidetes Charisma verwandelte die Musiker. Selbst die Mitglieder der Wiener Philharmoniker, wie das Abschiedskonzert von 2019 erwies. Wann wird der Mitschnitt dieses Abends publiziert? Wie auch immer, wer der Kunst Bernard Haitinks begegnet ist, wird den Menschen nicht vergessen.
Peter Hagmann / Erich Singer: Bernard Haitink. «Dirigieren ist ein Rätsel». Gespräche und Essays. Bärenreiter / Henschel, Kassel / Leipzig, 2. Auflage 2019. 183 S., zahlreiche Abbildungen.