Ein Abend mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chefdirigenten Riccardo Chailly
Von Peter Hagmann
Ein Orchester wie kein anderes sei das Lucerne Festival Orchestra, das 2003 von Claudio Abbado gemeinsam mit Michael Haefliger ins Leben gerufen wurde und das seit 2016 von Riccardo Chailly geleitet wird. Das hat, was die Existenzform und die Arbeitsbedingungen betrifft, nach wie vor seine Gültigkeit. Und es hätte sich in der klingenden Realität bestätigt, hätten die ursprünglichen Pläne für die Sommerausgabe 2021 des Lucerne Festival durchgeführt werden können. Ein Gustav Mahler zugeschriebenes Sinfonisches Präludium und dessen erste Sinfonie hätte es zur Festival-Eröffnung gegeben, dazwischen wären Bruchstücke aus Alban Bergs Oper «Wozzeck» erklungen. Im zweiten Programm hätte Chailly zusammen mit dem Pianisten Denis Matsuev das 2019 in Gang gesetzte Rachmaninow-Projekt weitergeführt. Worauf dann der Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin übernommen und Bruckners Achte dirigiert hätte.
Allein, aus all dem wurde nichts, die Pandemie hat es verunmöglicht. Grosse Besetzungen liessen sich auch auf dem geräumigen Orchesterpodium im Konzertsaal des KKL Luzern nicht vorsehen, die Abstandsregeln (und somit etwa das einzelne Pult für den einzelnen Streicher) riefen nach Einschränkungen, und so mussten auch die Programme abgeändert werden. Statt Mahler gab es Mozart, die g-Moll-Sinfonie KV 550 im Eröffnungskonzert, statt Rachmaninow Beethovens Fünfte im zweiten Programm. Das tat den Werkfolgen nicht gut, weil sie im Aufbau alltäglich konventionell, ja sogar zufällig wirkten. Und sie führten in Bereiche des Repertoires, die nicht, wenigstens nicht durchgängig, zu den zentralen Arbeitsgebieten Chaillys gehören. So war denn alles andere als erstaunlich, dass im vierten der sechs Auftritte des Lucerne Festival Orchestra der Eindruck aufkam, die Formation erreiche nicht ihr übliches, singuläres Niveau – und dies trotz aller Brillanz der Solisten in ihren Rängen. Vielmehr erschien das Lucerne Festival Orchestra an diesem Abend als ein ganz gewöhnliches Orchester. Als eines wie so viele andere.
Schon Robert Schumanns Ouvertüre zu «Manfred», dem Schauspiel von Lord Byron, geriet eigenartig zäh. Das lag gewiss nicht an jenen Eingriffen in die Instrumentation Schumanns, zu denen sich Gustav Mahler genötigt fühlte – nein, es ging auf den kompakten, ja klobigen Ton zurück, den Chailly hier anstimmen liess. Mit zwölf ersten Geigen hielt sich die Besetzung in Grenzen, der Klang wirkte jedoch festgeschraubt, in sich geschlossen – nicht zuletzt wegen der amerikanischen Aufstellung des Orchesters mit den beiden Geigengruppen links vom Dirigenten nebeneinander. Dass die Streicher, zumal anfangs und am Schluss, das Vibrato nuanciert einsetzten, führte zu speziellen Färbungen – dennoch: Die Dringlichkeit dieser hochspannenden Ouvertüre trat nicht heraus, die Tempi blieben zu wenig belebt. Ein regelrechter Reinfall sodann die Sinfonie in D-Dur, Hob. I:101, von Joseph Haydn. Auch hier herrschte klanglich philharmonische Homogenität mit wuchtigen Bässen. Stupend das rasante Finale, das gewiss, doch in dem anrührenden Andante, dessen regelmässiger Puls der Sinfonie den Beinamen «Die Uhr» verlieh, geschah rein gar nichts – gab es viel zu wenig dynamische Differenzierung, zum Beispiel zwischen Forte und Fortissimo, und so gut wie kein musikalisches Sprechen. Das war Papa Haydn, wie es im Buche steht; was sich in den letzten zehn Jahren in Sachen Haydn-Interpretation ereignet hat – es ist kapital –, blieb völlig ausser Acht.
Etwas zu erwärmen vermochte einzig Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 5, c-Moll; für deren Wiedergabe gab es denn auch jenen in Luzern üblichen Stehapplaus, welche die vordem versteinerten Mienen der Orchestermitglieder und ihres Dirigenten aufhellten. Der geballte Klang des Abends blieb erhalten, was dazu führte, dass die Posaunen mehr Lautstärke als Farbe einbrachten und dass das Kontrafagott überhaupt nie zu hören war. Aber ungeheures Temperament brach hier aus, nicht zuletzt dank der Orientierung an den vom Komponisten vorgegebenen Zeitmassen. Und geschickt hielt Chailly, der an den entscheidenden Momenten das Geschehen ganz leicht vorantrieb, die Tempi in Schwung. Übrigens auch im Andante con moto des zweiten Satzes, der heitere Stimmung vor den Drohungen des Scherzos und dem Aufbäumen des Finales verbreitete. Besonders eindrucksvoll geriet der Übergang vom Scherzo ins Finale, das nicht stürmisch, sondern mit überraschend grosser Geste anhob – Chailly war schon immer gut für stupende Lösungen auf der Ebene der Tempodramaturgie.
Vom Dunkel ins Licht also – nicht nur hier, in Beethovens Fünfter, sondern an diesem Abend insgesamt. Vielleicht wäre es von Gewinn, wenn Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra die Zügel etwas lockerer nähme und den erstklassigen Musikerinnen und Musikern etwas mehr Luft zum Atmen und Phrasieren liesse. Und wenn er im Bereich des klassischen wie des frühromantischen Repertoires ein wenig mehr über den Tellerrand blickte und wahrnähme, was rund um ihn herum geschieht. Also aufbräche, wie es die Ahnherren Bernard Haitink und Herbert Blomstedt vorgemacht haben. Das Lucerne Festival Orchestra, das tatsächlich ein Orchester wie kein anderes sein kann, hätte es verdient.