Nach einem überaus erfolgreichen Jahrzehnt verabschiedet sich Mario Venzago vom Berner Symphonieorchester. Die Leitung von Konzert-Theater Bern geht in neue Hände über.
Von Peter Hagmann
Ein angepasster Typ war Mario Venzago nie; von scharfer Beobachtungsgabe, reich an Fragen, stets für eine Überraschung gut, geht der Dirigent ganz und gar seinen eigenen Weg. Er hält Werte hoch und pflegt Traditionen, die bei den allermeisten Vertretern seines Fachs längst ausser Kurs geraten ist. Wie weiland Hans von Bülow oder Leonard Bernstein wendet er sich von seinem Podium aus ans Publikum. Dabei nimmt er das Mikrophon ganz nah an die Lippen und wählt einen leisen Tonfall, so als sässe er im Saal und spräche er halblaut mit seiner Nachbarin zur Linken, seinem Nachbarn zur Rechten. Was er erzählt, ist geprägt durch vitale Emotion und zugleich gespickt mit relativierender Selbstironie, doch jederzeit aufschlussreich und anregend. Wenn er von einem musikalischen Aufstieg berichtet, greift er zum Bild des Bergsteigers, der über schwierige Routen die Höhe erklimmt, und fügt dann nonchalant bei, so hoch sei er selbst natürlich nie geklettert. Auf diese Weise überbrückt er Umbaupausen und schafft er eine ganz besondere, eine geradezu intime Atmosphäre, die einen die Ohren spitzen und das Herz öffnen lässt. Dass da auch ein guter Schuss Ego dabei ist, versteht sich – nur, wie soll so etwas ohne Ego gelingen?
Ebenfalls alter Übung gemäss greift Venzago auch kreativ und ohne Scheu in Partituren ein – ausgerechnet in Partituren, die doch für jeden Musiker das Allerheiligste darstellen, das nicht angerührt werden darf. Früher, im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, war das noch anders. Felix Weingartner verbesserte Beethoven, Gustav Mahler half Schumann, Hermann Scherchen kürzte Nono. Die vom Geist der Spätromantik beseelten Interpreten gingen zum Teil sehr frei mit dem Notentext um; wenn sie es für nötig hielten, passten sie ihn ihren Möglichkeiten und Empfindungen an. Darum geht es Venzago nicht, er schaut einfach genau hin und nimmt damit eine Haltung auf, die von Nikolaus Harnoncourt vorgelebt wurde. Ein Beispiel dafür bot die Glagolithische Messe Leoš Janáčeks. Als Venzago des Komponisten Wohnhaus in Brünn besuchte, stiess er auf die erste Seite der handschriftlichen Partitur, die in einem Rahmen an der Wand hing. Sie sah merklich anders aus als der im Handel greifbare Druck, worauf sich der Dirigent eine Kopie des Autographs besorgte und eine eigene Fassung der Partitur herstellte.
Beim Berner Symphonieorchester, wo er 2010 als Chefdirigent und künstlerischer Leiter antrat und wo er jetzt seinen Abschied nahm, gab es manch erhellendes Erlebnis auf dieser Ebene. Ganz besonders in der Oper, wo das Orchester im Rahmen von Konzert-Theater Bern zu den Grundfesten gehört. Zu Carl Maria von Webers «Freischütz» mit seinen aus der Zeit gefallenen Dialogen fand Venzago auf der Basis jener Bearbeitung, die Hector Berlioz für eine Aufführung in der Pariser Oper erstellt hat, eine neue Lösung. Und bei Georges Bizets «Carmen» sorgten ein üblicherweise gestrichenes, in Bern aber aufgeführtes Couplet des Soldaten Moralès und die berühmte «Habanera» der Carmen, deren erste Strophe in einer früheren Fassung erklang, für Aufsehen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.04.18). Den Höhepunkt diesbezüglich stellte aber gewiss der Abend mit der Oper «Das Schloss Dürande» von Othmar Schoeck dar. Es ging hier um den Versuch, ein Stück zu retten, das musikalisch als ein Meisterwerk gelten darf, das in seiner textlichen Grundlage jedoch durch völkischen Geist beschädigt ist und darum als nicht mehr aufführbar galt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.06.18). Venzago stellte sich dieser Auffassung entgegen und liess für die grandiose Musik seines Lieblingskomponisten von dem Berner Autor Francesco Micieli ein neues Libretto schreiben, an das Venzago die Partitur Schoecks anpasste. Er tat das mit so viel Geschick, dass die Eingriffe nicht zu hören waren. Die hinreissende Aufführung im Berner Stadttheater ist später auf CD erschienen, ausserdem hat eine von Thomas Gartmann geleitete Arbeitsgruppe der Berner Musikhochschule einen inhaltsreichen Materialband zu dem Projekt herausgebracht.
Möglich wurde all das, weil sich Mario Venzago eben gerade nicht als ein Interpret versteht, der nur ausführt, was in den Noten steht – so hat es sein berühmter Kollege Günter Wand als Credo formuliert. Nein, Venzago agiert als ein Interpret mit der ganzen Kraft seiner Subjektivität – und dazu gehört nötigenfalls auch der Eingriff in den Notentext. Er erlaubt sich den, weil er sich selber im Komponieren übt. Jeder Dirigent, so sieht es Venzago, müsse auch komponieren. Nicht um Meisterwerke zu hinterlassen, sondern um die Meisterwerke der Grossen besser als solche zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist das Konzert zu verstehen, mit dem sich Mario Venzago von Bern verabschiedet hat. Er stellte sich nämlich in die Reihe seiner Vorgänger beim Berner Symphonieorchester, von denen viele komponiert haben. Fritz Brun, Chefdirigent von 1909 bis 1941, kam mit dem ersten Satz aus seiner siebten Symphonie zu Wort – einem ausdrucksstarken Stück, in dem, so hört es Mario Venzago, auch Spuren Othmar Schoecks fänden. Mit seinen Orchestervariationen op. 20 trat später Paul Kletzki in Erscheinung, der das Berner Orchester in den Jahren 1964 bis 1968 leitete. Auch das fassliche Musik, welche die Tonalität in hohem Masse dehnt, sie als ehernes Grundgesetz aber nicht in Frage stellt – nicht zuletzt dadurch erinnert sie an die Handschrift Max Regers.
Zum Schluss dann, das war der Clou des Abends, das Violinkonzert Mario Venzagos, das in mehreren Schritten zwischen 1981 und 2019 entstanden ist. Für tiefe Streicher, symphonisch besetzte Bläser und grosses Schlagwerk geschrieben, enthält es einen fürwahr höllischen Solopart, den zu lernen und über die Rampe zu bringen eine Kraft sondergleichen und ein Höchstmass an Zugewandtheit voraussetzt. Der jungen Koreanerin Soyoung Yoon, einer Schülerin von Zakhar Bron, ist das gelungen; sekundiert wurde sie von George-Cosmin Banica, dem Konzertmeister des Orchesters, den Venzago als ihren Bergführer vorstellte. Tatsächlich geht es in diesem klangmächtigen, hochexpressiven Stück um Bergwanderungen, um wirkliche und imaginierte, um selbst erlebte wie um empfundene – denn ohne viel zu verraten, gab Venzago doch zu verstehen, dass in diese weit ausgreifende Partitur manches Stück gelebten Lebens eingelassen ist. Als Komponist, so der Eindruck nach der Berner Aufführung, ist Mario Venzago nicht weniger eigenwillig denn als Dirigent.
Feinsinnig und beziehungsreich zusammengestellt war dieses Abschiedskonzert. Und blendend ausgeführt dazu. Einmal mehr wurde deutlich, wie sehr das Berner Symphonieorchester in dem guten Jahrzehnt mit Mario Venzago gewachsen ist. Sein Klang hat eine klare Identität erhalten. Bestimmt wird sie durch helle Farben, leichte Tongebung, agile Artikulation, differenziertes Vibrato in den Streichern. Und durch ein beispielhaftes Masshalten in den dynamischen Bewegungen; das Lärmen und Dröhnen, das von Orchestern mitunter so lustvoll gepflegt wird, es ist Venzagos Sache überhaupt nicht. Zu hören war es an diesem denkwürdigen Abend bei der Symphonie Nr. 3, der Symphonie liturgique, von Arthur Honegger, einem Leib- und Magenstück des Orchesters wie seines scheidenden Dirigenten. Das 1946 abgeschlossene Werk, das von den Schrecken des Kriegs spricht, nimmt liturgische Texte zum Anlass und setzt sie in bedrohliche Farben, die sich im dritten und letzten Satz ins Lichte wandeln. Dass daraufhin bruchlos der von Johann Sebastian Bach gesetzte Choral «Ein feste Burg ist unser Gott» in der grossorchestralen Bearbeitung von Leopold Stokowski folgte, machte dann stupenden Effekt.
Jetzt ist Schluss. Ein Strich wird auch gezogen unter die hervorragende Arbeit des Opern- und Konzertdirektors Xavier Zuber, der mit einem sehr gepflegten, klar profilierten Ensemble und einem vielgestaltigen Spielplan für pralles Leben gesorgt hat. «Konzert-Theater Bern», die sperrige Bezeichnung nach der aus Spargründen durchgeführten Einbettung des Symphonieorchesters in das Stadttheater, verschwindet mit dem Wechsel der Intendanz auf Beginn der Saison 2021/22 hin. Der Phönix aus der Asche heisst fortan ganz einfach «Bühnen Bern», womit zwar auf den Mehrspartencharakter des Hauses gewiesen, das nicht auf einer Bühne stattfindende Konzert jedoch unterschlagen wird. Fortan wird es in der Bundesstadt eine Art Generalmusikdirektor geben, denn der Australier Nicolas Carter wird als Chefdirigent des Orchesters und zugleich als Operndirektor fungieren, während der Konzertbereich der Agenda des neuen Intendanten Florian Scholz zugeschlagen wurde. Ob das die bessere Lösung ist als die Konstruktion der letzten zehn Jahre mit dem unter dem Intendanten wirkenden Opern- und Konzertdirektor und den zwei Chefdirigenten für das Orchester und die Oper, wird sich weisen müssen.