Ravel aus der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Vorboten

Die beiden Klavierkonzerte Ravels
mit Yuja Wang und Lionel Bringuier

 

Obwohl das Englische mehr und mehr dominiert, gibt es in Zürich doch noch immer diese heimliche Sehnsucht nach Paris, nach der Grossstadt aus der anderen, der französischen Kultur. Auch im Musikalischen. In den späten achtziger Jahren, Chefdirigent war damals der wenig glückliche Hirsohi Wakasugi, holte sich das Tonhalle-Orchester Zürich Michael Plasson als Ersten Gastdirigenten, um sich unter seiner Anleitung etwas von der deutschen Tradition zu lösen und den französischen Duft zu erkunden. Viel wurde daraus nicht, Plasson sah in diesem Engagement seinerseits die Möglichkeit, deutsches Repertoire mit einem Orchester deutscher Tradition zu pflegen.

Auf nach Frankreich

Inzwischen ist es zu einem neuen Anlauf in dieser Richtung gekommen – und das weitaus entschiedener. Lionel Bringuier, der neue, junge Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürichs und Nachfolger David Zinmans, ist zwar auch in Nordamerika verankert: beim Los Angeles Philharmonic, wo er unter der Anleitung von Esa-Pekka Salonen und Gustavo Dudamel sein Handwerk perfektioniert hat. Von der Herkunft her ist Bringuier jedoch klar ein Vertreter der französischen Schule. Aus Nizza stammend, hat sich der heute 29-jährige Dirigent am Conservatoire National Supérieur in Paris ausbilden lassen, auch am Cello und am Klavier. Sein Auftritt beim Tonhalle-Orchester Zürich hat geradezu einen Schock ausgelöst – nicht nur seines jugendlichen Alters wegen. Das Orchester klang auch mit einem Mal ganz anders als zuvor.

Nicht französisch hell, sondern – laut, amerikanisch laut. Es war, wie wenn die Musiker losgelassen worden wären, nachdem sie mit Zinman, einem Amerikaner genuin europäischer Denkart, zwei Jahrzehnte lang einen eleganten, gezügelten und optimal auf den Saal abgestimmten Klang gepflegt hatten. Im allgemeinen wurde das als Zeichen des jugendlich frischen Zugangs gesehen; da und dort wurde gar darauf hingewiesen, dass der Tonhalle-Saal für gewisse gross besetzte Stücke zu klein dimensioniert sei. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, welche die grobe Lautstärke als künstlerischen Mangel empfinden. Tatsächlich gehörte es zu den ersten Aufgaben eines Interpreten, seine Darbietungen auf die räumlichen Gegebenheiten abzustimmen. Das weiss der Dirigent, der mit seinem Orchester auf Reisen geht, so gut wie der Organist mit seinen halligen Kirchen.

Bei den ersten Zürcher Konzerten Bringuiers in der Saison 2014/15 liess sich die Diskrepanz zwischen dem im Grossen Saal der Tonhalle Zürich Zuträglichen und dem vom Orchester Gebotenen durch die geringen Erfahrung des jungen Chefdirigenten entschuldigen. Inzwischen ist ein Jahr vergangen, doch die Mängel in der Kontrolle der Dynamik sind geblieben. Zur Eröffnung der Saison 2015/16, seiner zweiten in Zürich, dirigierte Lionel Bringuier Alexander Skrjabins «Poème de l’extase» – und liess das Orchester wieder Phonstärken erreichen, die zum Ohrenzuhalten waren. Die Partitur verlangt eine grosse Besetzung, es sucht die Überwaltigung durch die Masse der Mittel. Zugleich kennt es aber auch wellenförmige Steigerungsverläufe, die dem Stück mächtigen Zug verleihen. Davon war in dieser Zürcher Aufführung wenig zu hören.

Ähnliche Eindrücke hinterliess Bringuiers Beschäftigung mit Maurice Ravel – und das ist schon erheblicher. Denn Ravel ist vom Tonhalle-Orchester zum Schwerpunkt ausgerufen worden, auch im Bereich der CD-Aufnahmen und dort bewusst als Kontrast zur Ära Zinman, die in diesem Bereich den Akzent auf deutsch-österreichisches Repertoire gelegt hat. So sollen alle Orchesterwerke Ravels auf CD erscheinen – nicht mehr wie vordem auf dem Label RCA, sondern bei der Deutschen Grammophon. Als Vorbote zur grossen Box ist jetzt schon einmal eine CD mit den beiden Klavierkonzerten Ravels erschienen (Deutsche Grammophon 4794954). Und leider bestätigt sie in ihrer Weise die Befunde aus dem Konzertsaal.

Der problematische Umgang mit den dynamischen Werten, wie er in den Konzerten beim «Boléro» oder bei der Ballettmusik «Daphnis et Chloé» so ausgeprägt zutage getreten ist, spiegelt sich in diesen Aufnahmen. Reichlich handfest, ausgesprochen sportlich und sehr kräftig in der Zeichnung wird da musiziert. Gerade die grossen Steigerungen, wie sie etwa der dritte Teil des D-dur-Konzerts für die linke Hand bereithält, leiden daran, dass das Pulver zu rasch verschossen wird und im Fortissimo sich jeder nach Leibeskräften ins Zeug legt. Aber es gibt ja den Regler am Wiedergabegerät. Mit dabei ist auch wieder der Toningenieur Simon Eaden, der schon die Aufnahmen mit Zinman betreut hat; er sorgt dafür, dass das Wichtige heraustritt – hört man die Einspielungen über Kopfhörer, nimmt man den stützenden Einsatz der verschiedenen Mikrophone sehr genau wahr. Von der schlanken Geschmeidigkeit, die der französischen Musik so genuin ansteht, von ihrer filigranen Durchsichtigkeit ist aber wenig zu erfahren. Auch nicht gerade idiomatisch wirkt das fette Vibrato, das die Ersten Geigen pflegen.

Perkussiv und rhythmisch

All diesen Vorbehalten zum Trotz hat die Einspielung dennoch ihren Reiz hat. Das ist der Solistin zu verdanken. Yuja Wang geht die beiden Konzerte, so verschieden sie sind, in gleicher Weise draufgängerisch und aus dem Rhythmischen heraus an. Mit einer Energie sondergleichen und hoher Geläufigkeit – das Orchester hält da blendend mit – hämmert sie die wuchtigen Ecksätze des für die linke Hand allein geschriebenen Konzerts in D-dur heraus. In ihrem Fahrwasser spitzt Bringuier die Instrumentalfarben derart zu, dass das 1929 für den als Folge einer Kriegsverletzung einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein geschriebene Konzert in deutliche Nachbarschaft zu Strawinskys «Sacre du printemps» von 1913 gerät. Bei dem ebenfalls um 1930 entstandenen G-Dur-Konzert mit seinen von der Harfe strukturierten Flächen kann man sich dagegen an «Daphnis et Chloé» erinnern. Yuja Wang findet hier einen eher auf das Spielerische angelegten Ton; den Anklängen an den Jazz bleibt sie deswegen nichts schuldig.

Dass die 27-jährige Pianistin aus Peking auch Sinn für die versonnene Kantilene hat, führt die Ballade n Fis-dur von Gabriel Fauré vor, die zwischen die beiden Klavierkonzerte geschoben ist. Die Wahl hat ihren Sinn, war Fauré doch einer der Lehrer Ravels. Die kleine Beigabe, die durch einen kleinen Schnittfehler bei 7’13“ getsört ist, lässt freilich verstehen, warum Fauré heute so gründlich vergessen ist. Es handelt sich um ein angenehm dahinplätscherndes Salonstück für Klavier, dem auch die feurige Yuja Wang nicht viel Leben einzuhauchen vermag.

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