Strawinskys «Sacre» als Kunstwerk

Eine neue Aufnahme mit dem Dirigenten Pablo Heras-Casado und dem Orchestre de Paris

 

Von Peter Hagmann

 

Er ist in jedem Garten tätig, Spezialisierung oder gar Fokussierung auf das konventionelle Repertoire ist ihm fremd. Dabei ist Pablo Heras-Casado alles andere als ein oberflächlicher Tausendsassa, er ist vielmehr ein moderner Musiker, einer unserer Zeit, und als Dirigent in etwa das Gegenteil von Christian Thielemann mit seinen drei Säulenheiligen Bruckner, Wagner und Strauss. Wagner dirigiert Heras-Casado ebenfalls, zum Beispiel den «Ring des Nibelungen» – natürlich nicht in Bayreuth, wo kämen wir da hin, aber immerhin am Teatro Real in Madrid.

Ebenso selbstverständlich leitet er für eine CD-Aufnahme das Balthasar Neumann-Ensemble und seinen Chor mit Musik von drei Renaissance-Komponisten des Namens Praetorius. Oder fährt er mit dem Concentus Musicus Wien und dem französischen Vokalensemble Aedes nach Melk, um im dortigen Kloster Monteverdis «Marienvesper» aufzuführen. Das Gegenstück dazu bildet die neue Musik. Bei den Salzburger Festspielen dieses Sommers erscheint er am Pult des Klangforum Wien mit Musik von Olivier Messiaen und Luigi Dallapiccola. Und als Toshio Hosokawas Oper «Matsukaze» in der Brüsseler Monnaie-Oper uraufgeführt wurde, war Heras-Casado mit von der Partie. Zusammengeführt kommen die Erfahrungen auf den verschiedenen Feldern dann zum Tragen, wenn Heras-Casado Symphonien oder Instrumentalkonzerte von Beethoven und Mendelssohn aufnimmt – wie er das das in straffer Kadenz für das französische Label Harmonia mundi tut, das längst an die Stelle der Marktführer von gestern getreten ist.

Der Blick in den prallvollen, wenn auch von Corona gezeichneten Kalender des Weltreisenden könnte einen die Stirn runzeln lassen. Bei diesem Ausmass an Mobilität zwischen Europa, Amerika und Japan, bei dieser Breite des Repertoires – ist da die Tiefe der Auseinandersetzung noch möglich? Kann da jene Belebung des interpretatorischen Blicks, die so dringend erforderlich ist, überhaupt entstehen? Nun, Pablo Heras-Casado ist nicht nur ein ausserordentlich begabter Musiker, er scheint auch über eine schnelle Auffassung zu verfügen und weiss seine Ressourcen einzuteilen – vielleicht ähnlich wie der Pianist Walter Gieseking, der die zu seiner Zeit noch unendlich langen Reisen nutzte, um ganze Werke auswendig zu lernen und sie dann auch so vorzutragen.

Die jüngste CD mit Heras-Casado gibt Anlass, darüber nachzudenken. Sie zeigt das Profil des Dirigenten in aller Klarheit. Zunächst enthält sie das dritte Violinkonzert von Peter Eötvös mit dem Untertitel «Alhambra» – ein Auftrag Heras-Casados in seiner Funktion als Leiter des Festivals von Granada. Zu hören ist da – mit Isabelle Faust als der auch in diesem Repertoire mustergültigen Solistin – ein Stück, das keine Revolution auf der Ebene des musikalischen Materials anzettelt, das vielmehr mit reicher Imagination und blendendem Handwerk die Atmosphäre einfängt, die das grossartige Bauwerk in Granada verströmt. So entlässt einen diese Ersteinspielung in sehr animierter Stimmung.

Die eigentliche Aufmerksamkeit gilt jedoch dem «Sacre du printemps» Igor Strawinskys, den Pablo Heras-Casado zusammen mit dem Orchestre de Paris erarbeitet hat. Mit Daniel Harding, seinem Chefdirigenten zwischen 2016 und 2019, ist das städtische Orchester der Capitale nicht auf einen grünen Zweig gekommen; seit dem raschen Ende dieser Zusammenarbeit steht der Klangkörper ohne musikalische Führung da und ist auf dem internationalen Podium kaum präsent. Zu Unrecht, denn mit Heras-Casado bringt das Orchester eindrückliches Potential ins Spiel. Homogen und wohlklingend das Tutti, ausgeprägt die Farben der Bläser, was für Transparenz sorgt, glänzend die solistischen Interventionen der Bläser.

Schade nur, dass in der Einleitung zum ersten Teil kein französisches Basson, sondern das international verbreitete Fagott deutscher Bauart zum Einsatz kommt – so klingt es jedenfalls. Tatsächlich hat Daniel Barenboim, als er 1975 beim Orchestre de Paris die Position des Chefdirigenten übernahm, nicht nur alle Musiker einzeln zum Vorspiel gebeten und sie damit gegen sich aufgebracht, sondern auch das Basson durch das Fagott ersetzen lassen – dies im Interesse der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Man stelle sich, vor Wiener Philharmoniker verzichteten mit einem solchen Argument auf die Wiener Oboe mit ihrem unverkennbaren Klang. Eine kleine Reminiszenz an die französische Orchestertradition stellt Heras-Casado dennoch heraus. Wie der Solofagottist des Orchesters den «Sacre» eröffnet, setzt er ein langsames, ausgeprägtes Vibrato ein. Das ist doch schön in einer Zeit, da das Vibrato der Bläser – nicht jenes der Streicher… – allerorts verpönt ist.

Die Besonderheit der neuen Aufnahme von Strawinskys «Sacre» besteht nun aber darin, dass das Werk weder als Beispiel für die hochgetriebene Virtuosität eines Orchesters (und eines Dirigenten) noch als vorzeitliches, brutales Ritual hergezeigt wird – beides geschieht nur zu häufig. Nein, Pablo Heras-Casado nimmt den «Sacre» vielmehr als das, was er heute ist: als ein musikalisches Kunstwerk, das längst zum Kanon gehört. Er kleidet die Partitur in einen philharmonischen Sound, spitzt nirgends zu, auch nicht in den Eruptionen, lässt vielmehr eine elegante Geschmeidigkeit walten – ein wenig so, wie es Armin Jordan getan hat. Wo er aber unbarmherzig genau bleibt, ist im Rhythmischen wie in den Tempi und den Beziehungen untereinander. Zum Ausdruck kommt es etwa in den «Augures printaniers» nach der Einleitung zum ersten Teil, aber auch in der «Action rituelle des ancêtres» kurz vor dem Finale. Das öffnet das Ohr für die immanenten szenischen Gesten dieser Musik. Wenn zum Schluss des ersten Teils der Weise auftritt, verbreitet sich geheimnisvolle Atmosphäre, die sich dann in einem fulminanten Schluss entlädt.

Eine würdige Hommage zum fünfzigsten Todestag Igor Strawinskys. Sie zu verfolgen, ist ausserordentlich spannend. Wenigstens auf CD. Im Streaming aber – jedenfalls auf Idagio und auf Qobuz – sind die einzelnen Tracks durch hörbare Pausen getrennt, durch kurze eigentliche Löcher, die den musikalischen Zusammenhang empfindlich stören. Der Offline-Zugang, er lebe hoch.

Igor Strawinsky: La Sacre du printemps. Peter Eötvös: Violinkonzert Nr. 3 Alhambra. Isabelle Faust (Violine), Orchestre de Paris, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi 902655 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021).

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