Ein Haus, neu gesehen, anregend interpretiert

150 Jahre Wiener Musikverein

 

Von Peter Hagmann

 

Die Elbphilharmonie in Hamburg, das Kunst- und Kulturzentrum KKL in Luzern, die Philharmonie de Paris mit ihrer «Salle Modulable» in Ehren – der berühmteste Konzertsaal der Welt steht in Wien. Nicht weil jeweils am 1. Januar um elf Uhr Lokalzeit vierzig Millionen Menschen vor ihren Fernsehern oder ihrer Stereoanlage sitzen und das von neunzig Stationen in alle Welt ausgestrahlte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker verfolgen – nein, der Wiener Musikverein ist ein Ort für Musik von ganz besonderer Dimension. Er ist der Ort für Musik schlechthin. Zu erfahren war es wieder in jenem Festkonzert, mit dem am 6. Januar 2020 an die Eröffnung des Hauses vor exakt 150 Jahren erinnert wurde. Das Gefühl für den aussergewöhnlichen Moment in der stolzen Geschichte dieses Musentempels und die auffallend prickelnde Atmosphäre im Goldenen Saal liessen das vormittägliche Dreikönigskonzert zu einem besonderen Ereignis werden. Ihren nicht ganz unwesentlichen Teil dazu beigetragen hat die bis heute unübertroffene Akustik. Das zu vermerken, mag als Banalität erscheinen. Dennoch, wenn im Goldenen Saal ein Sänger auf dem Podium wirkt, kann man die Stimme so konturiert, ja so körperlich wahrnehmen, dass einen doch wieder das Staunen überkommt.

Natürlich weiss jedermann, dass in keinem Konzertsaal der Welt auf allen Plätzen gleich gut gehört werden kann. Auch im Grossen Musikvereinssaal mit seinen zweitausend Sitzen hat die Gleichberechtigung aller Zuhörenden, die der Architekt Theophil Hansen im Kontrast zu Disposition in der fast gleichzeitig entstandenen Hofoper zu verwirklichen suchte, ihre Kratzer. Neben den akustischen Löchern, deren Verortung im Saal unter Eingeweihten durchaus bekannt ist, gehört dazu der Balkon, der Oben von Unten scheidet – auch wenn das nicht ganz ohne Preis geschieht. Solchen Fragen widmet sich Joachim Reiber, Redaktionsleiter in der Intendanz der Gesellschaft der Musikfreunde, in einem grossformatigen Band mit dem lapidaren Titel «Der Musikverein in Wien. Ein Haus für die Musik». Keine Festschrift, kein Huldigungsband, kein touristischer Führer liegt da vor, Reiber bietet vielmehr eine liebevolle Annäherung an das Haus, seine Geschichte, seine Geschichten.

Wer mit dem Autor die eiligen Touristen aus Fernost, die Tag für Tag ihre Selfies vor dem Musikverein schiessen, hinter sich lässt und durch die Eingangstüren schreitet, wer nicht gleich zu den Garderoben und dann zu seinem Platz eilt, der darf seine Wunder erleben. Denn Reiber schaut hin, lässt sich informieren und stellt das aufgespürte Detail in den Zusammenhang: den historischen, den ästhetischen, den musikalischen, den menschlichen. Auch wer den Musikverein zu kennen glaubt, entdeckt so manch Neues – und stösst nebenbei auf Menschen, die dem Haus sein Gesicht geben: auf die langjährige Abonnentin Evelyn Wanderer etwa, auf den Saalmeister Gerhard Schacher, der vor der Tür des Dirigentenzimmers wacht und alle Geheimnisse kennt, aber keines ausplaudert, auch auf Margarethe Gruder-Guntram, die ein Leben lang ganztags das Künstlerische Betriebsbüro leitete und für viele Musiker erste Bezugsperson war, nicht zuletzt aber auf den Intendanten Thomas Angyan und seine Gattin Eva Angyan, die für das Buch Stimmen grosser Musikerinnen und Musiker gesammelt hat. Mit Joachim Reiber schaut man genau hin, aber nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem Photographen Wolf-Dieter Grabner, der mit seinen denkbar prächtigen Bildern den Blick des imaginären Flaneurs lenkt.

Und weil Reiber nicht beim Detail stehenbleibt, ihm vielmehr nachsinnt und kreativ, auch in einem subtil gestalteten Ablauf  Kontexte erschliesst, erfährt man gleichsam unter Hand das Wesentliche zu dem nun in der Tat eindrücklichen Werden des Wiener Musikvereins. Zur Gründung der bürgerlichen Gesellschaft der Musikfreunde 1812, zur selbstbewussten Bitte der Gesellschaft an den Kaiser um ein Grundstück auf der Fläche der geschliffenen Stadtmauer, zu den ästhetischen Prämissen, unter denen Theophil Hansen das Haus erstellt hat, zu seinen Umbauten und auch zu der grossen unterirdischen Erweiterung durch die vier Neuen Säle. Die dunklen Flecken in dieser Geschichte werden nicht verschwiegen. Kurz, aber eindringlich wird geschildert, wie die Nationalsozialisten gleich nach der Einverleibung Österreichs ins Deutsche Reich die in der Trägerschaft versammelten Bürger entmachteten und die Juden vertrieben, wie sie einen willfährigen Organisten an die Spitze stellten und den Musikverein für sich pachteten. Wie 1945 eine Granate durch die geborstenen Fenster auf die Pedaltastatur der Orgel fiel, dort aber nicht explodierte – auch dieses vielsagende Zeichen fehlt nicht.

Im Musikverein sei das Alte das Neue und das Neue das Alte, bemerkt Joachim Reiber bei der doch etwas kurz geratenen Erwähnung Nikolaus Harnoncourts. Das hat seinen speziellen Hintersinn. Denn Wien bleibt Wien, auch in den Strukturen: Anders als sonstwo im Bereich der Orchester und der Konzerthäuser, auch das ist dem Buch Reibers zu entnehmen, bildet im Musikverein das Abonnement nach wie vor die zentrale Stütze des inzwischen erheblich erweiterten Angebots an Konzerten. Dass die Tradition auch gefährdend wirken, zum Beispiel den Sinn für Innovation eintrüben kann, auch das ist im Wiener Musikverein hie und da zu erfahren – das Festkonzert vom Dreikönigstag 2020 deutete es an. Die Tatsache freilich, dass die Tradition, ohne die es keine Innovation gibt, auch in unseren Tagen bewegt am Leben bleiben kann, davon weiss das grandiose, zu Recht geliebte Haus am Karlsplatz auch im 150. Jahr seines Bestehens äusserst munter zu erzählen.

Joachim Reiber: Der Musikverein in Wien. Ein Haus für die Musik. Styria-Verlag, Wien 2019. 224 S., Euro 30.00.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.