Unentwegt auf der Suche nach der musikalischen Wahrheit

Letzte Begegnungen mit Mariss Jansons

 

Von Peter Hagmann

 

Natürlich: «Was ist Wahrheit?». Die Frage des Pontius Pilatus bleibt im Raum. Vielleicht, weil es die Wahrheit an sich nicht gibt, weil nur verschiedene Wahrheiten denkbar sind. In der Musik als klingendem Kunstwerk ist es definitiv so. Die Partitur ist ein vieldeutiges Zeichensystem, und die Interpreten, die sich auf die Suche nach den Geheimnissen in diesem Zeichensystem aufmachen, stehen alle für ihre je eigenen Sichtweisen ein. Dennoch kommt es, im Konzert noch mehr als in der Oper, immer wieder zu Momenten, da sich beim Zuhörer das Gefühl einstellt, der Wahrheit begegnet zu sein – allem Wissen zum Trotz, dass diese eine Wahrheit nicht existiert. Bei Mariss Jansons, der am 30. November 2019 76-jährig in St. Petersburg gestorben ist, ereignete sich das noch und noch.

Ich denke zurück an die beiden Opernproduktionen bei den Salzburger Festspielen, für die Markus Hinterhäuser den Dirigenten hatte gewinnen können. Bei «Lady Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch im Sommer 2017 blieb Jansons der Brutalität des Stoffs und der Härte seiner Vertonung nicht das Geringste schuldig. Wie es seine Art war, durchdrang er die Partitur bis in letzte Einzelheiten und gewann dort Energie und Legitimation für seine Art der klanglichen Schärfung. Zugleich aber war er, wie es ebenfalls zu seinem Künstlertum gehörte, den Figuren und ihren musikalischen Erscheinungen empathisch verbunden, weshalb Schostakowitschs freches Jugendwerk nicht allein seine Fratze zeigte, sondern auch Schönheiten und menschlich anrührende Seiten offenbarte. So also kann dieses Werk erscheinen, mochte man damals denken und sich einer Art Wahrheit nahe fühlen.

Ähnlich und doch gerade umgekehrt lag der Fall bei «Pique Dame» von Peter Tschaikowsky im Jahr darauf. Diese Produktion stand ganz im Zeichen des Dirigenten – trotz dem Regisseur Hans Neuenfels an seiner Seite. Jansons begegnete der Partitur mit unverstellter emotionaler Anteilnahme, liess die Musik glühend aufrauschen und führte sie in einen warmen, vielfarbigen, ruhig voranstrebenden Zug. Weil er aber auch hier den Notentext so beim Wort nahm, wie er es immer tat, gelang es ihm, jeder Sentimentalität aus dem Weg zu gehen – grossartig, hinreissend war das, auch als Leistung des Ensembles und vor allem der Wiener Philharmoniker. In einer ganz eigenen Reinheit, denkbar fern jeden Gedankens an die Verurteilungen Adornos und einer unmittelbar berührenden Schönheit erstand hier die Musik Tschaikowskys. Und Schönheit heisst: Wahrheit.

Die letzte grosse Orchesterliebe Mariss Jansons’ galt dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München. Als er im Herbst 2003 sein Amt antrat, stellte sich durchaus die Frage, welche Optionen da noch offen stünden, denn Jansons’ Vorgänger Lorin Maazel hatte das Orchester zu glanzvoller Ausstrahlung gebracht – die zirzensisch angereicherte «Rosenkavalier»-Suite von Strauss, vor allem aber der Mahler-Zyklus zum Abschluss seiner Ära hatten starke Markenzeichen gesetzt. Aber dann kam Jansons mit seiner akribischen, wenn auch nie pedantischen Probenarbeit, mit der gern unterschätzten Weite seines ästhetischen Horizonts, mit seiner Fähigkeit, die Musiker in eine gemeinsame Idee einzubinden – und verlieh dem Orchester eine ganz neue Identität. Nicht dass es noch besser geworden wäre, das war gar nicht die Frage, das BR-Symphonieorchester ist anders geworden – aber wie.

Zu hören war es etwa an den Osterfestspielen Luzern, die das Orchester, über viele Jahre in Residenz, mitgestaltet hat. Aber auch in den zahlreichen Konzertmitschnitten, die auf dem Label des Bayerischen Rundfunks publiziert worden sind. Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 zum Beispiel, selbstverständlich in der Originalfassung, lässt es klar erleben. Grosszügig schwingen die Linien aus, plausibel werden die weitgespannten Verläufe durch die Tempogestaltung strukturiert, mächtig, aber ohne jede Grobheit erhebt sich der Klang. Getragen wird das ruhig atmende Geschehen durch jene Genauigkeit im Einzelnen, die Mariss Jansons ein Leben lang verfolgt hat. Ein Star war er nicht, er war nur Dirigent, nur Musiker, das jedoch ohne Kompromisse.

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